Streiks im öffentlichen Dienst: Getarntes Klasseninteresse
In der Kritik am Arbeitskampf der Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden eigene Privilegien als Allgemeininteresse verkauft.
W ie können sie nur? Mitten in der Coronakrise? Es geht um Angestellte im öffentlichen Dienst, also Pflegekräfte, Erzieher:innen oder Müllwerker:innen, aber auch Beschäftigte in der Verwaltung, die in der Pandemie die öffentliche Infrastruktur am Laufen halten. Und sich nun erdreisten, in Tarifverhandlungen und mit Warnstreiks mehr Lohn zu fordern; 4,8 Prozent nämlich, mindestens aber 150 Euro mehr im Monat bei einer einjährigen Laufzeit des Tarifvertrags statt 3,5 Prozent mehr in drei Jahresstufen, wie die Arbeitgeberseite anbietet. Die dritte Verhandlungsrunde begann am Donnerstag.
Dabei hatte doch bisher alles so gut funktioniert in der Pandemie. Die, die auch in Nichtpandemiezeiten für wenig Geld regelmäßig an ihre Grenzen gehen, gingen nun auch noch über ihre Grenzen hinaus; und gehörten so zu jenen Menschen, die das Gemeinwesen zusammenhielten.
Jetzt aber fordern sie mehr Geld statt nur Applaus, weil man sich vom Ersteren auch etwas kaufen kann, und bedrohen mit Warnstreiks scheinbar das Allgemeininteresse, so kritische Stimmen. Dieses Allgemeininteresse meint hier aber Klasseninteresse. Und zwar das jener, die nicht so an ihre Grenzen gehen müssen.
Argumente gegen die Gierigen
Weil die Leute sich aber nicht so leicht verarschen lassen, müssen sich die Vertreter:innen dieses Allgemeininteresses doch noch ein paar Argumente gegen die gierigen Arbeitskämpfer:innen zurechtlegen: Im öffentlichen Sektor verdiene man halt nicht so viel wie im privaten, habe dafür mehr Sicherheit, für einen „neuen sozialen Kompromiss“ müsse deshalb verzichtet werden (taz Futurzwei); oder es sei ja gar nicht so klar, welche Berufe systemrelevant seien und welche nicht, woraus dann nicht geschlossen wird, dass alle mehr verdienen sollten, sondern dass die, die jetzt fordern, zu Unrecht fordern (Zeit); oder dass ein Großteil der betroffenen Angestellten ja in der Verwaltung arbeiteten und gar keine Krankenpfleger:innen seien – also gar keine wahren Helden! (BR-Magazin „Kontrovers“).
Als ich ein Kind war, hat meine Mutter oft zu mir gesagt: „Lass dir nicht nehmen, was dir zusteht.“ Ich fand das unnötig, übertrieben misstrauisch und auch ein bisschen paranoid, weil ich mir dachte: Erstens bin ich doch kein Idiot! Und zweitens will mir niemand etwas wegnehmen.
Später habe ich gemerkt, dass das so klar nicht ist. Sie wusste offensichtlich, wovon sie spricht: Was einem zusteht, das bekommt man nicht unbedingt einfach so. Manche müssen es sich erkämpfen. Und wer es einfach so bekommt und wer nicht, das hängt davon ab, in welche Klasse man geboren wird.
Kämpfen müssen die einen, weil die anderen nicht müde werden, ihr eigenes Privileg als das aller Menschen, als das gute, alte Allgemeininteresse zu verkaufen. Deshalb: Liebe Lohnabhängige im öffentlichen Sektor und auch woanders, lasst euch nicht nehmen, was euch zusteht!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
BSW in Thüringen
Position zu Krieg und Frieden schärfen