Angriff auf Israel: Das Ende der Sicherheit
Vier Jahre war Judith Poppe taz-Korrespondentin für Nahost. Nun ist sie mit der Familie nach Berlin geflohen. Eine politische und persönliche Bilanz.
Man kann sich an Sirenen gewöhnen. An das Heulen, das aus der Tiefe kommt, sich in die Höhe schraubt und dann dort verweilt. Selbst ich, die ich zu Panikreaktionen neige, konnte mich daran in den vergangenen vier Jahren, in denen ich als taz-Korrespondentin über Israel und die palästinensischen Gebiete berichtet habe, daran – irgendwie – gewöhnen.
Doch die Sirene, die uns vergangenen Samstagmorgen aus dem Bett geholt hat, wird sich in meinem Körper festschreiben. Das wusste ich noch nicht, als wir nach unserer Tochter griffen und in den Schutzbunker einige Hundert Meter entfernt liefen. Aber jetzt weiß ich es. Jetzt, da die Erinnerung an die Sirene mit neuem Wissen darüber angereichert ist, was in diesem Moment begonnen hat.
Vor drei Tagen sind wir in Berlin gelandet. Aber ich höre die Sirenen, wenn in der Wohnung unter uns eine Schleifmaschine angeworfen wird oder ein Motorrad startet. Normalerweise kündigen Sirenen Raketen an. Aber ich denke bei dem Sound an die Bilder, die kurz danach kamen: massakrierte Babys und Kinder, Vergewaltigungen, Geiselnahmen. Doch die Sirene taucht auch die Vergangenheit in ein anderes Licht. Denn retrospektiv wird immer klarer: Wir sind schon lange auf diesen Tag zugeschlittert.
Vor vier Jahren schrieb meine Vorgängerin Susanne Knaul ihren Abschiedstext. Sie wünschte mir, viele Texte über gute Entwicklungen schreiben zu können. Ich bin mir sicher, es war nicht zynisch gemeint. „Netanjahu führt dieses wunderbare Land systematisch in den Abgrund“, schrieb sie in demselben Text. Wie tief der Abgrund sein würde, dürfte sich Susanne damals noch nicht ausgemalt haben können.
Riesige Erschütterung
Um nicht missverstanden zu werden: Verantwortlich für die grauenvollen Massaker an unschuldigen Babys und Kindern, Frauen und Männern, für die Geiselnahmen und Vergewaltigungen ist einzig die Hamas, die radikalislamische Terrororganisation, die in IS-Manier im Süden Israels gewütet hat und in deren Händen nun über 100 Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Doch Netanjahu hat ermöglicht, dass es dazu kommt. So sieht es ein großer Teil der Israelis.
In unserem Wohnzimmer, das sich in den vergangenen Tagen in einen Treffpunkt für ausgeflogene Israelis verwandelt hat, hängen Freund*innen über einem Video, das gerade in den sozialen Medien kursiert. „Mein geliebter Bruder wurde ermordet von hasserfüllten Terroristen“, sagt ein Mann in dem Video mit erstickter Stimme auf der Beerdigung seines Bruder, eines Soldaten: „Aber diejenigen, die ihnen die Tür geöffnet haben, sind die israelische Regierung, vom Minister für nationale Sicherheit und seinen messianischen, unverantwortlichen Clown-Freunden […] bis hin zum Ministerpräsidenten, der alles zu tun scheint, um den Staat Israel zu zerschlagen.“
So wie der Bruder des toten Soldaten fühlen sich viele. Fast jede*r kennt jemanden, der getötet oder verschleppt wurde oder sich stunden- oder tagelang allein versteckt hat.
Etwa 150 Geiseln befinden sich jetzt im Gazastreifen. Die sozialen Medien laufen sich mit Aufrufen heiß, sie zu retten. Gefangenenaustausch jetzt! Heißt es dort. Derzeit laufen wohl geheime Verhandlungen, doch Israel bombardiert Gaza, als gäbe es dort keine israelischen Geiseln.
Die Erschütterung über das Versagen von Militär und Geheimdienst ist riesig.
Drei Tage vor dem Samstag, an dessen Morgen die Sirene losging, soll ein ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter Netanjahu gewarnt haben, dass „etwas Großes“ passieren solle. Den Berichten zufolge seien die ägyptischen Sicherheitsbeamten schockiert über Netanjahus Gleichgültigkeit angesichts der Nachricht gewesen sein. Das Militär sei in den Problemen im Westjordanland untergetaucht, soll er erwidert haben. „Sie mussten all die verrückten Siedler schützen“, sagt eine Freundin leise in unserem Wohnzimmer: „Und Netanjahu hat doch die Hamas groß gemacht.“
Jahrelang ging es Netanjahu und seinen Regierungen darum, den Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas im Westjordanland daran zu hindern, Fortschritte bei der Gründung eines palästinensischen Staates zu machen, die Spaltung zwischen Gazastreifen und Westjordanland zu vergrößern. Geld aus Katar kam als Bargeld in Koffern in den Gazastreifen, ein Versuch der Netanjahu-Regierungen, die Zeiträume brüchiger Waffenstillstände möglichst lang zu halten.
Den Konflikt verwalten, lautete die Strategie der rechten Netanjahu-Regierungen. Und die Menschen glaubten ihm, dass dies der Weg war, ihnen Sicherheit zu bringen. Doch selbst diejenigen, die daran harsche Kritik übten, die Besatzung kritisierten und für Gespräche mit den Palästinenser*innen waren, richteten sich in einer zwar prekären, aber vermeintlich doch irgendwie existierenden Sicherheit ein.
Die Lichter aus Syrien
Als ich im Herbst 2019 mit meinem israelischen Partner und unserer kleinen Tochter als Korrespondentin nach Tel Aviv zog, wiegte auch ich mich in dem Gefühl relativer Sicherheit. Ich brachte unsere Tochter in den Waldkindergarten, tippte mir in den Tel Aviver Cafés meine Finger über die wiederholten israelischen Wahlen wund, fragte in Ramallah nach der palästinensischen Perspektive auf die Normalisierungsabkommen arabischer Staaten mit Israel.
Manchmal fuhren wir in den Norden Israels, sprangen in den Jordan und blickten abends auf die Lichter, die von Syrien und Libanon herüberschienen. 2021 gab es gar einen Hoffnungsschimmer auf ein wenig Veränderung: Die breite Mitte-rechts-links-Regierung unter Beteiligung einer arabischen Partei wurde vereidigt. Doch alle wussten, dass sie zum Scheitern verurteilt war. Ein Jahr später zerbrach sie.
In unserem Wohnzimmer sind sich alle einig: „Wir wussten es. In dem Moment, in dem Netanjahu Ben Gvir zum Minister für innere Sicherheit gemacht hat, war abzusehen, dass es furchtbar endet.“ Dass die Netanjahu-Regierung jedoch das Land in ein solches Chaos stürzen würde, dass diese Ereignisse möglich wurden, das konnte sich niemand von uns vorstellen.
Die Sorge davor, dass alles in Flammen aufgeht, verfolgte mich bis in meine Träume. Wie so viele überlegten mein Partner und ich seitdem fast täglich, wo die rote Linie ist, die uns, sobald überschritten, dazu bringt, das Land zu verlassen. Wenn Ben Gvir eine Miliz kriegt, lautete mal eine. Wir haben die rote Linie vorbeiziehen lassen.
An der Grenze zum Libanon landete Anfang April hundert Meter von uns eine Rakete im Asphalt, während wir in einem Restaurant unter dem Tisch hockten, als könnte uns die Tischplatte ernsthaft vor einem Raketeneinschlag schützen. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall in Berlin getötet zu werden, ist größer als bei einem Anschlag oder durch eine Rakete in Israel, rechnete mir mein Partner vor. Wir blieben.
Die Nächte, bevor ich zur Recherche für eine Reportage über Siedlergewalt in das palästinensische Städtchen Huwara und in die anliegende Siedlung Yitzhar fuhr, schlief ich schlecht. Als hätte ich geahnt, dass eine Woche später eine großangelegte Militäroperation in Nablus elf palästinensische Opfer fordert, kurz darauf ein Palästinenser zwei jüdische Israelis in Huwara erschießt und in der darauffolgenden Nacht Horden von Siedlern – enge Verbündete der Ultrarechten unter den Regierungsvertreter*innen – pogromartig durch Huwara ziehen und Häuser und Autos in Flammen setzen. Allen ist klar: Sie genießen den Schutz der Regierung.
„Deutschen Journalist*innen ist im Westjordanland noch nie etwas passiert“, sagte eine Freundin und Kollegin von mir: „weder durch Siedler*innen noch durch Palästinenser*innen.“
Sie hat recht. Und doch haben die jüngsten Ereignisse gezeigt: Wer zu Panik neigt, hat nicht immer unrecht.
Wohin sollen wir zurückkehren?
Den zwei konfligierenden Narrativen stand ich schon immer hilflos gegenüber. Ich verstehe die Zionist*innen, die davon überzeugt sind, dass es nach den historischen Erfahrungen und auch weiterhin heute eine Heimstätte für Jüdinnen und Juden geben muss, und fühlte mit den Palästinenser*innen, die unter Besatzung leben, deren Alltagsroutine jederzeit durch das Schließen eines Checkpoints unterbrochen werden kann, deren Häuser mitten in der Nacht von Soldat*innen gestürmt werden. Deren Familien Land und Häuser im Krieg 1948 verloren und nie mehr zurückkehren konnten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es ist davon auszugehen, dass sich die beiden Narrative nur noch unversöhnlicher gegenüberstehen werden.
Was für ein Landstrich soll es sein, in den wir zurückkehren könnten? Keiner weiß es zu diesem Zeitpunkt, während sich Israel auf eine Bodenoffensive in Gaza vorbereitet, die einerseits wohl weitere zahlreiche israelische und palästinensische Opfer fordern wird und mit der sich auch die nächste humanitäre Katastrophe für die Palästinenser*innen des Gazastreifens abzeichnet. Während die vom Iran gelenkte, hochgerüstete Hisbollah unentschieden mit den Hufen scharrt und die USA mit zwei Flugzeugträgern drohen.
Möglicherweise wird es den Menschen, die zwischen Mittelmeer und Jordan leben, gelingen, irgendwann in irgendeine Form von Nahost-Normalität zurückzukehren. Ich kann es nicht mehr.
Hier also ist sie, die rote Linie. Draußen heult ein Motorrad an mir vorbei. Meiner Nachfolger*in wünsche ich viele Geschichten über gute Entwicklungen, und ich meine das genauso wenig zynisch wie vor vier Jahren Susanne Knaul.
Wie sehr mir der Landstrich ans Herz gewachsen ist, merke ich erst jetzt, da ich nicht zurückgehen werde. Bis auf Weiteres.
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