Altenheime nach Corona: Bessere Pflege für 17 Euro
Die Solidarität für die Pfleger in der Pandemie ist eine Chance. Mit etwas Verzicht könnten wir die Care-Branche grundlegend verbessern.
Es ist überraschend: Da wird über Lohnhöhen, Sozialbeiträge, Verbraucherpreise immer wieder erbittert politisch gestritten. Und dann reicht ein unsichtbares Virus, und schon sind Millionen von Menschen bereit, eine Weile auf Klamottenkäufe, Urlaubsreisen und Restaurantbesuche zu verzichten. Alles ist anders, wenn das eigene Leben oder das der Liebsten bedroht sein könnte. Das kann auch eine gute Nachricht für die Sozialpolitik sein.
Denn die Coronakrise hat gezeigt: Nichts geht mehr, wenn es nicht genug Pflegepersonal gibt. Das betrifft auch die Altenpflege. Es existiert in Deutschland kein Rechtsanspruch auf einen sofortigen Pflegeplatz im Heim und auch nicht auf schnelle Hilfeleistung durch nahe ambulante Dienste. Heime führen Wartelisten, ambulante Dienste auf dem Land lehnen wegen Personalnot Aufträge ab. Pflegende Angehörige sind an ihrer Belastungsgrenze angelangt, wie sich erst recht mit den Corona-Beschränkungen zeigte.
Pflegende benötigen mehr als Applaus auf dem Balkon. Um den Beruf attraktiv zu machen, brauche es „nachhaltige Entlastung bei den Arbeitsbedingungen“, erklärte Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK).
Aufwertung ja, aber wie?
Ansonsten könnte sich der Mangel an professionellen Pflegekräften dramatisch verstärken und die Altenbetreuung wieder vor allem an überlasteten Angehörigen hängen oder alleinstehende Gebrechliche sogar unterversorgt bleiben. Es ist eine Illusion zu glauben, dass genügend ausländische Arbeitskräfte das „Ausscheidungsmanagement“, wie der Umgang mit Fäkalien im Wissenschaftsdeutsch heißt, für die alternden Wohlstandsnationen schon irgendwie übernehmen werden. Der Spracherwerb ist eine Hürde, die Zugänge aus dem Ausland in die hiesige Altenpflege sind begrenzt.
„Es wäre schön, wenn die Kranken- und Altenpflege gesellschaftlich aufgewertet wird, so wie es jetzt auch durch die Coronakrise der Fall ist. Das würde auch die Attraktivität des Berufes steigern“, sagt Anja Sakwe Nakonji, Geschäftsführerin des Consultingunternehmens Terranus, das Pflegeeinrichtungen berät. Doch wie kann die Aufwertung erfolgen?
Die Lösung liegt vor unserer Nase. Es reicht, sagen wir, der Verzicht auf zum Beispiel 17 Euro im Monat. Das ist eine Bluse weniger, irgendeins dieser Stücke mit viel Polyester, die man zwar kauft, aber kaum trägt. 17 Euro, das kann dann im nächsten Monat der Verzicht auf ein Schnitzel samt Bier im Restaurant sein. Wer den Urlaub billiger gestaltet und dadurch gut 200 Euro spart im Jahr, hat als DurchschnittsverdienerIn die Abgabe quasi schon in einem Rutsch finanziert.
17 Euro, das ist ein halbes Prozent von einem Bruttolohn von 3.379 Euro. 3.379 Euro brutto: das ist laut Statistik der Rentenversicherung das durchschnittliche monatliche Bruttoarbeitsentgelt. Wenn man von den Bruttoentgelten in Deutschland ein Prozent mehr abgeben würde in die Pflegeversicherung, wovon der Arbeitgeber die Hälfte übernehmen müsste, dann käme man auf einen erfreulichen Betrag an Mehreinnahmen. 0,1 Prozent vom Bruttoentgelt mehr machen 1,6 Milliarden Euro, hat das Bundesgesundheitsministerium vorgerechnet. Ein ganzer Prozentpunkt mehr wären also 16 Milliarden Euro mehr im Jahr für die Pflege. Das ist viel.
Würde man die Summe teilen, könnte man von der einen Hälfte 167.000 PflegehelferInnen mit einjähriger Ausbildung und mehrjähriger Berufserfahrung bezahlen. Mit der anderen Hälfte könnte man 150.000 examinierte Altenpflegefachkräfte finanzieren. Bei dieser zugegeben etwas schematischen Rechnung handelt es sich nicht um Billiglöhne, es wurde das Arbeitgeberbrutto aus dem aktuellen Tarif der Caritas in Bayern und Baden-Württemberg zu Grunde gelegt. Eine Pflegehelferin mit mehrjähriger Berufserfahrung verdient danach 2.800 Euro brutto im Monat, eine examinierte Pflegerin erhält 3.000 Euro.
317.000 Pflegekräfte mehr, in Vollzeit gerechnet, würden die Branche wie von Zauberhand verwandeln. Die Altenpflege beschäftigt derzeit im stationären und ambulanten Bereich etwas über eine Million Menschen, davon nur ein gutes Viertel in Vollzeit. Mit einem so deutlichen Aufwuchs an Personal gäbe es mehr Pflegeplätze, bessere Personalschlüssel, mehr Zeit für jede PatientIn – der Beruf wäre schlagartig attraktiver, vorzeitige Berufsausstiege gebannt, man könnte hoffen, dass mehr junge Leute den Beruf ergreifen.
Insgesamt 141 Minuten pro BewohnerIn und Tag müssten eigentlich im Schnitt an Pflegezeit zur Verfügung stehen, hat ein Bericht der Universität Bremen zur Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege kürzlich ergeben. Tatsächlich aber stehen nur 99 Minuten an Pflegezeit zur Verfügung, wovon 27 Minuten für Organisatons- und Vorbereitungszeit draufgehen. „Die Einrichtungen arbeiten wahnsinnig gehetzt“, stellte Studienleiter Heinz Rothgang fest.
Weg vom „Ausscheidungsmanagement“
Mit mehr Zeit könnten die PflegerInnen die BewohnerInnen schon beim Waschen „basal stimulieren“, also umsichtig berühren und massieren. Sie könnten rascher die Vorlagen wechseln oder sie zum Toilettengang führen, wenn die SeniorInnen klingeln. Sie könnten ihnen beim Essen und Trinken mehr helfen, sie könnten länger mit ihnen reden. Sie könnten sie ins Grüne schieben, wenn das Wetter schön ist. Die Pflegetätigkeit wäre angenehmer und nicht so auf das „Ausscheidungsmanagement“ fixiert.
Ein Prozent mehr an Beitrag für die Pflegeversicherung würde eine Beitragserhöhung von heute 3,05 Prozent (Kinderlose: 3,30 Prozent) auf dann 4,05, beziehungsweise 4,30 Prozent vom Bruttoentgelt bedeuten, die Hälfte davon finanzieren die Arbeitgeber. Auch Leute in der privaten Pflegepflichtversicherung müssten mehr zahlen. Nur mal zum Vergleich: Im Jahre 1995, zu Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, stieg der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung für einige Jahre auf 6,5 Prozent.
Ein halbes Prozent weniger Nettolohn im Monat, vielleicht wäre das doch ein geringes Opfer angesichts des Risikos, das wir haben: Fast jeder vierte der 80- bis 85-Jährigen, fast die Hälfte der 85- bis 90-Jährigen wird zum Pflegefall, sagt die Pflegestatistik. Viele von uns erleben die größte Herausforderung nicht am Anfang oder in der Mitte, sondern erst am Ende ihres Lebens.
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