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Bulgaren unter Generalverdacht

2016 wurde bekannt, dass in Bremerhaven vor allem bulga­r*ischen Ein­wan­de­r*in­nen Scheinarbeitsverträge besorgt wurden. Seitdem haben diese einen schweren Stand beim Jobcenter

Der Bremerhavener Betrugsskandal wirft lange Schatten Foto: Arno Burgi/dpa

VonEiken Bruhn

Es gibt eine kurze und eine lange Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen bisher aus dem Untersuchungsausschuss „Sozialbetrugsverdacht“ in Bremerhaven gezogen wurden. Gefragt hatte die CDU-Bürgerschaftsfraktion.

Die lange Antwort hat jetzt der Bremer Senat veröffentlicht. Auf 21 Seiten breitet er aus, wie eine Wiederholung des Skandals verhindert werden soll, bei dem das Bremerhavener Jobcenter zwischen den Jahren 2013 und 2016 um vermutlich mehrere hunderttausend Euro betrogen wurde.

In erster Linie, so steht es in dem Senatsschreiben, durch verbesserte Zusammenarbeit von Behörden, „Schulungen auf das frühzeitige Erkennen von Anzeichen eines Leistungsmissbrauchs“ sowie die Installation von Mul­ti­pli­ka­to­r*in­nen zu diesem Thema im Jobcenter. Und die schauen offenbar sehr genau auf die Staatsangehörigkeit.

Denn die kurze Antwort auf die CDU-Frage liefert der Bremerhavener Rechtsanwalt Gerd Bürsner. „Die Konsequenzen sind dramatisch“, sagt er, „Bulgaren stehen unter Generalverdacht.“ Bürsner vertritt aktuell Menschen, denen das Jobcenter kein Geld geben will. Mit der Begründung, sie hätten in Deutschland nie gearbeitet. Dies ist für EU­-Bür­ge­r*in­nen eine Voraussetzung, um hierzulande staatliche Hilfen zu bekommen. In dem Betrugsfall hatten die mutmaßlichen Tä­te­r*­in­nen in zahlreichen Fällen für die überwiegend aus Bulgarien stammenden Leute Arbeitsverhältnisse vorgetäuscht – und sie damit zum Jobcenter geschickt.

Das führt jetzt offenbar dazu, dass Anträge auf Sozialleistungen von Bul­ga­r*in­nen, aber auch Rumä­n*­in­nen derzeit zunächst Ablehnungsbescheide des Jobcenters erhalten. Legen sie Widerspruch ein, so die Erfahrung von Rechtsanwalt Gerd Bürsner, erhalten viele spätestens nach einem Gerichtsverfahren häufig doch noch Sozialhilfe.

Denn die Sozialgerichte würden ihre Arbeitsnachweise anders als das Bremerhavener Jobcenter anerkennen, sagt Bürsner. Viele arbeiten als Tagelöhner, etwa als schlecht bezahlte Putzkräfte auf Containerschiffen. Doch so lange die Gerichtsentscheidungen ausstehen und sie keine Arbeit haben, müssen sie ohne staatliches Geld auskommen.

Bürsners Erfahrungen bestätigen sowohl die Awo als auch die Solidarische Hilfe in Bremerhaven, die beide osteuropäische Einwanderer beraten. „Wir haben jede Woche zwei, drei solcher Fälle“, sagt der Vorsitzende der Solidarischen Hilfe, Klaus Görke.

Der Betrugs-Skandal

Im August 2018 hat die Staatsanwaltschaft Bremen gegen den Vater des ehemaligen SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Patrick Öztürk Anklage wegen gemeinschaftlichen Betruges in 724 Fällen sowie Untreue in acht Fällen erhoben. Gegen Patrick Öztürk, gegen den ebenfalls ermittelt wurde, wurde der Betrugs-Vorwurf fallen gelassen, nicht aber der wegen Untreue.

Öztürk Senior soll Scheinarbeitsverträge besorgt haben, damit die Betroffenen, für die er als „Berater“ tätig war, staatliche Hilfen beziehen konnten, die ihnen sonst als EU-BürgerInnen verwehrt geblieben wären. Jobcenter und Bremerhavens Sozialdezernent hatten mehrere Hinweise auf diese Praxis bekommen, waren dem aber nicht nachgegangen.

Der Untersuchungsausschuss, der die Rolle der Bremerhavener Behörden zum Fokus hatte, hat im Januar 2018 seinen Abschlussbericht veröffentlicht. In diesem werden Handlungsempfehlungen ausgesprochen.

In einigen Fällen haben die Betroffenen wahrscheinlich in zumeist ausbeuterischen Verhältnissen gearbeitet, konnten dies aber nicht nachweisen. So wurden zwei Mandanten des Rechtsanwalts Gerd Bürsner wegen Betrugs verurteilt, drei weitere Verfahren sind offen. Zudem sind zahlreiche Strafbefehle zur Rückzahlung von zu Unrecht ergangenen Sozialleistungen ergangen.

Dabei gehe er davon aus, dass sich viele gar keine Unterstützung holen, weil sie glauben, dass die Beratungsstellen mit dem Jobcenter zusammenarbeiten. „Viele der Menschen aus Osteuropa sind sehr misstrauisch und können sich gar nicht vorstellen, dass wir unabhängig sind.“

Ihn ärgert, dass die Behörden nach seiner Meinung viel zu selten auf Dol­met­sche­r*in­nen zurückgreifen. „Ohne unsere Hilfe würden die Leute überhaupt nicht verstehen, welche Rechte sie haben“, sagt Görke. Die mutmaßlichen Bremerhavener Betrüger hatten sich dies zunutze gemacht, indem sie den überwiegend türkischsprachigen Bul­ga­r*in­nen und Grie­ch*in­nen Übersetzungshilfe anboten – gegen Entgelt.

In der Senatsantwort heißt es zu dem Thema: „Das Jobcenter Bremerhaven arbeitet nunmehr ausschließlich mit Telefondolmetschern, um einer möglichen Einflussnahme von Dolmetschern auf die Antragsteller/Antragstellerinnen, welche die Vorsprechenden begleiten, zu begegnen.“ Wie oft einzelne Sprachen übersetzt wurden, habe man nicht erfasst, sagt der Sprecher des Jobcenters.

Derzeit gibt es nach Daten der Bundesarbeitsagentur wieder einen verstärkten Zuzug aus Bulgarien: Danach waren im Dezember 438 Regelleistungsberechtigte in Bremerhaven gemeldet, knapp 37 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Klagen wegen der Nicht-Anerkennung der Zugangsvoraussetzungen zum deutschen Sozialhilfesystem gab es im Dezember 173. Fünf Jahre zuvor waren es nur 62. Dabei waren damals viel mehr Bul­ga­r*in­nen arbeitslos und arbeitssuchend gemeldet.

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