Prozessauftakt in Chemnitz: Freispruch nicht ausgeschlossen
Wer hat Daniel H. erstochen? Noch bevor der Prozess gegen den Angeklagten am Montag losging, gibt es Fragen zur Gesinnung der Richter.
Für die Ankläger ist Alaa S. derjenige, der am 26. August 2018 in Chemnitz mit einem Mittäter den 35-jährigen Daniel H. erstach. Es war die Tat, die der sächsischen Stadt wochenlange rechte Aufzüge bescherte, Übergriffe auf Migranten und eine bundesweite Debatte, die Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sein Amt kosteten.
Aber ist mit Alaa S. wirklich der Richtige angeklagt? Es gibt Fragezeichen.
Alaa S. sagt zu den Vorwürfen an diesem Tag nichts. Nur zu seinen Personalien äußert sich der Geflüchtete, der im Frühjahr 2015 nach Deutschland kam. In Syrien sei er geboren, 23 Jahre alt, gelernter Frisör. Dann lässt er seine zwei Anwälte sprechen.
Druck auf das Gericht
Und die schalten auf Offensive. Noch vor der Anklageverlesung fordern sie Erklärungen von den Richtern und Schöffen, wo diese politisch stehen. Nahmen sie an Kundgebungen in Chemnitz teil? Oder bei Pegida? Sind sie Mitglieder der AfD? Wie stehen sie zur Flüchtlingspolitik? „Das ist doch ein Witz“, ruft ein Zuschauer in den Saal.
Verteidigerin Ricarda Lang betont dagegen die „Politisierung“, die dieser Fall erfahre. Schon vor dem Prozess hatte sie beantragt, diesen ganz aus Sachsen zu verlegen.
Nun verweist sie auch auf die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD), die der taz sagte, sie hoffe auf eine Verurteilung: Ein Freispruch wäre Teil des Rechtsstaats, aber dann „würde es schwierig für Chemnitz“. Bei all dem Druck, sagt Lang, müsse der Angeklagte wissen, ob er unbefangene Richter vor sich habe.
Auch Staatsanwalt Stephan Butzkies hält einige der Fragen an die Richter für berechtigt. Richterin Simone Herberger stellt den Antrag zurück. Butzkies trägt darauf seine Anklage vor: Einen gemeinschaftlichen Totschlag habe Alaa S. begangen.
„physiologisch abenteuerlich“
Mit einem Mittäter, dem bis heute flüchtigen Iraker Farhad R., sei Alaa S. nach einem Stadtfest am 26. August zufällig auf Daniel H. gestoßen, habe nach einem Streit auf diesen eingestochen. Fünf Stiche hätten H. getroffen, einer ins Herz, einer in die Lunge. Daniel H. verstarb noch am Tatort.
In der vollen Anklageschrift wird der Ablauf etwas klarer. Der Mittäter, Farhad R., soll Daniel H. damals um eine „Karte“ gebeten haben, offenbar um damit Kokain zu schnupfen. H. habe ihn abgewiesen. Es sei es zum Handgemenge zwischen beiden gekommen. Erst dann sei Alaa S. aus einem nahegelegenen Imbiss gestürmt und habe mit Farhad R. auf Daniel H. eingestochen.
Frank Drücke, zweiter Anwalt von Alaa S., spricht dagegen von „eklatanten Ungereimtheiten“ in der Anklage. So soll Alaa S. den Nacken von Daniel H. gepackt, ihn mit dem Messer gestochen und mit dem Knie getreten haben, gleichzeitig habe er von H. einen Faustschlag erhalten. „Physiologisch abenteuerlich“, nennt das Drücke. Wie solle das möglich sein?
Es gebe auch keine DNA-Spur von Alaa S. am Tatort. Die Vorwürfe gegen ihn blieben völlig „diffus“. Drücke beantragt die Einstellung des Verfahrens – und die sofortiger Freilassung von Alaa S. „Unser Mandant ist unschuldig.“
Zeuge spricht von Chaos
Der Syrer selbst hatte bereits vor Ermittlern die Messerstiche bestritten: Er habe das Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Als die Polizei kam, sei er aus Angst davongelaufen. Beamte hatten den Syrer kurz nach der Tat festgenommen. Das Gericht hatte den Haftbefehl gegen Alaa S. zuletzt verlängert.
Am Nachmittag ist es Dimitri M., der die Tatnacht aufhellen soll. Der 38-jährige Russlanddeutsche hatte mit Freunden damals seinen Bekannten Daniel H. getroffen. Auch er wurde attackiert, mit Messerstichen in den Rücken. Wie es ihm gehe? „Es geht“, sagt der LKW-Fahrer.
Zwei Männer hätten Daniel H. attackiert, einer mit einem Messer, der andere mit Fäusten, vielleicht auch er mit einem Messer. Gesichter kann Dimitri M. aber nicht sicher wiedererkennen. „Es war Chaos, alle haben geschrien.“
Staatsanwalt Butzkies schlägt vor, die Tat nachzustellen. Er legt sich wie Daniel H. auf den Saalboden, Dimitri M. stellt die Messerstiche nach. Aber M. zeigt auch, wo er sich während der Tat befand: Er geht mehrere Meter an den Rand des Saals, sah also alles nur aus der Ferne. Die Fragezeichen in der Anklage löst seine Aussage nicht auf.
Angehörige wie versteinert
Im Gericht verfolgen nur wenige Rechte das Geschehen, tätowierte Männer mit verschränkten Armen. Protest bleibt aus. Weiter vorne sitzen zwei Frauen: Mutter und Schwester von Daniel H. Teils wie versteinert sitzen sie in der Verhandlung, mit der Presse wollen sie nicht reden. Unbegreiflich sei ihnen der Tod von Daniel H., sagte im Vorfeld einer ihrer Anwälte.
Daniel H. war in der Stadt geboren, arbeitete dort als Tischler, der rechten Szene stand er fern. Mit der Politisierung der Tat könne die Familie nichts anfangen, so der Anwalt. „Sie wollen nur die Wahrheit wissen, was in dieser Nacht passierte.“
Chemnitz kommt nicht zur Ruhe
Diese Wahrheit aber liefert der Prozessauftakt nicht. Bleibt die Beweislage so unklar, scheint ein Freispruch tatsächlich nicht ausgeschlossen. Für Chemnitz würde das eine neue Belastungsprobe bedeuten.
Bis heute kommt die Stadt nicht zur Ruhe. Erst am Montag zogen hunderte Hooligans durch die Stadt, um einem verstorbenen Neonazi zu gedenken. Auch das rechtsextremen „Pro Chemnitz“ kündigt neue Aktionen an. Bürgermeisterin Ludwig gesteht, dass es bis heute „Gräben“ in der Stadt gibt.
Im Prozess gegen Alaa S. stehen nun Wochen aufwändiger Indizienprüfung an. Bis Ende Oktober sind Verhandlungstage angesetzt. Ob Chemnitz bis dahin zur Ruhe kommt, bleibt fraglich.
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