Anschlag in Solingen: Ein Anschlag auf die Vielfalt
Nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen kämpft die Stadt mit den Folgen: Wachsende Unsicherheit und Instrumentalisierung von rechts.
Am Freitag waren Hunderte Menschen in der Innenstadt versammelt, um das 650-jährige Jubiläum ihrer Stadt zu feiern. Während eines Bandauftritts am Fronhof ging ein Mann mit einem Messer auf die Feiernden los und stach wahllos auf sie ein. Er tötete drei Menschen und verletzte acht weitere, fünf davon schwer. Sofort nach der Tat ergriff er die Flucht und warf die Tatwaffe in einen Mülleimer.
Suzan Köcher ist mit ihrer Band mitten in ihrem Auftritt, als sie bemerkt, wie die Stimmung kippt. Der taz und anderen Medien hat sie ein Statement geschickt: „Wir hatten gerade die letzte Note unseres vorletzten Songs gespielt, da ist mir plötzlich aufgefallen, dass die Leute fluchtartig den Platz verlassen.“
Als sie Menschen schreien hört, sucht sie sich Schutz. „Wir wussten nicht, auf wen es der Angreifer abgesehen hat und ob es sich um ein Messer oder eine Schusswaffe handelt, weshalb ich mich so flach hingelegt habe, wie es geht. Von der Tat selbst habe ich nichts gesehen“, schreibt die Sängerin. „Ich bin unglaublich traurig. Wir haben mit unserem Publikum getanzt und uns treiben lassen. Sekunden später haben Menschen ihr Leben verloren und hunderte weitere Leben haben sich schlagartig verändert.“
In der Nacht auf Sonntag konnte die Polizei den mutmaßlichen Messerangreifer festnehmen: ein 26-jähriger Syrer, Issa al-H. Laut Ermittlungsbehörden stellte er sich einer Polizeistreife und gestand die Tat. Fast zeitgleich hatte die islamistische Terrorgruppe „Islamischer Staat“ die Messertat für sich reklamiert. Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. Gegen der Syrer wurde ein Haftbefehl erlassen. Nach taz-Informationen hatten Sicherheitsbehörden zunächst keine Erkenntnisse, ob und wie Issa al-H. in direktem Kontakt zum IS stand. Die Terrorgruppe hatte erklärt, dass der Täter „ein Soldat des Islamischen Staates“ sei. Er habe die Tat „als Rache für die Muslime in Palästina und überall“ ausgeführt.
Angst vor „englischen Verhältnissen“
Erst im Mai hatte ein Messerangriff eines 25-jährigen Afghanen auf eine Kundgebung des Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger in Mannheim für Bestürzung gesorgt. Ein Polizist wurde dabei getötet. Vor gut einem Jahr hatte ein Islamist in Duisburg einen Mann mit einem Messer getötet und vier weitere verletzt. 2021 hatte ein 27-Jähriger in einem ICE in Bayern auf drei Menschen eingestochen, 2020 ein 20-Jähriger in Dresden einen Mann erstochen und seinen Partner verletzt. Auch diese Taten wurden als islamistisch eingestuft.
Laut Medienberichten soll Issa al-H. bei der Festnahme blutverschmierte Kleidung getragen haben. Nach taz-Informationen fiel er bisher nicht extremistisch auf. Der 26-jährige war Ende 2022 nach Deutschland gekommen und hatte als Syrer zunächst einen subsidiären Schutzstatus erhalten. Im vergangenen Jahr sollte er nach Bulgarien abgeschoben werden, wo er zuerst in der EU eingereist sein soll. Am Abschiebetermin konnte er aber nicht angetroffen werden. Zuerst hatte die Welt darüber berichtet. Das Fest in Solingen war kurz nach der Tat abgebrochen worden, in der Stadt herrschte Entsetzen.
Daniela Tobias von der Bürgerinitiative „Solingen ist Bunt statt Braun“ beobachtet, wie Menschen das Motto der Jubiläumsfeier nun zum Anlass nehmen, um den Anschlag politisch zu instrumentalisieren. „Schon wenige Minuten nach dem Anschlag kamen die ersten E-Mails bei uns an. Auf Begriffen wie Vielfalt oder Klingenstadt wurde sofort rumgeritten“, sagte Tobias der taz.
Für Sonntagabend (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) hat die Junge Alternative, die Jugendorganisation der AfD, unter dem Motto „Remigration rettet Leben“ eine Kundgebung auf dem Kirchplatz angemeldet. Dieser liegt unmittelbar in der Nähe des Tatorts und auch der Flüchtlingsunterkunft, in der der Täter lebte.
In der Zange
Eine antifaschistische Kundgebung ist deshalb zeitgleich zwischen der Flüchtlingsunterkunft und der rechten Demonstration geplant. „Wir wollen uns schützend vor die Unterkunft stellen“, sagt Daniela Tobias. die die Kundgebung mitorganisiert. Die Zivilgesellschaft in Solingen sei stark, sagt sie. Aber man habe auch die Bilder vom Brandanschlag 1993 im Kopf, bei dem fünf Menschen von Rechtsextremen ermordet wurden. „Wir haben Angst vor englischen Verhältnissen“, sagt Tobias mit Blick auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Großbritannien vor wenigen Wochen. Das Motto der antifaschistischen Demonstration trage deshalb den Namen: „Pogrome verhindern, bevor sie entstehen“.
Auch in den kommenden Tagen dürfte die Stimmung in Solingen angespannt bleiben. Für Montag hat der „Solinger Widerstand“ – ein Sammelbecken für Impfgegner und Rechtsextreme – mit Plakaten in der Stadt zu einer Demonstration aufgerufen.
In der Stadt herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. „Dieser Mensch, der das getan hat, hat sich gegen Vielfalt gerichtet“, sagt Tobias. „Jetzt werden wir von zwei Seiten in die Zange genommen.“
Es ist diese Unsicherheit, die auch den Pfarrer Thomas Förster von der evangelischen Kirche bewegt. „Viele Menschen können noch gar nicht wirklich sortieren, was passiert ist“, sagte er der taz. Die Kirche hat nach dem Anschlag eine Notfallseelsorge für die Betroffenen des Anschlags eingerichtet.
Durch den Nebeneingang in die Kirche
Am Sonntagmorgen fand in der Stadtkirche ein Trauergottesdienst statt, sie grenzt direkt an den Tatort. Wegen der Absperrungen mussten die Trauernden die Kirche durch einen Nebeneingang betreten. Die Kirche war voll, einige Dutzend der etwa 700 Trauernden mussten stehen. Am Samstagabend kamen bereits 1.500 Menschen zu einer Gedenkveranstaltung auf dem Neumarkt zusammen.
Förster sagt, es sei „bitter, dass Menschen diese schreckliche Tat nun instrumentalisieren, um gegen Vielfalt zu sprechen“. Er hofft auf den Zusammenhalt seiner Mitbürger. „Ich wünsche mir, dass wir das als Stadt gemeinsam durchstehen“, sagt der Pfarrer.
Einen Bericht über die rechten Demonstrationen und Gegendemonstrationen am Sonntagabend finden Sie hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe