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Lage der Demokratie in GroßbritannienNo. No. No. No. No. No. No. No.

Brexit-Chaos für Feinschmecker: Das Parlament lehnt die eigenen Vorschläge ab. Theresa May bietet ihren Rücktritt an. Wer blickt noch durch?

Brexit-Sorgen: Panzernashorn Sanjay aus Nürnberg soll eigentlich in Edinburgh Nachkommen zeugen Foto: dpa

Das musste ja so kommen. Erst setzen die Hinterbänkler im britischen Parlament Himmel und Hölle in Bewegung, um endlich selbstbestimmt Vorschläge zum Brexit abstimmen zu dürfen, und dann lehnen sie jeden einzelnen ihrer eigenen Vorschläge ab. Egal ob No Deal oder No Brexit, ob neue Volksabstimmung oder das Norwegen-Modell: Keine Idee fand am Mittwochabend im Unterhaus eine Mehrheit. Selbst der offizielle Labour-Plan, von dem Jeremy Corbyn jeden Mittwoch im Parlament behauptet, er allein sei mehrheitsfähig, erhielt weniger Stimmen als zuletzt Theresa Mays Brexit-Deal.

Kurz bevor die Parlamentarier ihren bunten Brexit-Blumenstrauß in einen Komposthaufen verwandelten, hatte die Premierministerin vor der konservativen Fraktion ihren letzten Trumpf gezogen: Wählt meinen Deal und ihr seid mich endlich los. Nicht einmal Boris Johnson konnte da widerstehen, zumindest ein paar Stunden lang nicht. Denn das eröffnet die Chance, dass nach dem EU-Austritt ein neuer Premierminister, den die Brexiteers gern selbst stellen wollen, die Verhandlungen mit der EU über die künftigen Beziehungen führt.

Mit diesen beiden Wendungen ging das Brexit-Duell von Westminster über Nacht in eine neue Runde. Die rebellierenden Hinterbänkler wollen die zwei aussichtsreichsten ihrer Brexit-Modelle – zum einen einen Verbleib in der EU-Zollunion, zum anderen eine neue Volksabstimmung – am kommenden Montag noch einmal zur Abstimmung stellen, in der Hoffnung, dass wenigstens eines durchkommt. Oder beide, also eine Volksabstimmung über den Verbleib in der EU-Zollunion. Mit dieser Idee könnte dann rechtzeitig zum Stichtag 12. April eine weitere Brexit-Verschiebung bei der EU beantragt werden – bis dahin muss Großbritannien, sofern es das bestehende Austritts­abkommen mit der EU weiter ablehnt, eine Verschiebung über die Europawahlen hin­aus beantragen oder ohne Deal ausscheiden.

In 10 Downing Street hingegen sieht das neueste Gedankenspiel so aus: Am Freitag, 29. März, also am ursprünglichen Brexit-Tag, kommt Mays Deal zum dritten Mal zur Abstimmung, geht diesmal durch, und dann gibt es den geordneten Brexit am 22. Mai, pünktlich zur Europawahl, an der die Briten nicht teilnehmen. Dann tritt auch Theresa May als Premierministerin zurück, damit jemand anders die „nächste Phase“ des Brexit leitet.

Wenn May sich durchsetzt, wird der Hinterbänkler-Plan hinfällig. Deswegen steht viel auf dem Spiel und es wird mit verdeckten Karten gespielt. Parlamentspräsident John Bercow bekräftigte und verschärfte am Mittwoch noch einmal seinen rechtlichen Hinweis, wonach der Deal nicht ohne „substanzielle Änderungen“ zum dritten Mal ins Parlament eingebracht werden dürfe. Parlamentsministerin Andrea Leadsom kündigte unbeirrt am Donnerstag im Unterhaus eine neue Brexit-Abstimmung für Freitag an, da ja noch diese Woche der Deal verabschiedet werden müsse, um die Verschiebungsvereinbarung mit der EU zu erfüllen.

Was jetzt? Eine Volksabstimmung über die Zollunion?

Da es keine „substanzielle Veränderung“ gibt, kann nicht einfach der Deal selbst neu eingebracht werden. Die Abgeordneten könnten aber ihre Absicht bekunden, den unstrittigen Teil des Textes zu billigen, der die Austrittsmodalitäten klärt, während der Teil, in dem Sprengsätze wie der Nordirland-Backstop stehen, ausgeklammert bleibt. Damit wäre zwar der Deal selbst nicht „substanziell verändert“, wohl aber der abzustimmende Antrag. Diskussionen darüber mit Bercow „dauern an“, sagte Leadsom, während Bercow mit dem Kopf schüttelte.

Manche neunmalklugen Analysten schlagen vor: Erst wird Mays Deal angenommen und der Brexit vollzogen, später gibt es eine Volksabstimmung darüber, ob Großbritannien nach dem Ablauf der vorgesehenen Übergangsfrist in der Zollunion bleibt oder nicht. Das wäre ein dermaßen unverständlicher Geniestreich, dass wohl niemandem etwas Besseres einfallen dürfte – jedenfalls nicht in den verbleibenden kurzen Fristen.

Auch die Befürworter eines zweiten Brexit-Referendums wissen, dass sie eine hoch riskante Strategie fahren, wenn sie ihr Referendum wie bisher als Vehikel zum Verbleib in der EU verkaufen. Die Brexit-Populisten warten nur dar­auf, dass die Referendumsbefürworter in diese Falle tappen. Dominic Cummings, der geniale Wahlkampfleiter der Brexit-Kampagne „Vote Leave“ von 2016, warnte jetzt auf seinem Blog, solchen Politikern drohe eine noch viel höhere Niederlage als vor drei Jahren.

Denn eine zweite Volksabstimmung wäre eine Vertrauensabstimmung über das britische Politchaos der letzten vergangenen Jahre, so Cummings. „Bei einem zweiten Referendum wird es nicht um die EU gehen. Es wird um euch und um eure Parteien gehen, und wenn ihr 2016 schlimm fandet, wird das nächste Mal für euch unerträglich.“

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22 Kommentare

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  • Hallo



    warum nicht jeden Tag die Buerger in einer Demokratie abstimmen lassen? Wenn ich zum Arzt gehe, werde ich auch immer wieder gefragt, wenn es neue Informationen gibt. Soll es in der Politik weniger Demokratie als beim Arzt geben?

  • Wer hats erfunden, richtig die Schweizer!

    Einfach das Volk per Referendum abstimmen lassen, ob Sie den Brexit mit dem bereits vorliegenden Deal mit der EU wollen oder den Brexit ohne Deal.

    Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht! Nur ein Referendum macht noch keine direkte Demokratie! Und als nächstes dann mal ein Referenduum wie bald in Berlin, wo es um die Enteignung von Wohnunsgesellschaften geht, die über 3000 Wohnungen im Bestand haben und nicht sozial verantwortlich agieren. Das wäre doch auch in Großbritannien sinnvoll bei der hohen Obdachlosigkeit und den spekulativen sozial unverantworlichen Mietpreisentwicklungen dort!

  • An diesem Brexit-Verfahren offenbart sich so herrlich wie schelcht parlamentarische Demokratie funktioniert bzw. das sie es nicht tut.



    Es wird sich an völlig blödsinnigen Dingen aufgehangen und nichtmal, dass was die Vertreter an sich selbst wollen können sie durchbringen. Die einzigen "mehrheitsfähigen" Beschlüsse scheinen die zu sein, die einer Lobby dienen, denn Geld hat immer Recht

    • @RealDiogenes:

      Kleiner Hinweis: Speziell diese parlamentarische Demokratie (die eigentlich eine parlamentarische Monarchie ist) funktioniert gut genug, um seit dem ausgehenden 17. Jarhundert keine gewaltsamen Umstürze hervorgerufen zu haben. Das britische Unterhaus befindet sich aktuell in seiner 57. (in Worten: siebenundfünzigsten) Legislaturperiode. Das britische System hat ein davor und seitdem in seiner Dominanz unerreichtes Weltreich ermöglicht und auch dessen Zusammenbruch überlebt. Grundsätzliche Unzulänglichkeit sieht anders aus, würde ich sagen.

      Tatsächlich zeigen die aktuellen Schwierigkeiten eher, dass die parlamentarische Demokratie ein Problem mit der Umsetzung radikaler (hier plebiszitärer) Entscheidungen hat - vor allem wenn die objektiv großer Blödsinn und mit der eigentlichen Zielsetzung der meisten Wähler unvereinbar waren. Genau deshalb neigen ja auch parlamentarische Demokratien dazu, solche radikalen Schritte aus eigenem Antrieb schlicht nicht zu machen. Ob das per se eine Schwäche ist, wage ich zu bezweifeln.

      Nur aus Neugier: Was, denken Sie denn, würde besser funktionieren?

    • @RealDiogenes:

      Ihnen ist aber schon klar, das der Brexitschlamassel seinen Ursprung in einem Referendum hat, in dem das Volk direkt votiert hat?

  • Es ist von mehreren back benchers gesagt worden: in der Kombination eines Beschlusses (am besten der May-Deal, weil den die EU schon abgesegnet hat, eventuell auch Norwegen-Modell) mit einer zweiten Volksabstimmung über das, was das Parlament da beschlossen hat, könnte ein Weg aus der Zwickmühle liegen. Das wäre dann das, was z.B. die Liberaldemokraten schon länger fordern: eine Abstimmung in der man nicht die Katze im Sack kauft. Und danach braucht Great Britain eine verfassungsgebende Versammlung, um a) den zukünftigen Status von Referenden zu klären, b) eine exakte Beschreibung der Kompetenzen von Mr. Speaker zu haben (so sehr mich die Bercow-Show auch zum Schmunzeln bringt) und c) das Verhältnis der Landesteile zueinander zu definieren.

  • 9G
    97088 (Profil gelöscht)

    Ich finde die klasse, die Britten. Eine Wahnsinns Show, die die da im europäischen Kontextt abliefern.



    Aber Vorsicht: Das alles hat nichts mit Exzentrik zu tun. Im britischen Unterhaus gehen Machtgier, Manipulation und Ignotanz Hand in Hand durch das Gebäude. Schön anzusehen! Und sonst: Let them go! Am besten ungeregelt. Dann haben wir die Virgin Islands näher am Festland. Gut für die zukünftigen Steuerverstecker.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    was´n passendes foto: als wäre das eigentliche thema nicht komplex genug, gibt es noch ein tolles, passend geschriebenes nashornfoto zum brexit.



    super, je unübersichtlicher, desto besser!



    toller journalismus, oder ist das jounaltainment - infotainment ist es mangels irgend einer information ja sicher nicht mehr.

  • Robert Mercer muss sich inzwischen das Grinsen ins Gesicht gebrannt haben... Wer hätte geahnt das der Plan so gut funktioniert?

  • Es wird immer verrückter. Da droht (?) eine Politikerin mit ihrem Rücktritt, wenn das Parlament ihre Politik absegnet :-)

  • Wenn es bis zum 29.03. keinen anderslautenden Beschluss gibt, tritt morgen automatisch der No-Deal-Brexit in Kraft. Oder wurde zumindest das geltende Brexit-Gesetz mit dem Stichtag 29.03. im Parlament geändert? Das wurde wohl im ganzen Chaos übersehen...

    • @Frank Roger:

      Na, das sähe ihnen ähnlich, wenn die Briten am 30. feststellen, dass sie gestern ausgetreten sind!

  • Herr Johnson, der Respekt vor demokratischen Strukturen verbittet es sämtliche Oppositionspolitiker pauschal als Hinterbänkler zu diffamieren.

    • @vulkansturm:

      Das ist keine Diffamierung sondern britischer Usus. Die (führende) Opposition i.e. Labour hat 'Front Bencher (Schattenkabinett)' und 'Back Bencher' und spiegelt damit die regierende Partei.

    • 6G
      64984 (Profil gelöscht)
      @vulkansturm:

      Absolut richtig!



      Aber Herr Johnson hat sich schon öfter als Fan von Theresa May erwiesen.

    • @vulkansturm:

      Bestimmte Abgeordnete werden nun mal als Backbencher bezeichnet und Hinterbänkler ist die korrekte aber, zugegeben, unglückliche Übersetzung, da ich mal davon ausgehe, daß der Begriff im englischen nicht diesen dispektierlichen Unterton hat wie im deutschen.

  • Wieso unverständlicher Geniestreich? Eigentlich doch kein schlechter Weg. Erst einmal mit Mays Deal das Schlimmste verhindern und später das Volk darüber abstimmen lassen, ob der Verbleib in der Zollunion nicht nur für die Übergangsphase gelten sollte. Das klingt eher nach einem goldenen Mittelweg, nach einem sinnvollen Kompromiss.

    • @vulkansturm:

      "Das klingt eher nach einem goldenen Mittelweg, nach einem sinnvollen Kompromiss."

      Im Grunde ja. Es gibt dabei aber ein aus Sicht der britischen Politiker ein gewaltiges Problem.



      Versuche es mal mit einer Analogie: stellen sie sich eine Schule mit 100 Schülern vor. Das Lehrerkollegium beschließt die Schüler zu fragen, ob die Klassenfahrt nach Rom oder Paris gehen soll. 52 sagen Rom, 48 sagen Paris.

      Drei Jahre später: das Lehrerkollegium ist so zerstritten, daß immer noch nicht klar ist ob und wann die Klassenfahrt stattfindet. Liegt auch teilweise daran, daß die Stadtverwaltungen in Rom und Paris den Lehrern die Organisation der Reise so schwer wie möglich machten..... :-)

      Wenn die Lehrer nun nochmal die Schüler, egal über was auch immer abstimmen lassen würden, würden die Schüler, egal ob sie nun nach Rom oder Paris fahren wollten, nur für eines stimmen: neue Lehrer.

      • @Der Mann, der unter einem Stein hervorkroch:

        Schönes Beispiel, mit einem kleinen Fehler:

        „Liegt auch teilweise daran, daß die Stadtverwaltungen in Rom und Paris den Lehrern die Organisation der Reise so schwer wie möglich machten...“

        Die Stadtverwaltungen in Rom und Paris weigern sich nur, die Schüler mit Stretchlimousinen abholen zu lassen, sie im Luxushotel unterzubringen und den gesamten Aufenthalt aus der Stadtkasse zu bezahlen.

  • Erst mit einem Tierbild anfüttern, und dann kein Wort über das Nashorn im Artikel. Schämt euch!

    • 8G
      88181 (Profil gelöscht)
      @Wurstprofessor:

      Aber da ist doch die Bildunterschrift. Das Nashorn sollte nach Edinburgh, kleine Nashörner erschaffen und hat jetzt wegen des ganzen Brexit-Hickhacks keinen Bock mehr auf die Insel.

      Geht mir auch nicht anders.

      • @88181 (Profil gelöscht):

        Aber der Status des Vereinigten Königreichs im Verhältnis zur EU ist doch nicht verantwortlich, daß das Nashorn jetzt als Zwangsprostituierter oder aber als Sextourist eingestuft werden kônnte...