Urteil gegen Wächter von KZ Stutthof: An das Grauen gewöhnt
Das Hamburger Landgericht hat einen ehemaligen SS-Mann zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Bis zuletzt zeigte der 93-Jährige kaum Schuldbewusstsein.
D. war als 17-Jähriger zur Wachmannschaft des KZ Stutthof gekommen. In dem Lager nahe Danzig ermordete die SS im Zweiten Weltkrieg etwa 65.000 Menschen: Juden, Polen und politische Gefangene.
Staatsanwalt Lars Mahnke hatte D. vorgehalten, durch seinen Wachdienst von August 1944 bis April 1945 Beihilfe zu 5.232 der Morde geleistet zu haben. D. sei ein „Rädchen der Mordmaschinerie“ gewesen, hatte Mahnke betont und eine Jugendstrafe von drei Jahren gefordert. Das Urteil blieb nun schlussendlich hinter dieser Forderung zurück.
Die vierzig Nebenkläger, darunter 35 Überlebende des KZ, hatten eine Verurteilung gefordert. Nicht aus Rache, sondern um dessen Taten juristisch als Verbrechen bewertet zu wissen. Keiner der Nebenkläger forderte am Donnerstag eine höhere Strafe. Einzelne hatten von Anfang an gar keine Inhaftierung gefordert– trotz des Erlittenen.
„Gehilfe dieser menschengemachten Hölle“
Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring sagte am Donnerstag, dass der Angeklagte den Opfern „entsetzliches Unrecht“ angetan habe. An D. gewandt sagte sie, dieser sehe sich „weiter nur als Beobachter“. Doch er wäre ein „Gehilfe dieser menschengemachten Hölle“ gewesen.
An mehreren Verhandlungstagen hatten Überlebende im Saal oder per Liveschaltungen von täglichen Misshandlungen wie Schlägen und stundenlangen Appellen, Hinrichtungen sowie von Hunger und einer Fleckfieber-Epidemie berichtet. „Wie konnten Sie sich bloß an das Grauen gewöhnen?“ fragte Meier-Göring den Angeklagten.
Der nahm die Ausführung ohne sichtbare Regung auf. Bis zum Ende ließ er erkennen, bei sich keine Verantwortung zu sehen, fühlte sich nicht schuldig an den Morden. Beim Dienst will er auch keine Nazis kennengelernt haben.
Er sagte zwar, dass ihm die KZ-Insassen leid taten, hauptsächlich schien sein Mitleid allerdings ihm selbst zu gelten. So setzte er sich mit dem KZ-Insassen gleich. Vor dem Musterungsarzt habe er so nackt dagestanden wie die Leichen, die er im KZ gesehen habe, sagte er. Meier-Göring merkte sogleich an: ein „unpassender Vergleich“.
In den 45 Verhandlungstagen erwähnte D. immer wieder, nicht freiwillig vor Ort gewesen zu sein. Der historische Sachverständige Stefan Hördler legte aber dar, dass D. trotz seines Wissens um die Zustände niemals eine Versetzung beantragt hatte– was durchaus eine Möglichkeit gewesen wäre. Diese Idee schien D. aber nie gekommen zu sein.
Mit dem Urteil endet wohl einer der letzten Prozesse gegen NS-Verbrecher. Viele Täter von damals sind heute schlicht nicht mehr am Leben. Zum Verfahrensbeginn hatte die Vorsitzende Richterin Meier-Göring die historische Bedeutung des Verfahrens dann auch nicht bloß verbal hervorgehoben. Sie ließ Journalisten und Prozessbeobachter trotz Jugendstrafkammer zu, wegen der „herausragenden zeitgeschichtlichen Bedeutung“ – und auch wegen den „neonationalsozialistischen Tendenzen in Deutschland“.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlverhalten junger Menschen
Früher wählte die Jugend links
Waffenlieferungen an Israel
Es geht nicht ohne und nicht mit
Krieg im Nahen Osten
Das Personal wächst nach
Wirtschaft aber für junge Menschen
Das Problem mit den Boomer-Ökonomen
Wagenknechts Koalitionsspiele
Tritt Brandenburg jetzt aus der Nato aus?
Ex-Chefinnen der Grünen Jugend
„Wir dachten, wir könnten zu gesellschaftlichem Druck beitragen“