Alternative Leitungsmodelle am Theater: Weniger Druck, weniger Geschrei
Wie kann man die Macht der Allein-Intendanz brechen? Am Landestheater in Marburg gibt es seit 2018 die erste weibliche Doppelspitze.
Das Positive vorweg: Es hat sich etwas getan am Theater in puncto Gleichberechtigung und Leitungsstrukturen. Als sich Eva Lange und Carola Unser 2015 am Hessischen Landestheater in Marburg bewarben, um gemeinsam dessen Intendanz zu übernehmen, wurde ihnen von vielen Seiten abgeraten. „Macht das lieber durch die Hintertür – eine bewirbt sich und stellt die andere ein“, sei der Tipp gewesen, so Lange.
Denn politische Entscheider waren und sind noch immer skeptisch, wenn es nicht die eine Person gibt, die zur Rechenschaft gezogen werden kann. Was, wenn sich die Leitung zerstreitet? Wer ist Ansprechpartnerin im Tagesgeschäft? In einem langen Auswahlprozess setzte sich das Frauendoppel dann aber gegen 67 Mitstreitende durch und wurde 2018 die erste weibliche Doppelspitze an einem öffentlich finanzierten deutschen Theater.
Und das bedeutet auch: Die Kulturpolitik beginnt umzudenken. Nach den jüngsten öffentlich gewordenen Fällen von Machtmissbrauch, sexuellem Fehlverhalten und Rassismus an Theatern (Berliner Volksbühne und Düsseldorfer Schauspielhaus) wird es, das sagt auch der Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins, Marc Grandmontagne, bald als fortschrittlich gelten, Teams und Frauen zu berufen. Bislang werden nur gut 20 Prozent der deutschen Stadt- und Staatstheater von einer Frau geleitet und die Teamleitungen muss man mit der Lupe suchen.
Eva Lange und Carola Unser kennen sich von ihrer Arbeit an der Landesbühne Niedersachsen Nord. Lange war dort Oberspielleiterin, Unser leitete das Kinder- und Jugendtheater. Menschlich seien sie vollkommen verschieden, sagen sie – geeint habe sie die Vision eines neuen Stadttheaters. Ein antisexistisches, feministisches Theater, in dem alle Mitarbeitenden künstlerische Vorschläge einbringen können.
Bei Männern fördert man Schrägheit
An dem Frauen nicht dann mit Regiearbeiten „belohnt“ werden, wenn sie sich anpassen – sondern wenn sie verrückte Ideen verfolgen. Männer, so Lange, fördere man deutlich mehr in ihrer Schrägheit als Frauen. Auf dem Marburger Spielplan stehen nun zahlreiche Regisseurinnen und zeitgenössische Autorinnen.
Wichtig ist den Intendantinnen: keine Doppelmoral. „Die Werte, die wir auf der Bühne verhandeln, sollen auch hinter der Bühne gelten“, so Unser. Im Klartext: „Das Theater ist arschlochfreie Zone.“ Dieses Konzept brachte 2018 auch die Einführung gleicher Bezahlung von Männern und Frauen mit sich, die am Hessischen Landestheater bislang nicht galt. Außerdem familienfreundliche Arbeitszeiten, etwa den probenfreien Samstag.
Bemerkenswert ist, wie wenig öffentliche Beachtung diese erste weibliche Doppelspitze fand, die seit drei Jahren gut zu funktionieren scheint. Es mag an der Einstellung der Frauen liegen, „keine Tabula rasa“ machen zu wollen. Feminismus: unbedingt, sagen sie – „aber das heißt nicht, dass Doppel- und Dreierspitzen die einzige Lösung sind“.
Um ein Theater zu einem gleichberechtigten Ort zu machen, reiche es nicht, die Intendanz auszutauschen. Das komplette Haus und seine oft mehrere Hundert Mitarbeitenden müssen in die Prozesse einbezogen werden. Denn rassistisches, sexistisches, übergriffiges Verhalten gibt es selbstverständlich nicht nur an der Spitze. „Wir brauchen Coachings für alle, damit sich langfristig etwas ändert“, sagt Unser.
Cholerische Anfälle machen den Mann führungsstark
Und Lange erzählt, dass demokratisches Verhalten ohne cholerische Anfälle auf der Probe gern mal als Führungsschwäche ausgelegt werde. „Es ist aber nicht führungsschwach, wenn man nicht die Techniker zusammenschreit.“
Die Grundsatzfrage sei nicht, ob ein Mann, eine Frau oder ein Team Entscheidungen treffe, sondern wie viel Druck auf dem Betrieb laste. Immer mehr Produktionen werden in immer kürzerer Zeit und mit immer weniger Geld gefordert, so Unser. „Wir müssen die neoliberalen Arbeitsmodelle verändern.
Theater sollten keine Wirtschaftsbetriebe sein, sondern Kernzellen gesellschaftlicher Innovation. Dafür braucht es Bildung im Betrieb – und das braucht Zeit.“ Denn wo weniger Druck, ergänzt Lange, da auch weniger Geschrei.
Ein Blick in die Schweiz, wo zuletzt mehrere Leitungsteams berufen wurden. Ist man mit jenem der Schauspielsparte am Theater Basel verabredet, erscheinen gleich vier Menschen zum digitalen Gespräch: der Regisseur Antú Romero Nunes, der Schauspieler Jörg Pohl und die Dramaturginnen Anja Dirks und Inga Schonlau.
Prinzipiell werden alle gefragt
Sie fallen sich ins Wort, aber ergänzen sich auch, bringen verschiedene Sichtweisen ein. So soll es sein. Was nicht heißt, dass alle alles gemeinsam entscheiden. „Es gilt das Prinzip: Es werden alle gefragt, die Ahnung haben, und alle, die es betrifft“, sagt Nunes.
Auch diese vier sind angetreten, um anders Theater zu machen. Ihr Ensemble bezahlen sie paritätisch und nach Alter gestaffelt. Und wer sich in Entscheidungsprozesse einbringen will, kann das jederzeit tun. „Wir sind nicht mit einem institutionellen Veränderungswillen angetreten, sondern um unsere eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern“, so Pohl. „Wir glauben, dass dann womöglich bessere Kunst entsteht.“
Niemand meint zu wissen, wie es funktioniert. Doch alle sind froh, dass die Verantwortung auf mehreren Schultern ruht – denn die Aufgaben der Intendanz sind zuletzt immer mehr geworden: Repräsentation, Kunstauftrag, Mitarbeiterführung, Zuschauerbindung, Administration, Spielplangestaltung.
In Zürich wird das Schauspielhaus von einer männlichen Doppelspitze geleitet. Der Dramaturg Benjamin von Blomberg und der Regisseur Nicolas Stemann haben zudem acht Regisseurinnen für drei Jahre ans Haus gebunden, die ihren Lebensmittelpunkt nach Zürich verlegen mussten.
Keine jetsettenden Künstler*innen
Also: keine jetsettenden Künstler, die mal eben eine Inszenierung abwerfen, sondern acht, die Verantwortung fürs Programm übernehmen und ihre Schauspielteams mitgebracht haben. Für die bedeutet das: weniger Angst, dass der Vertrag nach einem Jahr nicht verlängert wird. Das verbessert die Arbeitsatmosphäre, erlaubt langfristigere künstlerische Entwicklungen.
Auch die beiden Männer sind froh, nicht alle Entscheidungen allein treffen zu müssen: „Ich weiß gar nicht, wie man den Intendantenjob alleine schaffen und trotzdem Künstler bleiben kann“, sagt Stemann. Letztlich, so Blomberg, sei bei der Umstrukturierung eines Hauses aber immer die Politik gefragt: „Wir brauchen eine Politik, die anerkennt, dass sich eine Institution auf den Weg macht. Die nicht nur an die Auslastungszahlen denkt.“
Zurück nach Deutschland: In Berlin wird kein einziges der großen Häuser von mehr als einer Person geführt. Ungewöhnlich ist aber das Theaterhaus Jena. Hier hat die kollektive Leitung Tradition: Seit 30 Jahren wählen die „Gesellschafter“, zu denen 50 Prozent Mitarbeitende gehören, die Chefs – die Kulturpolitik braucht die Entscheidung im besten Fall nur abzunicken.
Seit 2018 wird das Haus vom niederländischen Schauspielkollektiv „Wunderbaum“ geführt und Experimente sind kulturpolitisch ausdrücklich erwünscht. „Der Auftrag ist klar: Das Theaterhaus, das ist der Haufen, der ausprobieren darf“, sagt die Geschäftsführerin Heike Faude.
Was braucht es also, damit die Kulturpolitik den Theatern mehr Spielräume für Veränderungsprozesse einräumt, statt nur positive Presse und gute Auslastungszahlen zu fordern? Mehr Mut, sagt Grandmontagne vom Deutschen Bühnenvereins. „Die Politik muss sich trauen, von den bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Denn das Theater ist eben auch ein Arbeitsort, nicht nur ein heiliger Ort der Kunst.“
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