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Ausschreitungen wegen Corona-QuarantäneTränengas in Göttingen

Vor einem wegen Corona abgesperrten Wohnblock kommt es in Göttingen zu heftigen Auseinandersetzungen. Dort sitzen rund 700 Menschen in Quarantäne.

PolizistInnen vor dem Haus in der Groner Landstraße. Am Sonntag hatte sich die Lage wieder beruhigt Foto: Swen Pförtner/dpa

Göttingen taz | Vor dem nach einem Corona-Ausbruch abgeriegelten Hochhauskomplex in Göttingen ist die Lage am Sonnabend eskaliert. Mehrere der seit Donnerstag in dem Gebäude eingesperrten Bewohner bewarfen Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein – Augenzeugen zufolge auch gegen Kinder. Es soll mehrere Verletzte gegeben haben.

Die Göttinger Stadtverwaltung hatte für die rund 700 gemeldeten Bewohner der als soziale Brennpunkte geltenden Wohnblocks Groner Landstraße 9a-c nach ersten Corona-Fällen Tests angeordnet und eine Ausgangssperre verhängt. Nach den bisher bekannten Testergebnissen haben sich etwa 120 Menschen aus dem Haus mit dem Virus infiziert. Unter den Bewohnern sind viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten, auch etwa 200 Kinder und Jugendliche leben dort in äußerst prekären Verhältnissen.

Die Bewohner dürfen die Gebäude zunächst bis zum 25. Juni nicht verlassen. Die Eingänge zu dem Grundstück sind verschlossen. Ein mobiles Versorgungszentrum versorgt die Menschen mit Lebensmitteln, auch Windeln und Hygieneartikel würden hier ausgegeben, sagt Sozialdezernentin Petra Broistedt.

Eine Bewohnerin des Komplexes sagt allerdings: „Wir wurden ohne Vorwarnung nicht mehr rausgelassen, konnten nicht vorher einkaufen. Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips!“ Stadtverwaltung, Universitätsmedizin und Hilfswerke wie das Rote Kreuz und die Johanniter betreiben vor Ort inzwischen auch eine Gesundheitsstation.

Quarantäne trifft Familien in prekären Situationen

Zu der drastischen Maßnahme hat es aus Sicht von Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) und dem örtlichen Krisenstab „keine Alternative“ gegeben. Der evangelische Göttinger Pfarrer und Grünen-Ratsherr Thomas Harms spricht allerdings von einem „verschärften Arrest“ für 700 Personen. Es sei fraglich, ob eine solche Maßnahme auch in den besseren Wohngegenden angeordnet würde: „Warum treffen Ausgangssperren die Ärmsten der Armen, darunter sehr viele Kinder?“ Die Erniedrigten seien in Krisenzeiten mal wieder „die ersten der Geschlagenen“, sagt Harms.

Auch die Basisdemokratische Linke in Göttingen kritisiert das Verhalten der Stadt scharf. Hier würden 700 Leute, ohne sie vorab zu informieren, „interniert“ und mit einem Großaufgebot an Ordnungskräften gezwungen, zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu sein. „Es wird riskiert, dass der gesamte Wohnblock krank wird. Es wird in Kauf genommen, dass Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht werden.“

Eine von der Gruppe ohnehin am Sonnabend geplante Kundgebung zum Aktionstag „Shut down Mietenwahnsinn – sicheres Zuhause für alle!“ wurde kurzfristig vom Marktplatz in unmittelbare Nähe der Groner Landstraße verlegt. Die etwa 250 Teilnehmenden hätten sich vor dem Gebäude versammelt, „um ihre Solidarität mit den dort internierten Bewohnern zu zeigen sowie für den Erlass von Corona-Mietschulden, Verringerung von Mieten und gute Wohnungen für alle zu demonstrieren“, teilt Lena Rademacher von der Basisdemokratischen Linken mit.

Kundgebungsteilnehmer verlasen Kritik und Forderungen der Bewohner: Die Quarantäne sei nicht angekündigt worden, das Essen reiche nicht aus oder sei abgelaufen, selbst Babynahrung und Windeln fehlten, Gesunde könnten sich nicht von Infizierten fernhalten. Zahlreiche Bewohner verfolgten die Redebeiträge aus den Fenstern heraus, mehrere dutzend weitere versammelten sich an den Absperrungen.

Pfefferspray gegen BewohnerInnen

Rademacher zufolge hat die Polizei die Situation auf der Kundgebung eskaliert, indem sie Pfefferspray gegen Bewohnerinnen, darunter auch Kinder, einsetzte. Videos im Internet zeigen ebenfalls einen Tränengas-Einsatz vor dem Haus: Beamte versuchen so offenbar, Bewohner zurückzudrängen, die sich an einem Absperrgitter zu schaffen machen. Zu sehen ist auf einem Film aber auch, wie die Polizisten von Personen hinter dem Gitter mit verschiedenen Gegenständen beworfen werden. Auch aus Fenstern der Wohnblocks fliegen Stöcke und Metallteile.

Wie die Hessische Niedersächsische Allgemeine (HNA) berichtete, sollen unter den Wurfgeschossen auch Reifen, Steine und Computer gewesen sein. Nach Angaben anderer Zeugen sind auch Feuerwerkskörper und Stühle geflogen. Die Göttinger Polizei sprach am Sonnabendabend von mehreren verletzten Beamten. Mehrere Straßen waren stundenlang gesperrt. Die Einsatzleitung forderte im Verlauf des Nachmittags Verstärkung an, über dem Geschehen kreiste zeitweilig ein Hubschrauber.

Die PARTEI in Göttingen forderte die Stadtverwaltung und den Krisenstab am Sonntag zu einem „grundsätzlichen Umdenken“ auf. Alle Bewohner der Blocks in der Groner Landstraße, die ein solches Angebot annähmen, sollten für 14 Tage in Hotels und anderen Wohneinrichtungen untergebracht werden. „Die Stadt Göttingen zeigt im Umgang mit den Corona-Ausbrüchen zuletzt im Iduna-Zentrum und in der Groner Landstraße 9 ihre hässlichste Seite“, so die PARTEI-Kreisvorsitzende Helena Arndt. Am Sonntagnachmittag wollten Stadtverwaltung und Polizeiführung bei einer Pressekonferenz über ihre Sicht auf die Auseinandersetzungen informieren.

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15 Kommentare

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  • Polizei und Stadtverwaltung ziehen eine rechtswidrige Freiheitsentziehung durch. Die wäre nämlich nur mit richterlichem Beschluss zulässig, Art. 104 GG.

    Die Freiheitsentziehung durch Absperrung und Hindern am Verlassen den Hauses wäre erst zulässig nach einem festgestellten individuellen Verstoß gegen eine Quarantäneanordnung. Erst dann könnte mit individuellem richterlichen Beschluss die Freiheitsentziehung gegen eine konkrete Person beantragt werden, Art 104 GG und § 30 Abs 3 IFSG, sicherlich nicht gegen eine ganzen Wohnblock.

    Eine Quarantäne beinhaltet nach § 30 IFSG eine Trennung nach Kranken, Krankheitsverdächtigen und Gesunden, § 30 Abs 1 IFSG. Wenn alle drei Gruppen gemeinsam untergebracht werden, ist bereits die Quarantäne rechtswidrig. Und schon gar keine Grundlage, eine Freiheitsentziehung durchzuziehen.

  • "Gesunde könnten sich nicht von Infizierten fernhalten. "



    Eine große Schwächung des deutschen Infektionsschutzes.



    In zivilisierten Ländern mietet der Staat Hotels an, in denen bislang nichtinfizierte Haushaltsmitglieder sich von den Infizierten isolieren können. IN engen Wohnungen mit Kranken eingesperrt zu werden, wenn man da nicht freiwillig bleibt ist inhuman.



    Und selbstverständlich müssen Quarantänisierte bestens versorgt werden.

  • Es ist eine Schande, was da passiert. Menschen werden wie Tiere behandelt, Tiere wie Dreck, und wer aufbegehrt, wird kriminalisiert, diffamiert, und mit Tränengas bearbeitet, bis wir alle klaglos funktionieren.

  • Jetzt muss ich einmal meinen Unwillen herauslassen.



    Quarantänen müssen unbedingt eingehalten werden. Das kann nicht von einem Moment zum anderen durch eine Polizei-Maßnahme durchgesetzt werden.



    Dazu gehört eine ordentliche vorherige Aufklärung, denn in Covid19 haben wir einen Feind, der unsichtbar ist und dann bitte vorher mit der angemessenen Sorgfalt angekündigt werden muss. Um überzeugend zu wirken , schlage ich den Wiederaufbau der Kriegs- Sirenen vor, damit bei Corona-Alarm jeder ahnt, was die Stunde geschlagen hat.



    Lautsprecherwagen, die durch die Straßen fahren, dürften angemessen sein bei solch einem tödlichen, schleichenden Feind. Überhaupt nichts zu sagen und nur loszuknüppeln, das ist einer Demokratie nicht würdig. Ich weiß, worum es geht und sähe mich trotzdem außerstande, rebellierende Bürger zur Vernunft anzuhalten, weil ich selbst nicht ausreichend aufgeklärt wurde. Wenn dann noch Streitigkeiten der Behörden dazukommen...Das Chaos in Deutschland sollte schleunigst abgeschafft werden und vernünftigen Bürgern das Regiment überlassen werden.

    Die glaubwürdige Korrektur der Aussagen des RKI zur Altersabhängigkeit der Covid19-Infektiosität und Krankheitsfällen steht immer noch aus und ich verstehe jeden, dem Zweifel an unseren offiziellen Vertretern erwachsen:

    de.statista.com/st...nach-altersgruppe/

    Allein die "Buh"-Frau- Maske erzeugt ein Gefühl der Gefahr. Das reicht aber nicht für diesen Feind.

    Heute in Krefeld: nur 7 Erkrankte , zwei hospitalisiert, nicht intensiv, aber 2014 in Quarantäne.Das muss man den Leuten doch erst einmal erklären, warum das so ist! Bei Ausländern ist es oft schwerer, zu überzeugen. Ramadan-Feierei habe ich gestern auch gesehen, aber, wie es sich gehört, draußen, in freier Natur.



    Gütersloh und Göttingen könnten zu einem schweren Rückschlag für ganz Deutschland führen. Mit Lockdown, obwohl wir doch Covid19 fast überwunden hatten.

  • „Es sei fraglich, ob eine solche Maßnahme auch in den besseren Wohngegenden angeordnet würde: „Warum treffen Ausgangssperren, darunter sehr viele Kinder?“ Die Erniedrigten seien in Krisenzeiten mal wieder „die ersten der Geschlagenen“, sagt Harms“



    Offenbar hat die vermutlich jahrelange Erfahrung Herrn Harms dazu gebracht, alle von oben angeordneten Maßnahmen erstmal als Schikanen, speziell gegen „die Ärmsten der Armen“ zu verstehen, gegen die man sich grundsätzlich zu wehren hätte.



    Leider hat er nicht verstanden, dass Protestaktionen und Demos gegen das Corona-Virus nicht helfen. Und dass es in diesem speziellen Fall auch nicht hilft, die Politik zu zwingen, die „richtigen“ Maßnahmen zu ergreifen, um den vorherigen Zustand ganz schnell wiederherzustellen.



    Natürlich gibt es Staaten, wie USA, Brasilien, Weißrussland, …, in denen wenig oder nichts gegen Corona getan wird. Fraglich ist nur, ob Herrn Harms die Folgen gefallen würden!

  • Vor wenigen Stunden haben wir eine Petition gestartet, um Druck zu machen: Die Stadt muss die Menschen anders unterbringen!

    www.change.org/Corona_Goettingen

  • Was im Namen des Infektionsschutz mittlerweile möglich ist in Deutschland, geht auf keine Kuhhaut mehr. Betrüblich und skandalös.

  • Die Polizei kann einem nur leid tun, dass sie sich mit solchen uneinsichtigen und aggressiven Menschen auseinandersetzen muss.

  • Eine Bewohnerin des Komplexes sagt allerdings: „Wir wurden ohne Vorwarnung nicht mehr rausgelassen, konnten nicht vorher einkaufen.“

    Die Dame hat nicht verstanden, dass Quarantäne genau das verhindern soll: Dass Einzelpersonen noch schnell weitere Personen anstecken können, zum Beispiel durch einkaufen.

    • @Martin74:

      Das kann aber nicht bedeuten das die Bewohner nun von ein paar Äpfeln und abgelaufenen Chips leben müssen.

    • @Martin74:

      Sind ja nur Ausländer und HartzIV-ler (oder gar beides in Personalunion).

      Mit denen kann man das ja machen.

      Wie sinnvoll es ist, die positiven Fälle mit ganz vielen negativen zusammenzupferchen sei hier mal dahingestellt.

      Im Kontrast dazu sei jener Berliner, der sich (in der strengen Lockdown-Phase!) den Zugang zu seiner Datscha in Brandenburg vor Gericht ordentlich erstritt, und dann... wochenends dahin pendelte.

      Merken Sie was?

    • RS
      Ria Sauter
      @Martin74:

      Das habe ich auch gedacht beim lesen.



      Ist es nicht möglich, den Leuten in ihrer Sprache zu vermitteln,dass es richtig und wichtig ist?



      Abgelaufene Chips und Äpfel als einzige Versorgung der Bewohner?Das kann ich nicht wirklich glauben.Gegenstände aus dem Fenster zu werfen zeugt auch nicht gerade von Verantwortung.

      • @Ria Sauter:

        Was ist denn die Sprache der Leute dort? Es leben durchaus auch deutschsprachige Menschen dort und nicht nur Klischees.

      • 8G
        83492 (Profil gelöscht)
        @Ria Sauter:

        "Ist es nicht möglich, den Leuten in ihrer Sprache zu vermitteln,dass es richtig und wichtig ist?"

        Vielleicht nicht. Dazu braucht es auch Vertrauen in den Überbringer der Botschaft. Es ist ja selbst bei manchen Muttersprachlern nicht zu vermitteln, wenn z.B. die Existenz von Viren bestritten wird oder die Krankheit als Verschwörung zur Unterdrückung der eigenen Gruppe angesehen wird.

        • @83492 (Profil gelöscht):

          Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist...

          So etwas lässt sich natürlich in der akuten Situation nur noch schwer bewerkstelligen. Vielleicht mehrere aus der Nachbarschaft zusammensuchen die lange dort wohnen und mit ihnen sprechen -- bevor das ganze paramilitärische aufgebot anrollt?

          Aber eigentlich ist das Arbeit, die im Vorfeld passieren soll: Streetworker, die die Gegend kennen. Die mit den Leuten reden. Mit denen die Leute reden. Auf die in solchen Situationen zurückgegriffen werden kann.

          Ein Lautsprecherwagen ist ein trauriger Witz.

          Herrgottnochmal: in solchen Wohnblocks wohnen Leute, die z.T. aus Bürgerkriegsverhältnissen kommen! Die z.T. übelst unterdrückten Minderheiten entstammen!

          Wie meinen Sie, dass deren Reaktion auf einen paramilitärischen Aufmarsch der Polizei ist?

          Wenn sich die Polizei keine Gedanken dazu macht, dann ist sie dümmer... als die Polizei erlaubt. Und wenn sie sich welche macht, dann, ja dann...