Rücksichtslose Kampfjogger: Lasst mich durch, ich bin schnell!
Die im Laufen dargestellte Fitness ist ein Statement. Der Kampfjogger ist der SUV unter den Fußgängern.
D ie Frau ist vollkommen außer Puste. Sie trägt die bunte Funktionskleidung der Läuferinnen. Breitbeinig steht sie da, wobei der Ausdruck „stehen“ in die Irre führen könnte, denn ihre Hände hat sie auf ihre Knie gestemmt. Ihr Atem geht stoßweise. Offensichtlich ist sie die Treppen hochgerannt, die aufs Dach des Hochbunkers im Berliner Volkspark Humboldthain führen, wo einst 16-Jährige im Himmel über der Stadt nach alliierten Bomberflugzeugen Ausschau hielten, um sie abzuschießen.
Die Frau hat es bis ans Ende der Treppe geschafft. Sie steht nicht mitten im Weg, aber den einen Schritt zur Seite, der für alle anderen freie Bahn mit 1,50 Meter Sicherheitsabstand bedeuten würde, den hat sie nicht mehr gemacht.
Für Passanten, die nach unten wollen, gibt es nun vier Möglichkeiten: 1. Nase zu und durch. 2. Abwarten und Mitleid spüren (nein, keine Empathie, das ist nicht nur nicht dasselbe, sondern was ganz anderes, das führt hier jetzt aber zu weit). 3. Einen anderen Weg nehmen. 4. Locker bleiben und auf jene Infektiologen vertrauen, die den nicht unbegründeten Verdacht äußern, dass unsere Gesellschaft ohnehin längst in einem viel höheren Maß als angenommen durchinfiziert ist.
Immerhin ist es möglich, sich angesichts der schwer atmenden, aber an Ort und Stelle verharrenden Läuferin zu entscheiden, was man nun lieber tun möchte. Anders verhält es sich mit Kampfjoggern, die, haben sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt, in den Parks und auf den Gehwegen den idealen Vektor ihres Laufs unbeirrt verfolgen. Sie schauen beim Laufen nicht nach links und nicht nach rechts. Wie raketengetriebene Wunderwaffen ziehen sie ihre Bahn durch die Welt. Wenn sie eng an Spaziergängern vorbeirauschen, spüren diese den Windhauch einer überlegenen Lebensform. Ausweichen ist fast unmöglich. Wir müssen diese Läufer erdulden wie eine Strafe Gottes. Sie sind die SUVs unter den Fußgängern.
Optimiere dich selbst, lautet der biopolitische Imperativ
Anthropologisch gesehen ist der Mensch ein Läufer. Ganze Theorien der Menschwerdung befassen sich mit unserer Fähigkeit, viel zu schwitzen. Unser Vorfahr Homo erectus, so lautet die These von Daniel E. Lieberman, hetzte sein Abendessen in den Hitzetod. Der Passant ist zwar kein Beutetier des Kampfjoggers, aber er fühlt sich so.
Vor über 40 Jahren, als die postmoderne Laufbewegung begann, hatte das Laufen noch einen anarchistischen Touch. Es erscheint wenig erstaunlich, dass das Joggen in den neoliberalen 1980ern seinen Aufschwung nahm, auch in den durchgetanzten 1990ern nicht außer Mode geriet und als „Laufen“ nun so populär wie nie ist. Heute hat Laufen aber den Charakter einer Pflichtübung. Bleib gesund, halt dich fit, optimiere dich selbst, lautet der biopolitische Imperativ, der uns allerorten entgegenschallt. Oder, wie es der Weltrekord-Marathonläufer Eliud Kipchoge formuliert hat: „Nur die Disziplinierten sind im Leben frei. Undisziplinierte sind Sklaven von Stimmungen und Leidenschaft.“
An dieser Stelle ist es aus Gründen der Differenziertheit angezeigt, den Kampfjogger von anderen Läufertypen zu unterscheiden. Dazu zählen die mal leicht übergewichtigen, mal nur nicht besonders athletischen Jogger, die eher langsam unterwegs sind. Oft machen sie kleine Schritte. Man sieht ihnen an, dass sie das Laufen nicht betreiben, um über sich hinauszuwachsen. Weder sammeln sie Daten über Körper und Route, noch besitzen sie irgendeinen Ehrgeiz, die eigenen Rekorde oder gar die anderer zu brechen.
Sie haben vielleicht das Gefühl, sie bewegten sich zu wenig. Vielleicht möchten sie auch drei Kilo abnehmen. Diese Läufer sind sympathische Gesellen, weil sie auf bescheidene Weise die menschliche Unvollkommenheit repräsentieren.
Ebenfalls nicht gemeint sind die in sich gekehrten, mönchischen Asketen. Sie laufen auf elegante, weil effiziente Weise weder zu schnell noch zu langsam, da sie gewohnt sind, größere Strecken zurückzulegen. Sie haushalten mit ihren Kräften und vermitteln den Eindruck, dass sie mit sich im Reinen sind. Diesen Menschen bei ihren religiösen Übungen zuzusehen, kann beim Betrachten eine innere Ruhe hervorrufen.
Der Kampfläufer performt seine Haltung zum Leben
Es gibt unter den Leistungsläufern, die nur aus Knochen, Sehnen und Muskeln bestehen, eine gewisse Herablassung den locker trabenden, ein bisschen zu dicken Amateurjoggern gegenüber. Das führt uns auf die Spur, was den Kampfjogger ausmacht, den man also womöglich besser als Kampfläufer bezeichnen sollte. Wie der Asket läuft der Kampfläufer nicht einfach, er performt seine Haltung zum Leben. Vor allem aber hat der Kampfläufer einen Plan und ein Ziel. Er betreibt etwas, das mit dem schönen alten deutschen Wort Ertüchtigung präzis beschrieben ist.
Der SUV unter den Fußgängern hat anders als der Asket seinen Blick nicht nach innen gerichtet, weil er beim Laufen zu sich selbst kommt, sondern weil ihn die Verbesserung seiner Performance interessiert. Zugleich will der Kampfjogger aber auch in seinem optimierten Dasein wahrgenommen werden. Während der Asket beim Laufen oft unbemerkt bleibt, weil er nicht nur eins mit sich, sondern auch mit der Welt ist und also in ihr verschwindet wie ein Vogel, eine Maus oder eine Biene, projiziert der Kampfläufer mit jedem strammen, federnden Schritt seine optimierte Existenz hell strahlend in die Welt hinaus. Der Kampfläufer lässt sich nicht übersehen.
Seine im Laufen dargestellte Fitness ist Selbstversicherung und Statement: Seht her, ich bin stählern. Ich bin gerüstet. Ich ertüchtige mich, weil ich tüchtig bin. Ich bin autonom und falle dem Gesundheitssystem nicht zur Last. Mein Körper ist Gegenstand meiner rationalen Lebensführung, so wie alles, was ich anfasse. Ich mache das, wozu ihr faulen Säcke euch nicht aufraffen könnt, weswegen es nur folgerichtig ist, dass ihr Hartz IV bezieht und ich mir demnächst eine Eigentumswohnung kaufen werde.
Der Kampfläufer zweifelt nicht. Er weiß, was er tut. Was er einmal angefangen hat, führt er konsequent zu Ende. Davon hält ihn auch kein Virus ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen