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Antisemitismus in FrankreichWelche Linke wollt ihr?

In Frankreich warnen Intellektuelle vor einigen Kräften im neuen Linksbündnis Nouveau Front populaire und haben einen offenen Brief verfasst.

Mélenchon, Gründer der linken Partei La France Insoumise (LFI), auf der Place Stalingrad am Sonntag, 7. Juli 2024 Foto: Thomas Padilla

Didier Eribon war gerührt, als auf der Pariser Place de la Bataille-de-Stalingrad das alte Arbeiterlied „Ma France“ des Kommunisten Jean Ferrat erklang. Jean-Luc Mélenchons La France insoumise (LFI) hatte dorthin zur Wahlparty geladen. Le Pens Rassemblement National war vom neuen Linksbündnis verhindert worden – das war die erleichternde Nachricht, da konnte schon ein wenig Pathos aufkommen.

Der Chansonnier Jean Ferrat war elf Jahre alt, als sein jüdischer Vater, der vor russischen Judenpogromen nach Frankreich geflüchtet war, verschleppt und schließlich in ­Auschwitz ermordet wurde. Der kleine Jean überlebte nur dank kommunistischer Widerstandskämpfer, die ihn versteckten, bevor seine Mutter mit ihm fliehen konnte.

Jean-Luc Mélenchon geriert sich selbst gerne als potenzielles Opfer von Faschisten. Das soll das rote Dreieck, das er häufig an seinem Revers trägt, wohl ausdrücken, während er und viele seiner Mitstreiter die Solidarität mit Juden und Jüdinnen längst aufgekündigt zu haben scheinen.

Den jüdischen Dachverband CRIF nannte er eine „aggressive Gemeinschaft, die den Rest des Landes belehren will“. Einer seiner Genossen fand, dass die Vergewaltigung eines jüdischen Mädchens in Courbevoie zu sehr in den Medien thematisiert wurde. Und Rima Hassan, die man oft an Mélenchons Seite sieht, verkündete, der jüdische Staat ließe palästinensische Gefangene von Hunden vergewaltigen und stähle ihre Organe.

Antisemitismus der Gegenwart

An diese und weitere Ungeheuerlichkeiten aus den Reihen der LFI und anderer Parteien aus dem neuen Linksbündnis erinnern nun 100 französische Intellektuelle in einem offenen Brief in Tribune Juive und fordern, den Nouveau Front populaire zu blockieren. Ob das eine gute Idee ist, darüber lässt sich streiten; nicht zu leugnen ist, dass LFI den antijüdischen Hass in Kauf nimmt.

Im offenen Brief spricht man gar von einer antijüdischen Wahlstrategie; unterschrieben haben ihn international bekannte Intellektuelle wie der Schriftsteller Boualem Sansal, der Historiker Georges Bensoussan, der Politologe Pierre-André ­Taguieff sowie Daniel Knoll, dessen alte Mutter, die nur knapp die Schoah überlebt hatte, 2018 in ihrer Wohnung von einem Nachbarn aus antisemitischen Motiven ermordet wurde.

„Es ist kein Verdienst, den Antisemitismus der Vergangenheit zu verurteilen, wenn man gegenüber dem Antisemitismus der Gegenwart nicht unerbittlich ist“, so die Unterzeichnenden.

Welche Affekte?

Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma zeigte kürzlich in einer brillanten Rede, die gerade in einem kleinen Band in der Hamburger Edition erschienen ist („ ‚Sagt, hab ich recht?‘ Drei Reden zur Gegenwart alter Probleme “), wie im Grunde stets „am Antisemitismus den Juden die Schuld“ gegeben wird.

Die Frage, ob jemand Antisemit ist oder ab wann Israelkritik Antisemitismus ist, verwirft er zugunsten der Frage, „welcher Argumentationsmuster sich eine bestimmte politische Agitation bedient, welche Affekte sie stimuliert“.

Welche Affekte stimulieren Mélenchon und seine Genossen und Genossinnen? Will man eine Linke, die antijüdische Ressentiments schürt oder dazu schweigt? Mit Hannah Arendt geantwortet: „Those who choose the lesser evil forget very quickly that they chose evil.“

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26 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • „Die Frage, ob jemand Antisemit ist oder ab wann Israelkritik Antisemitismus ist, verwirft er zugunsten der Frage, „welcher Argumentationsmuster sich eine bestimmte politische Agitation bedient, welche Affekte sie stimuliert“.“

    Die Frage, wann etwas antisemitisch ist, wird ja gerade durch das Argumentationsmuster beantwortet.



    z.B. kann ich die Information, dass in Gaza Tausende von Kindern und Jugendliche getötet wurden, a) als neutrale Meldung darstellen: Laut UNO wurden bis jetzt xxx Tausende Kinder und Jugendliche durch die israelische Armee getötet.



    b) oder ich verbinde sie mit einer Unterstellung: xxx Tausend tote Kinder: „Juden Kindermörder „, wodurch sie antisemitisch wird.



    Die Meldung a) löst bei einigen den Affekt Abscheu gegen den Staat Israel aus, wäre das für Reetmsa jetzt antisemitische Israelkritik? Die Affektstimulation ist mir zu schwammig als Indikator für Antisemitismus.

  • FOCUS 15.07.2024



    Gespräche auf Eis gelegt - Schon kurz nach der Wahl implodiert das Linksbündnis in Frankreich

    Die Regierungsbildung in Frankreich stockt. Denn die Linkspartei hat die Gespräche mit den Sozialisten vorerst ausgesetzt und pocht auf die Einigung auf gemeinsame Kandidaturen für Spitzenposten im Parlament.

  • Interessant. Besser politische Kultur und Verringerung der sozialen Ungleichheit ja bitte - klar geht das ohne Antisemitismus.

  • Es werden 3 Vorfälle aufgezählt, um vor der ganzen LFI zu warnen. 1) Melenchon bezeichnet den CRIf als aggressiv und belehrend. Das ist per se nicht antisemitisch. 2) Ein nicht genannter Genosse fand, die Vergewaltigung eines jüdischen Mädchen wurde zu sehr medialisiert. Das kann, kann aber auch nicht antisemitisch sein. Die Überprüfung der Aussage ist nicht möglich, da der Kontext nicht bekannt ist. 3) Rima Hassans Tweet ist eindeutig antisemitisch. Aber allein dadurch, dass man sie mit Melenchon sieht, bedeutet nicht, dass er ihre Meinung teilt. Aus diesen 3 Beispielen einen generellen Antisemitismus unter den französischen Linken abzuleiten, finde ich nicht gerechtfertigt. Man erfährt auch nicht, wie diese Aussagen innerhalb der Linken aufgenommen wurden: wurde Rima Hassan eventuell dafür kritisiert?

  • Und täglich grüßt das Hufeisen...

  • Ein sehr wichtiger Kommentar , danke !



    Melenchon und Genossen schaden Frankreich indem sie Antisemitismus schüren, Hass verbreiten und die "Neue Volksfront" schon jetzt aus dem Spiel um Teilhabe an der Macht in Frankreich bringen !



    Linker Faschismus ist auch Faschismus !

    • @Barthelmes Peter:

      Wie schon bei Corbyn wird das Thema betont und "zufällig" auch gleich völlig nachvollziehbare Kritik an Kapitalismus und linke Politik mit zu desavouieren versucht. Oder die Anwendung des Völkerrechts und der UN-Resolutionen im Nahen Osten.



      Das als Trick sollte nicht einreißen.

      Und zugleich lasst uns gegen Antisemitismus in Wort und Tat von welcher Seite auch immer ebenso unser Nein ertönen lassen.

  • Also, Israelkritik wird noch mal als Antisemitismus dargestellt.

    • @Bescheidener Kunsthandwerker:

      Zum gefühlt hundertsten Mal: allein, dass es den stehenden Begriff "Israelkritik", im Gegensatz zu Russlandkritik oder Dänemarkkritik oder Brasilienkritik, ist schon ein Indiz für strukturellen Antisemitismus.

    • @Bescheidener Kunsthandwerker:

      Das kann ja auch mal so sein. Und dann halten wir auch dagegen.

      Oft aber ist es ein Selbstschutzversuch mit allen Registern. Netanyahu versucht, so mein Eindruck gerade, damit, sich vor dem Völkerrecht zu schützen, das aber universal für alle gilt. Die wichtige Sorge vor Antisemitismus so fürs Persönliche zu missbrauchen empfinde ich als infam.

    • @Bescheidener Kunsthandwerker:

      Wo genau steht das in diesem Artikel?



      Find's nicht.



      Was ich finde ist, dass Linke Wortführer antijüdische Ressentiments schüren. Und DAS ist Antisemitismus.

      • @Spider J.:

        In diesem Artikel wurde 1 einziger Vorfall beschrieben, der eindeutig antijüdische Ressentiments schürt: Rima Hassans Tweet. Das ist ein bißchen wenig, um linken Wortfühern Antisemitismus zu attestieren.

    • @Bescheidener Kunsthandwerker:

      Was genau bei den im Artikel beschriebenen antisemitischen Vorgängen ist denn Ihrem Verständnis nach bloß "Israelkritik"?

  • Das rote Dreieck ist bekanntlich Teil der palästinensischen Flagge.



    Wer es mit den Winkeln verwechselt, findet eine Darstellung von denen rasch im lokalen Geschichtsmuseum oder im Netz.



    Wer anderes in Artikeln schreibt, hat nicht nur Recherche unterlassen, sondern auch zu schnell oder mit bewusster Schlagseite geschrieben.

    Werden hier einer dort denkbaren linken Politik alle möglichen Knüppel zwischen die Beine geworfen, damit alles so reichenfreundlich bleiben soll?



    Vermutlich.

    Sollte man unabhängig davon möglichen Antisemitismus im Keime angehen? Auch das. Man findet ihn übrigens bei der Kreidewölfin LePen und ihren Chargen am ehesten.

    Was auch hilft: mit der engen Vermengung von israelischer Regierung und Judentum aufzuhören. Das tun nur zwei: die Hamas und Netanyahus Regierungsseite, aus jeweils selbstsüchtigen Gründen.

    • @Janix:

      Wir müssen uns jetzt aber auch nicht künstlich dumm stellen und den Bagatellisierungsversuchen israelfeindlicher Aktivisten auf den Leim gehen:

      "Die Hamas nutze das Symbol seit Oktober, um »Drohungen auszusprechen oder potenzielle Anschlagsorte zu markieren«, sagt der Extremismus-Experte Armin Pfahl-Traughber dem SPIEGEL. Pfahl-Traughber hat bereits zur Hamas publiziert, unter anderem bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Auch der Nahostwissenschaftler Tom Khaled Würdemann erklärte im ZDF , die Hamas nutze das Symbol in ihren Propagandavideos, um »ihre Feinde zu markieren«. www.spiegel.de/pan...-a056-307034f2ee72

      • @Schalamow:

        Danke für die Ergänzung, ich habe mir den Artikel durchgelesen. Er zählt beide Möglichkeiten auf.



        Bin ich übrigens der einzige, der da auch an 2. Mose, Kap 12 denkt?



        "Und wenn er das Blut sehen wird an der Oberschwelle und den zwei Pfosten, wird er an der Tür vorübergehen und den Verderber nicht in eure Häuser kommen lassen"



        Also: das Zeichen _schützt die Erstgeborenen

        • @Janix:

          In Berlin wurde das rote Dreieck bei Wandschmierereien regelmäßig im Zusammenhang mit "anti-zionistischen" Drohungen verwendet!

  • „Es ist kein Verdienst, den Antisemitismus der Vergangenheit zu verurteilen, wenn man gegenüber dem Antisemitismus der Gegenwart nicht unerbittlich ist“, so die Unterzeichnenden.

    Diese Aussage sage ist so simpel wie vollkommen zutreffend. Angesichts der zur neuen Normalität gewordenen antisemitischen Hetze auch auf unseren Straßen würde ich mir wünschen unsere Politik würde sich diesen Satz endlich zu Herzen nehmen und entsprechend handeln statt sich in Sonntagsreden regelmäßig wohlfeil zur Schuld und Verantwortung zu bekennen und gleichzeitig den neuen Mob auf unseren Straßen gewähren zu lassen. Allein ich fürchte es wird ein frommer Wunsch bleiben, denn es herrscht eine allgemeine Blindheit gegenüber Antisemitismus wenn er von links oder aus migrantischen Milieus kommt. Es ist ein beschämendes Trauerspiel.

  • Danke, nach diesem Artikel versteht man, warum die Klarsfelds den RN gewählt haben.

    • @rero:

      Klassische Wahl zwischen Pest und Cholera.

    • @rero:

      Sie vielleicht, wenn sie die sowieso gerne hatten (ist das so?).



      Und wenn Sie übersahen, welche abwertenden, antiuniversalistischen Kräfte sich bei den LePenern tummeln und auch äußern.



      Den einen lautstarken Anti-Menschismus durch einen anderen ersetzen ist keinen Deut besser. Und angebliche "Israelfreunde" insgeheim mindestens genauso antisemitisch geblieben.

      • @Janix:

        Sie meinen, ob ich den RN gerne hatte? Nein.

        Oder beziehen Sie sich auf die Klarsfelds?

        Die tun mir hauptsächlich leid. Von dem, wofür sie sich eingesetzt haben, ist nur ein Scherbenhaufen geblieben.

        Ich denke, beiden ist bewusst, dass der RN nicht die geniale Lösung ist.

        Sie haben Angst. Ich fand, dass wurde auch bei dem Interview deutlich.

        Es geht nur um die Prognose, wer für sie weniger schlimm werden könnte.

        Wenn Antifaschisten offen agierende Rechtsextreme wählen, ist das ein Hinweis auf schlechte Zeiten.

        Es geht ihnen offensichtlich nur noch um Schutz und Sicherheit.

        Ich befürchte übrigens, dass die Zeiten in nächster Zeit nicht besser werden.

        Nicht in Frankreich, nicht hier.

        Gestatten Sie mir die Frage, wie alt ungefähr Sie sind?

      • @Janix:

        Sie sagen wahre Worte, aber vH wenn Sie sich wahrscheinlich nicht so meinen. Es ist doch die neue, radikale Linke die unter dem Deckmantel eines diffusen Antikolonialismus bereit Israel und die Juden ohne mit der Wimper zu Zucken zu Opfern. Es wird immer wieder gerne verdrängt, aber der linken Ideologien sind mehr Menschen zum Opfer gefallen als dem Faschismus. Dadurch wird letzterer keinen Deut besser, aber das Geschwätz von den ach so guten Linken, kommunistischen Ideologien ist schlicht nicht haltbar. Aber klar, da heißt es dann immer schnell die entsprechenden Regime von Stalin über Mao bis Pol Pot seien eben keine wirklichen Kommunisten gewesen.

        • @Fran Zose:

          Können wir mal von Ihrem Rechts-Links wieder zu Pro-Völkerrecht und Nicht-Pro-Völkerrecht zurück?



          Rechts wäre nach einer häufigen Eingrenzung konservativ, Ungleichheit. Links progressiv, Gleichheit.



          Beides kann manchmal hilfreich sein.

          Links ist häufiger universalistisch-verallgemeinerbar unterwegs. Das wäre der einzige Anhaltspunkt, dass man nicht nur für ein bestimmtes Land ist, sondern für Prinzipien wie gleiche Rechte, Völkerrecht, Menschenrechte, Religionsfreiheit und Nichtreligions-Freiheit, ... das lässt sich aber auch aus sauberem Liberalismus ableiten.

          • @Janix:

            Nun, in Theorie mag ihre Beschreibung von links zutreffend sein, in der Praxis sieht es mit der Umsetzung da ganz anders aus; auch wenn das für Linke oft schwer einzugestehen ist. Und auch was uns von links gerne als vermeintlich progressiv verkauft wird ist oft nur alter Wein in neuen Schläuchen. Aktuelles Beispiel antikolonialistisch verbrämte Israel- und Judenhass. Und auch Identitätspolitik hat nicht nur vom Namen her eine Nähe zu den Identitären, stellen doch beide auf Herkunft und Zugehörigkeit ab. Was daran progressiv sein soll leuchtet mir nicht ein.

            Auf den Liberalismus können wir uns gerne einigen, auf diesen treffen die von Ihnen im letzten Absatz beschriebenen Prinzipien am ehesten zu.

  • Ein sehr kluger Text. Und er spiegelt meine Angst wieder, wenn ich in Pariser linken Kreisen unterwegs bin. Vielen Dank