Aktivist über deutschen Antiziganismus: „Wir haben keine Lobby“
Vor 85 Jahren wurden die Nürnberger Gesetze erlassen. Bis heute werden Sinti und Roma in Deutschland diskriminiert. Erich Schneeberger kämpft dagegen.
taz: Herr Schneeberger, gibt man in eine Internetsuchmaschine den Begriff „Sinti“ ein, erhält man fast nur Treffer für die Kombination „Sinti und Roma“. Sind die beiden Gruppen tatsächlich so untrennbar?
Erich Schneeberger: Nein. Ich selbst gehöre der Gruppe der Sinti an, und wir haben uns nie als Roma bezeichnet. Uns Sinti gibt es vor allem in Westeuropa, die Roma sind mehr im Osten zu Hause. Im deutschsprachigen Raum leben wir Sinti seit fast 700 Jahren. Natürlich ist da sehr viel von der hiesigen Kultur an uns hängengeblieben.
1950 in Stuttgart geboren und in Nürnberg aufgewachsen, ist ausgebildeter Kaufmann und seit 1998 der Vorsitzende des bayrischen Landesverbands der deutschen Sinti und Roma.
Was macht einen Sinto denn zum Sinto?
Zunächst ist da die Sprache, Romanes. Sie ist das wichtigste Bindeglied in unserer kulturellen Identität. Romanes stammt aus dem Sanskrit und ist die älteste indogermanische Sprache, die noch in Mitteleuropa gesprochen wird. Es wird allerdings nur mündlich weitergegeben, es gibt keine Schriftsprache. Dann gibt es aber auch eine für Sinti typische Lebensweise. Dazu gehört der besondere Zusammenhalt der Familie und der Respekt vor dem Alter. Auch wenn das inzwischen etwas nachlässt.
Sinti und Roma sind neben Friesen, Dänen und Sorben gemeinsam die vierte nationale Minderheit in Deutschland – wo es doch eigentlich zwei verschiedene Minderheiten sind.
Ja, das stört uns auch, und als Sinti wollen nicht mit Gruppen aus Rumänien oder Bulgarien in einen Topf geworfen werden. Aber ich habe mich inzwischen fast daran gewöhnt, dass wir immer als eine Einheit wahrgenommen werden. Natürlich gibt es auch einiges, was wir gemeinsam haben. Beide Gruppen haben ihre Wurzeln in Indien. Vor allem aber ist uns die Verfolgung im Dritten Reich gemein. Die Nazis haben keinen Unterschied zwischen Sinti und Roma gemacht. Für die waren das alles „Zigeuner“.
Und damit Ziel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Auch Ihre Eltern waren in Auschwitz.
Mein Vater ist mit gerade mal 17 Jahren als sogenannter Arbeitsscheuer verhaftet worden – absurderweise an seiner Arbeitsstelle. Bei meiner Mutter war es genauso. Und dann kamen sie direkt nach Auschwitz. Im März 1943 war das. Dass sie überhaupt überlebt haben, war ein Wunder. Fast alle meiner übrigen Verwandten, meine Großeltern, die meisten Tanten und Onkel sind ermordet worden. Meine Eltern hat es dann nach der Befreiung nach Stuttgart verschlagen, wo sie sich kennengelernt haben. Dort bin ich auch geboren.
Haben Ihre Eltern mit Ihnen über das Erlebte gesprochen?
Ja, das war immer ein Thema bei uns. Vor allem mein Vater hat viel erzählt. Nur die allerschlimmsten Erlebnisse, die hat er ausgelassen. Aber beispielsweise hat er erzählt, wie sie sich in Auschwitz immer bei der größten Kälte nackt aufstellen mussten – was gerade für Sinti, die sehr schamhaft sind, besonders schlimm war. Diese SS-Schergen haben schon gewusst, wie sie die Menschen erniedrigen und demoralisieren. Weihnachten war bei uns nie ein Fest der Freude, sondern ein Fest der Tränen. Die Eltern haben geweint, haben Kerzen für die toten Verwandten angezündet.
Vor genau 85 Jahren haben die Nazis hier in Ihrer Heimatstadt Nürnberg ihre Rassenideologie in Gesetzesform gegossen und die Nürnberger Rassengesetze verabschiedet. Und heute? Plakatiert die NPD: „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma.“ Und laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes stoßen Sinti und Roma auf mehr Ablehnung als jede andere Gruppe in Deutschland.
Das liegt daran, dass man uns nicht kennt. Wer persönlich Sinti kennt, hat diese Ressentiments in der Regel nicht. Die Sinti leben unerkannt in den Großstädten, in den Hochhäusern, die fallen ja gar nicht als andersartig auf. Sieht man aber im Fernsehen Beiträge über Roma, die in Rumänien in den elendsten Slums leben, und projiziert diese Lebensumstände auf die Menschen hier, dann entstehen total verzerrte Bilder – und eben diese Ressentiments. Um sie abzubauen, wollen wir deshalb die Gleichheit herausstellen. Dass die Leute sehen: Menschenskinder, die sind ja gar nicht anders als wir.
Aber selbst wenn sie nun anders wären – das würde doch auch keine Diskriminierung rechtfertigen. Und die Roma in Rumänien...
... können natürlich auch nichts dafür, dass sie in diesem Elend leben müssen. Ja, ich denke mir das oft. Aber die Mehrheitsgesellschaft braucht wohl immer Minderheiten, die sie an den Rand drücken und für die eigenen Fehler verantwortlich machen kann. Wenn jemand plakatiert „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“, sollte er sich mal Gedanken darüber machen, wie viele Sinti und Roma durch ihre Arbeit zum Bruttosozialprodukt beitragen. Das kommt solchen Rassisten aber natürlich gar nicht in den Sinn.
Die Rechtsextremen verbreiten immer unverhohlener ihre Hassbotschaften. Auch Gewalttaten nehmen wieder zu. Wie stark sind Sinti und Roma davon betroffen?
Die Nürnberger Rassengesetze wurden am 15. September 1935 erlassen. Sie waren die Grundlage für die Verfolgung und Diskriminierung von Juden und Jüdinnen in Deutschland. Ab Januar 1936 übertrug das NS-Regime die Maßnahmen auch auf die in Deutschland lebenden Sinti und Roma.
Eine halbe Million deutscher Sinti und Roma fielen den nationalsozialistischen Morden zum Opfer, rund 90 Prozent ihrer Bevölkerung in Deutschland. Heute leben nach Schätzungen noch rund 12.000 Sinti in Bayern. In Deutschland sind es etwa 50.000 Sinti und 20.000 deutsche Roma. Dazu kommen 130.000 bis 140.000 aus Osteuropa zugewanderte Roma.
Der Zentralrat deutscher Sinti und Roma vertritt die Interessen der Sinti und Roma als nationale Minderheit. In Fällen von Diskriminierung sollen sie sich auch für die eingewanderten Roma einsetzen. Vor zwei Jahren bekannte sich der Freistaat Bayern in einem Staatsvertrag zu der besonderen Verpflichtung zum Schutz der Minderheit der Sinti und Roma und zu ihrer Wertschätzung in Staat und Gesellschaft.
Die Situation ist für uns schon sehr beklemmend. Und da geht es jetzt nicht direkt um uns als nationale Minderheit. Aber wir sehen, wie die Angriffe auf unsere jüdischen Mitbürger gerade wieder zunehmen. Und es war immer schon so: Wenn man gegen die Juden vorgegangen ist, dann waren wir die nächste Gruppe. Die Leidtragenden sind heute zunächst die aus Osteuropa zugewanderten Roma. Dadurch, dass einige von ihnen in den Innenstädten betteln, sind sie das ideale Feindbild für diese Rassisten.
Erleben Sie selbst auch Diskriminierung?
Selbstverständlich. Ich sag’ Ihnen ein Beispiel: Ich hatte früher wie viele Sinti einen Campingwagen, ein wunderschönes Gefährt. Und mit dem wollte ich in Kochel am See auf den Campingplatz. Meine Frau, der man nicht ansieht, dass sie eine Sinteza ist, hat zuerst mit dem Pächter gesprochen, aber als er dann mich gesehen hat, hieß es sofort: „Um Gottes willen. Sinti kommen bei mir nicht auf den Campingplatz.“ Da hat ihm meine Frau gesagt: „Probieren Sie es doch mit uns! Sie werden sehen, Sie sind mit uns zufrieden.“ Schließlich hat er sich erweichen lassen. Und als wir dann nach 14 Tagen abgereist sind, hat er gemeint: „Herr Schneeberger, Sie können jederzeit wieder kommen, sie sind immer herzlich willkommen.“ Weil er mich kennengelernt hat. Verstehen Sie?
Ja, schon. Aber wie erniedrigend ist das denn – einen Rassisten „erweichen“ zu müssen?
Natürlich hat mir das weh getan. Aber so etwas passiert noch heute regelmäßig. Wir kriegen immer wieder Anrufe von Sinti, denen so etwas widerfährt. Ein anderes Beispiel: Wir wohnen seit 35 Jahren in unserer jetzigen Wohnung. Und da gibt es immer noch zwei, drei Familien in unserem Haus, die mich nicht grüßen. Die glauben, dass sie etwas Besseres sind – weil ich Sinto bin.
Auch der Antisemitismus hat in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen. Dem steht in Deutschland aber auch eine besonders große Sensibilität gegenüber. Gibt es die beim Antiziganismus auch?
Nein, die gibt es nicht. Weil wir in der Gesellschaft keine Lobby haben. Wenn ein jüdischer Mitbürger beleidigt oder verletzt wird, gibt das einen Aufschrei. Zurecht! Das ist aber bei uns nicht so. Oder hat man etwas davon gehört, dass Angehörige der Roma in Berlin niedergestochen worden sind? Oder dass bei dem Anschlag in Hanau drei Roma unter den Opfern waren? Oder dass der Attentäter vom Münchner OEZ auch einen Sinto und zwei Roma ermordet hat.
Aber diese Lobby, wie Sie es nennen, kommt ja aus der historischen Schuld heraus. Und die gibt es den Sinti und Roma gegenüber in gleicher Weise.
Das stimmt. Trotzdem ist der Völkermord an den Sinti und Roma nie so anerkannt worden wie der an den Juden. Daraus ergibt sich unserer Auftrag.
Und der heißt Aufklärungsarbeit?
Genau. Wissen schützt vor Rassismus. Zumindest ein bisschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen