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Das Coronavirus und die WeltgeschichteGar nichts wird sich ändern

Kommentar von Daniel Böldt

Eine Zäsur soll die Coronaepidemie sein. Und ja, die Krise ist gewaltig. Aber eine Zeitenwende erleben wir deshalb nicht.

Das Coronavirus, noch kein halbes Jahr alt, hat die Welt auf den Kopf gestellt Foto: Jdidi Wassim/dpa

W ir erleben gerade eine Zäsur. Wahrscheinlich haben Sie über diesen ersten Satz so hinweggelesen. Mittlerweile kann man kaum noch die Zeitung aufschlagen oder das Radio einschalten, ohne von der Coronakrise als irgendeiner Art von Zäsur zu lesen.

Zugegeben: Das Wort wurde auch in den letzten Jahren schon recht inflationär verwendet. Es gab Zeiten, in denen galt jeder verlorene Prozentpunkt der SPD als eine Zäsur. Doch nun sprechen nicht nur Journalist*innen und Politiker*innen von einer Zäsur, sondern auch Historiker*innen und Soziolog*innen. Also Menschen, denen man erstens unterstellen muss, dass sie wissen, wovon sie reden, und zweitens, dass sie es ernst meinen. Der Historiker Paul Nolte sagte in einem Interview im NDR: „Wir können mit einer gewissen Zuverlässigkeit sagen: Das wird etwas für die Geschichtsbücher sein.“ Der Soziologe Heinz Bude sprach in einem Interview im Tagesspiegel kürzlich von einer „weltgeschichtlichen Zäsur“.

Und was könnte zutreffender sein? Das neuartige Coronavirus, noch kein halbes Jahr alt, hat die Welt auf den Kopf gestellt. Wir tun Dinge, die uns vorher als unmöglich galten: Stehen an, um in den Penny oder dm zu kommen, freuen uns, wenn wir mal ins Büro dürfen, und skypen mit unseren Großeltern. Wir akzeptieren Gesetze, die wir vor wenigen Wochen noch bitter bekämpft hätten. Und wir halten Abstand zu Menschen, die uns nah sind. Was, wenn nicht die Coronakrise, sollte eine Zäsur sein?

Das Wort „Zäsur“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Schnitt“. Das festzustellen, ist in diesem Fall keine etymologische Fingerübung. Es berührt den Kern. Denn es erklärt, was konkret gemeint ist: Corona teile die Zeit in ein Davor und in ein Danach.

Kein Pflock in der Weltgeschichte

Aber rammt Sars-CoV-2 tatsächlich gerade einen Pflock in die Weltgeschichte? Erleben wir eine Zeitenwende?

Diese Krise ist zweifellos gewaltig. Menschen sterben an einer bis vor Kurzem noch unbekannten Krankheit. Das Virus legt einen Schleier auf diese Welt, der alles lähmt. Vom Großkonzern bis zur Eckkneipe. Von Parlamentswahlen bis zum Kreisliga-Fußballspiel.

Nur scheint dieser Schleier auch den Blick dafür zu vernebeln, was sich grundsätzlich in unserer Gesellschaft, auf dieser Welt, ändert. Denn das ist, wenn man genau hinschaut, gar nicht so viel.

Heinz Bude präzisiert in seinem Interview dankenswerterweise, woran er diese Zäsur festmacht. Er sagt: „Es gibt eine grundsätzliche Veränderung von Werten, von Vorstellungen der politischen Organisation und von individueller Verhaltensorientierung.“

Beginnen wir mit den Werten: Oft heißt es, wir erleben eine Welle der Solidarität. Das stimmt, allerdings ist diese Solidarität auch in der Krise lokal und begrenzt. Sie findet sich in Nachbarschaftsinitiativen. In Freundes- und Familienkreisen. Teilweise auch in Unternehmen. Aber werden wir deswegen in Zukunft in einer Solidargemeinschaft leben? Es fällt einem schwer, in einem einmaligen Pflegebonus von 1.500 Euro (über den lange befunden werden musste) und dem Klatschen vom Balkon eine „grundsätzliche Veränderung von Werten“ zu entdecken.

Auch große Akte der Solidarität bleiben in dieser „Menschheitskrise“ aus. Deutschland verweigert sich weiter einem solidarischen Europa. Die weltweite Verteilung von Atemschutzmasken folgt keinem Bedarfsmodell, sondern der kapitalistischen Logik. Wertvorstellungen sind zäh, sie verändern sich nicht in wenigen Monaten, auch wenn diese noch so außergewöhnlich sind.

Wir werden Hygiene-Experten

Wenn sich also schon nicht unsere Werte ändern, dann doch mindestens unser Verhalten, könnte man einwenden. Es ist ja offensichtlich: Wir bleiben zu Hause, wir geben uns nicht mehr die Hand, wir tragen eine Maske. Der Witz bei diesen Verhaltensänderungen: Sie haben ein klares Ziel, nämlich, dass wir uns alle bald wieder so verhalten können wie zuvor. Die Coronakrise wird einige Tendenzen beschleunigen, andere wird sie verlangsamen.

Arbeitgeber werden ihren Angestellten in Zukunft nicht mehr so leicht das Homeoffice verwehren können. Wir werden alle zu kleinen Hygiene-Experten. Diese Krise wird nicht spurlos bleiben, das nicht. Aber für eine Änderung der „individuellen Verhaltensorientierung“ scheint es ein bisschen wenig, dass wir auch in Zukunft in die Armbeuge niesen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Überlegen Sie einmal kurz, was Sie mit dem Jahr 1918 verbinden. Sie denken zu Recht an das Ende des Ersten Weltkriegs. Eine Zäsur! Zugleich war dieses Jahr auch der Beginn der größten Pandemie des 20. Jahrhunderts. An der Spanischen Grippe starben zwischen 1918 und 1920 Schätzungen zufolge fünf Prozent der Weltbevölkerung. Hochgerechnet auf die heutige Bevölkerungszahl wären das fast 400 Millionen Tote. In zwei Jahren! Dass diese Katastrophe trotzdem nicht Eingang ins Weltgedächtnis gefunden hat, hat einen Grund: Die Spanische Grippe war brutal, aber sie war nicht prägend. Weder für unsere Werte noch für unser Verhalten. Und auch nicht für die Politik.

Es ist das letzte und zugleich schwächste Argument von Bude. Wir würden unsere Vorstellung von politischer Organisation ändern. Wirklich? Man kann sich leicht vorstellen, dass Apologetiker*innen eines privaten, auf Gewinn ausgerichteten Gesundheitssystems in den kommenden Jahren etwas ins Hintertreffen geraten werden. Aber ändern wir unsere Vorstellung vom Staat, gerät die Welt politisch aus den Fugen oder rückt gar enger zusammen?

Der Historiker Nolte stellt in seinem NDR-Interview die Coronakrise von ihrem Ausmaß her in eine Reihe mit 9/11, dem Mauerfall und dem Zweiten Weltkrieg. Die Aufzählung ist entlarvend. Denn sie zeigt deutlich, was Zäsuren ausmachen: Sie verändern das Machtgefüge auf der Welt.

Die Krise betäubt die Politik

Die Coronakrise befeuert politische Entwicklungen nicht, sie betäubt sie. Die Weltpolitik befindet sich in einer Art Koma. Der bestimmende Akteur dieser Zeit, das Virus, handelt nicht. Es sind die Menschen, die handeln. Und momentan handeln sie fast überall auf der Welt im Gleichschritt. Das ist ungewöhnlich, aber es greift nicht in die die Machtarithmetik dieser Welt ein.

Wenn der Schleier dieser Krise irgendwann gehoben ist, wird die gleiche Welt zum Vorschein kommen – im Guten wie im Schlechten.

Es gibt übrigens zwei Ausnahmen für diese Annahme. Beide betreffen einen möglichen Impfstoff. Sollte ein einzelner Staat ein Mittel gegen das Virus finden, wäre es zumindest denkbar, das dieses auch politisch genutzt, um nicht zu sagen, missbraucht wird. Das würde unausweichlich zur besagten Machtverschiebung führen.

Die andere Ausnahme betrifft das Gegenteil: Sollte mittelfristig kein Impfstoff gefunden werden, müssen Gesellschaften auf Dauer lernen, ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Risiko zu halten. Das wäre in der Tat ein Einschnitt. Das wäre dann ein Zäsur.

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4 Kommentare

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  • Endlich mal jemand, dessen Analysen und Prognosen nicht ideologisch geleitet sind, sondern empirisch - und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig liegen.

    Diese Krise wird nicht dazu führen, dass danach alle glücklich sind und besser bezahlt werden, der Kapitalismus abgeschafft wird und gleichzeitig noch die Umwelt gerettet wird - und als Sahne obendrauf wird auch nicht endlich auf einen Schlag Geschlechtergerechtigkeit hergestellt. Das alles ist reines Wunschdenken, weil das Wandlungs*prozesse* sind die über Generationen laufen, nicht über schnelle Umbrüche und Zäsuren. Was wir real haben werden ist erst mal ein neuer riesiger Schuldenberg, der Investitionsspielräume noch lange einschränken wird.

    Dieses ganze überladene Hineininterpretieren in die Pandemie als „Zeitenwende“ schafft nur eine riesige Fallhöhe, weil nichts davon wie imaginiert realisiert werden wird. Damit ist die nächste Depression ständigen Scheiterns und Dauerfrustration schon vorprogrammiert.

    Das ist völlig unnötig und kontraproduktiv - und menschlich reines Wunschdenken.

  • Herr Böldt, Sie sprechen mir ausgesprochen aus der Seele.



    So wird es laufen.



    Ich hoffe sehr, dass ich mich täusche. Aber sollte ich mich täuschen, hätte ich richtigrichtig einen Grund zum Feiern.

  • Es wird "danach" anders.



    Ähnlich wie nach 2001 oder 2008.



    Besser, vielleicht, anders auf jeden Fall.

    • @J_CGN:

      Anders vielleicht, aber nicht verändert, denn die ach so schön und unaushebelbaren Machtstrukturen lassen sich die Herrschenden doch nicht von einem Virus und dessen Auswirkungen aus der Hand nehmen!



      Das "Anders" wird sich weiterhin in den zerstörerischen, alles umfassenden und alles beeinflussenden Strukturen des Kapitalismus abspielen, aber es wird keine wirkliche Veränderung stattfinden.



      Eher im Schlechten, denn die Ärmeren – auch in Deutschland gibt es davon sehr viele – leiden mehr unter der Krise und sie werden noch weiter unterdrückt und verarmt daraus hervorgehen.



      Nicht einmal der Diskurs über die Ungleichheit und über deren Aus- bzw. Angleich, der zum wirklichen Klimaschutz zwingend Voraussetzung wäre, wird sich in der notwendigen Konsequenz auf diese Konsequenz hin zubewegen (wollen oder können), wegen, tja wegen der Machtverhältnisse.



      M. E. KEINE guten Aussichten für uns alle.



      Siehe auch Thomas Piketty mit seine Vorschlägen für eine "gesündere" Welt (menschlich, wirtschaftlich sowie umwelttechnisch):



      www.youtube.com/watch?v=8WderB3_kuA