Arbeit und gesellschaftlicher Wandel: In der Zeitmaschine
Die Erwerbsbevölkerung schrumpft. Das wird auch linke Diskurse verändern und Mut zum Neuen erfordern.
![Zwei ältere Menschen stehen Hand in Hand an einer Straßenkreuzung Zwei ältere Menschen stehen Hand in Hand an einer Straßenkreuzung](https://taz.de/picture/3874565/14/kenny-luo-vMtd0SC79ts-unsplash-1.jpeg)
M an reibt sich die Augen: Wir scheinen in einem völlig anderen Land zu leben als noch vor 15, 20 Jahren. Damals stand die Massenarbeitslosigkeit im Fokus, die Arbeitslosenzahlen der Bundesagentur für Arbeit waren das monatliche Orakel aus Nürnberg zur düsteren Zukunft des Sozialstaates. Unter Linken wurde diskutiert, ob man angesichts der steigenden Massenarbeitslosigkeit die Arbeit quasi wie einen Kuchen gerechter umverteilen müsse, indem mehr Menschen freiwillig auf Teilzeit gehen.
Vorbei, vorbei.
Heute fordert der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, Teilzeitstellen aufzustocken. CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier setzt auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im März kommen wird, und hofft auf neue Arbeitskräfte aus Indien, Brasilien und Vietnam.
Einwanderung wird aber den demografischen Trend nur abmildern, der durch die niedrigen Geburtenziffern bedingt ist und durch die Tatsache, dass hierzulande immer mehr Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer in Rente gehen.
„Dass das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft, ist sehr, sehr wahrscheinlich“, sagt Enzo Weber, Wirtschaftswissenschaftler am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Wandern etwa 300.000 Menschen mehr pro Jahr nach Deutschland ein als ab, sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter dennoch von derzeit 47,8 Millionen auf 43,8 Millionen im Jahre 2040, so die aktuelle Prognose des IAB.
Keine Blaupause
Das Problem: Es gibt keine Erfahrungen, keine Blaupause für eine Gesellschaft mit sinkender Erwerbsbevölkerung. Dabei werden sich auch linke Diskurse verändern müssen angesichts der neuen Situation. Denn mit den bekannten Feindbildern allein kommt man nicht weiter angesichts einer Gesellschaft, in der die Balance zwischen Jungen und Alten, zwischen EinzahlerInnen und LeistungsempfängerInnen, zwischen reich, auskömmlich, prekär und arm neu austariert werden muss.
In seinem Buch über „Japan – Abstieg in Würde“ beschreibt der Journalist Wieland Wagner, was sich auch hier verstärken könnte, wenn sich das Verhältnis von Alten zu Jungen weiter verschiebt. Viele Ältere gehen weiter arbeiten, manche Regionen veröden, während die Menschen in die gut versorgten Metropolen drängen. An Arbeitskräften für die Pflege mangelt es, und wer hochgebrechlich wird, ist mehr als bisher auf die Hilfe der Familie angewiesen.
Das ist so auf Deutschland nicht ganz übertragbar, weil wir mehr Einwanderung haben als Japan – aber ein paar Trends sind anzunehmen. So wird die Bedeutung der Pflege wachsen in den Sozialkassen. Der Pflegeversicherungsbeitrag von heute 3,05 Prozent des Bruttolohns wird weiter steigen müssen. Der Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 2,4 Prozent ab 2020 bleibt hingegen niedrig.
Jenseits der Rente
Es werden auch hierzulande mehr Ältere arbeiten. Die Erwerbstätigkeit von Menschen zwischen 60 und 64 Jahren hat sich in Deutschland rasant erhöht und liegt jetzt bei 60 Prozent in dieser Altersgruppe. Von den 65- bis 70-Jährigen arbeiten noch 17 Prozent. In Deutschland sind mehr Ältere erwerbstätig als in Frankreich, Österreich oder Holland. Laut IAB-Studien sind es nicht nur finanzielle Motive, warum Leute jenseits des Rentenalters noch arbeiten.
Doch in welchen Jobs kann man überhaupt durchhalten bis ins Alter? Aus dem Arbeitsschutz weiß man, dass man in Jobs mit mehr Handlungsspielraum und Kontrolle über die Belastungen leichter alt werden kann als in Tätigkeiten, wo man dem Stress und der Schichtarbeit nicht zu entrinnen vermag. Das ist der Grund, warum etwa viele AltenpflegerInnen ihre Arbeitszeit reduzieren und solcherart ihren Verschleiß mit niedrigem Einkommen und geringen Rentenansprüchen selbst bezahlen müssen.
Die personennahe Dienstleistung wird wichtiger, während die Produktion von Konsumgütern an Bedeutung verliert. Die Verteilungsfragen, die sich daraus ergeben, lassen sich aber nicht im Modus der früheren Arbeitskämpfe lösen, zumal es bei den personennahen Dienstleistungen nur geringe Produktivitätsgewinne durch Digitalisierung gibt.
Neue Verteilungsfragen
Die Verteilungsfragen werden immer Aushandlungsprozesse mit mehreren Akteuren sein: Beim Kampf um eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, um Verbesserungen der Personalschlüssel in Pflege und Kitas, um bessere Bedingungen im Versandhandel, da sitzen an der anderen Seite des Verhandlungstisches eben auch KundInnen, PatientInnen, Beitrags- und SteuerzahlerInnen.
Als vor Kurzem die Pflegelöhne stiegen, erhöhten sich dadurch die Eigenanteile der HeimbewohnerInnen, was Patientenschützer sofort beklagten und mehr Hilfe vom Staat forderten. Eine Debatte, inwieweit man für die Pflege auch privates Vermögen einsetzen muss oder nicht, folgte auf dem Fuße.
Der Auftrag an eine linke Politik muss künftig darin bestehen, sich in solchen Aushandlungsprozessen glaubwürdig zu positionieren und auf Abgabenbereitschaft auch in den Mittelschichten zu bestehen. Das wird zunehmend unpopulär werden in einer alternden Erwerbsgesellschaft, in der niemand von seinen Ansprüchen runter will. Geschenke gibt es nicht zu verteilen, sondern nur die Zugänge zu sichern zu Gesundheit, Pflege, Bildung. Im Unpopulären und Glaubwürdigen liegt der Auftrag des Politischen für die Zukunft.
Wir alle sitzen in der Zeitmaschine, und der Vergleich, wie anders die Sozialdebatten vor 20 Jahren verliefen, beschert uns die Erkenntnis: Sozialdebatten verwandeln sich, mehr als wir uns heute vorstellen können. Darin liegt eine Hoffnung. Und eine Warnung zugleich.
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