Angst vor Rechtsradikalen: Rückkehr der Glatzen

Nicht erst seit Chemnitz sind Neonazis wieder sichtbarer und gewalttätiger. Das fällt selbst in Berlin auf – und erinnert an meine Kindheit.

Vier Glatzen von hinten

Waren sie jemals weg? Foto: ap

BERLIN taz | Etwa 1996, Erfurt: Wir sind in ein Neubaugebiet gezogen. Ein Ensemble beiger Hässlichkeit und türkiser Balkons. Wir Kinder finden es super. Es gibt einen Spielplatz, Bänke, Rasen, im Sommer spielen wir alle im gemeinsamen Hof. Bis auf diesen einen Abend: Auf einer Bank in der Mitte des Hofs sitzen drei Neonazis. Kurze Haare, grüne Bomberjacken. Sie grölen, zeigen den Hitlergruß.

Niemand sonst ist auf der Straße, im Hof oder auf einem Balkon. Ich bin zu Besuch bei meiner Freundin, gegenüber unserer Wohnung. Um nach Hause zu kommen, muss ich an den Nazis vorbei. Ich traue mich nicht, deswegen begleitet mich der Vater der Freundin. Wir laufen schweigend an den Nazis vorbei. Ich starre auf den Boden, laufe schnell. Einer von ihnen hat einen Gürtel in der Hand, lässt ihn durch die Luft schwingen wie ein Peitsche, schlägt mit ihm in unsere Richtung. Dann steht er auf, kommt uns hinterher. Wir klingeln an unserer Haustür. Es dauert etwas, bis meine Eltern aufmachen. Der Nazi steht hinter uns, atmet uns in den Nacken. Keiner sagt etwas. Endlich geht die Tür auf. Ich schlüpfe durch, fange an zu weinen. Oben macht mein Vater Fotos, versteckt, durch die Pflanzen auf der Fensterbank hindurch. Auf einem schaut einer der Nazis direkt in die Kamera, er macht einen Hitlergruß.

11. September 2018, Halle: 450 Menschen ziehen zu einer sogenannten Montagsdemo durch die Straßen. Mehrere zeigen den Hitlergruß, rufen „Sieg Heil“, bespucken Polizisten.

11. September 2018, Berlin: Bei einem Konzert der Schlagersängerin Helene Fischer werden zwei Männer aus der Mercedes-Benz-Arena geworfen. Einer der beiden zeigt anschließend den Hitlergruß.

11. September 2018, München-Schwabing: Bei einer Versammlung unter dem Motto „Keine Abschiebung nach Afghanistan“ zeigt ein am Rand stehender Besucher seinen Begleitern den Hitlergruß.

12. September 2018, Nordrhein-Westfalen: Der Staatsschutz übernimmt die Ermittlungen, nachdem auf einem bei Facebook veröffentlichtem Foto der Fußballmannschaft SC 1920 Myhl sieben Spieler den Hitlergruß zeigen.

Etwa 1994, Erfurt: Wir sitzen in der Straßenbahn, mein Bruder und meine Mutter auf einem Zweiersitz nebeneinander, ich dahinter. Ich bin etwa 8 Jahre alt. Am Fußballstadion steigt eine Gruppe Neonazis ein, kahlrasiert, Bomberjacke, in der Luft liegt Alkohol. Einer trägt eine große Trommel vor dem Bauch. Die Bahn fährt los, die Nazis fangen an zu grölen und zu trommeln. Es ist sehr laut. Was sie grölen, weiß ich nicht mehr, es ist bedrohlich. Kein anderer Mitfahrer spricht, alle schauen aus dem Fenster. An der nächsten Haltestelle steigen wir aus.

8. September 2018, Torgau bei Leipzig: Zehn kräftig gebaute, dunkel gekleidete junge Männer wühlen sich aggressiv durch eine volle S-Bahn, beschimpfen Mitreisende als „Zecken“, demolieren Sitze und verletzen Unbeteiligte. Augenzeugen berichten, man habe gemerkt, dass es für diese Leute „keine Hemmschwelle“ mehr gibt. Die Polizei wird gerufen, kommt aber erst nach 75 Minuten.

Etwa 1996–1998, Erfurt: Einmal in der Woche gehe ich nachmittags zur Musikschule. Vor der Schule stehen Bänke, auf denen sitzen Neonazis. Mal zwei, mal vier, mal sieben, jede Woche. Sie sitzen auf Bänken, trinken Bier, pöbeln, laufen Leuten hinterher. Manchmal haben sie ein Radio dabei, aus den Boxen scheppert grölender Nazirock. Ich bin zehn, elf, zwölf Jahre alt, Musikunterricht ist am Mittwoch. Jede Woche, spätestens ab Dienstagabend, denke ich: „Hoffentlich sind sie morgen nicht da.“

29. August 2018, Wismar: Drei Männer schlagen einen 20-jährigen Syrer mit einer Eisenkette zusammen und verletzen ihn schwer.

31. August 2018, Sondershausen (Thüringen): Vier Männer aus „dem rechten Spektrum“, wie die Polizei es nennt, greifen einen 33-jährigen Eritreer an und verletzen ihn schwer.

1. September 2018, bei Leipzig: Zwei Vermummte randalieren mit einem Baseballschläger und einem Billardqueue vor dem Haus in dem ein 31-jähriger Asylbewerber mit seiner Frau und den fünf Kindern lebt. Sie schlagen heftig gegen die Haustür, beschädigen sein Auto und rufen „Ausländer raus“. Es ist die zweite Attacke auf den Mann. Im Juli hatte ihm eine Gruppe Zwanzigjähriger beide Hände gebrochen.

6. September 2018, Sebnitz (Sachsen): Ein Mann greift einen 20-jährigen Syrer mit einer Eisenkette an und verletzt ihn am Kopf.

9. September 2018, Wiesloch bei Heidelberg: Sieben betrunkene Männer stürmen „Heil Hitler“ und „Scheiß Ausländer“ rufend auf eine Eisdiele zu und beginnen eine Massenschlägerei. Mehrere Menschen, auch unbeteiligte Frauen und Kinder, werden verletzt.

16. September 2018, Harz: Innerhalb weniger Stunden werden im Harz mehrere Geflüchtete angegriffen. Erst gehen in Hasselfelde zwei Männer auf einen 17-jährigen Afghanen los, schlagen und beleidigten ihn. Die Angreifer sollen Deutsche gewesen sein. Kurz darauf werden in Halberstadt drei Männer aus Somalia auf ihrem Heimweg von fünf Deutschen volksverhetzend beleidigt und geschlagen. Die drei Asylbewerber werden verletzt.

September 2018, Berlin: An einem Samstagabend fahre ich mit dem Rad durch Kreuzberg. Spätsommer, es ist warm, die Straßen sind voll. Am Görlitzer Park kommt mir eine Gruppe entgegen: drei männliche Neonazis, Bomberjacke, Springerstiefel, Thor-Steinar-T-Shirts, Glatzen, zwei Frauen mit kurz rasiertem Schädel und langem Pony. Sie sehen genau aus wie früher, in den 90ern. Wie die, die an jeder Ecke in Erfurt standen.

Seit Jahren habe ich dieses Outfit nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen, jetzt ist es wieder da. Spaziert in Gruppenstärke durch Kreuzberg. Wie eine Provokation. Eine Warnung. Kurz bleibt mir die Luft weg, mein Herz rast. Da ist es wieder, dieses Gefühl aus meiner Kindheit. Auf den Boden gucken, Straßenseite wechseln, ausweichen. Ja nicht provozieren.

Ein paar Stunden später, es ist schon dunkel, laufe ich durch Berlin-Mitte. An der Ampel vor mir erkenne ich zwei Männer: Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel, Camouflagehosen.

September 2018: Das Bundesinnenministerium meldet, dass im ersten Halbjahr 2018 704 Angriffe auf Geflüchtete verübt wurden, 120 Menschen seien dabei verletzt worden. Opferberatungsstellen halten diese Zahlen noch für untertrieben. Bundesweit beobachten Opferverbände, dass rechte Übergriffe seit den Aufmärschen in Chemnitz gestiegen sind und brutaler werden. Allein in Chemnitz hat die Opferberatung RAA Sachsen seit dem 26. August 40 Fälle von Körperverletzung und Nötigung durch Rechte registriert. Im ganzen vergangenen Jahr waren es 20.

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