Abschied von Hartz IV: Inflation frisst Bürgergeld
Mehr Weiterbildung, weniger Sanktionen: 2023 soll das Bürgergeld Hartz IV ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen Sozialverbände.
Heil bleibt ruhig und nickt. „Ich weiß, dass auch das neue Bürgergeld eine Grundsicherung ist, die ein Existenzminimum absichert – nicht mehr, aber auch nicht weniger“, antwortet er. Dann leitet er über zu all den Verbesserungen, die das neue Bürgergeld mitbringen soll: Weniger Bürokratie, mehr Weiterbildung, mehr Kooperation, weniger Sanktionen. „Der Geist des neuen Systems“ sei der der „Ermutigung und Befähigung“, erklärt Heil.
Am Mittwoch hat das Bundeskabinett die Einführung des neuen Bürgergelds beschlossen. Heils Gesetzentwurf wird nun im Bundestag beraten. Zum 1. Januar 2023 soll das heutige Hartz-IV-System abgelöst werden.
Für die Sozialdemokraten ist die Bürgergeldreform auch ein Stück weit politische Traumabewältigung, der endgültige Abschied von Hartz IV. Denn mit der Reform soll ein neuer Ansatz gelten: Weniger Härte und Sanktionen, dafür mehr Weiterbildungsmöglichkeiten und mehr Geld.
SPD lobt sich selbst für 53 Euro mehr
„Das neue Bürgergeld bietet Sicherheit und eröffnet Chancen“, twitterte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch. Es orientiere sich an der bevorstehenden Inflationsrate und sei weniger bürokratisch. „Zum 1. Januar lassen wir Hartz IV hinter uns“, schrieb der Kanzler. Auch Arbeitsminister Hubertus Heil lobte sich selbst: „Mit dem Bürgergeld stärken wir den Sozialstaat und bringen Menschen dauerhaft aus der Arbeitslosigkeit.“
Konkret sieht der Gesetzentwurf aus dem Arbeitsministerium Folgendes vor: Die Höhe der Sätze wird steigen. Ab 2023 soll der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene etwa von 449 Euro auf 502 Euro steigen – das sind 53 Euro mehr. Zudem soll künftig bei der jährlichen Anpassung der Regelsätze die Inflation schneller berücksichtigt werden. Bisher wird die Inflation nur sehr zeitverzögert berücksichtigt und kann tatsächliche Mehrbelastungen kaum ausgleichen.
Doch die grundsätzliche Berechnung des Existenzminimums bleibt unverändert: Die Regelsätze orientieren sich an den durchschnittlichen Ausgaben der Einkommensschwächsten – zudem werden Ausgaben für „nicht bedarfsrelevante Güter“, etwa Zigaretten oder Zimmerpflanzen, herausgerechnet. Diese Methode des Kleinrechnens steht seit Jahren in der Kritik.
Eine große Neuerung des Bürgergeldes ist jedoch die Abschaffung des sogenannten Vermittlungsvorrangs, der eine Arbeitsaufnahme höher wertet als Weiterbildung. In der Praxis bedeutet das oft, dass Menschen in schlecht bezahlte Aushilfsjobs gedrängt werden, anstatt die Chance zu bekommen, sich weiterzuqualifizieren. Nun soll ein Paradigmenwechsel her: So sieht das Bürgergeld ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro vor.
Zudem soll vieles unbürokratischer und nachsichtiger werden. Bürgergeld-Bezieher*innen sollen in den ersten zwei Jahren in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. In dieser Zeit dürfen auch Ersparnisse bis zu 60.000 Euro behalten werden, für jede weitere Person im Haushalt 30.000 Euro mehr. Diese Regelung wurde bereits während der Coronapandemie eingeführt und wird jetzt verstetigt. Doch auch nach diesen zwei Jahren dürfen Bürgergeldempfänger*innen mehr „Schonvermögen“ besitzen als bisher. Zudem sollen die Zuverdienstgrenzen erhöht werden.
Sanktionen bleiben
Was die Gemüter jedoch am meisten erregt, ist das Thema Sanktionen. Diese werden nach dem Gesetzentwurf zwar nicht abgeschafft, aber deutlich abgemildert. Im ersten halben Jahr des Bürgergeldbezugs – im Entwurf heißt es „Vertrauenszeit“– soll es keine Sanktionen geben, außer bei Terminversäumnis. Anschließend kann das Bürgergeld wieder um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Härtere Sanktionen für unter 25-Jährige werden hingegen abgeschafft. Erst vor Kurzem wurde eine Studie des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) vorgestellt, die zu dem Ergebnis kam, dass Sanktionen nicht nachhaltig in Arbeit bringen, sondern einschüchtern und krank machen können.
Während Sozialverbände die Sanktionen und vor allem zu niedrige Regelsätze kritisieren, polterte etwa der Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer, dass die Reform den Anreiz zu arbeiten mindere. Auch die Union kritisierte Fehlanreize – es ist der übliche Reflex, Geringverdiener*innen und Arbeitslose gegeneinander auszuspielen. „Das Bürgergeld sorgt dafür, dass Nichtarbeit deutlich attraktiver wird. Das ist eine Respektlosigkeit gegenüber den Arbeitslosen und den Steuerzahlern, die mit ihren Beiträgen das Solidarsystem finanzieren“, monierte etwa der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Stephan Stracke. Das bewege sich „in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens.“
Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, konterte die Kritik. Das Problem seien nicht erhöhte Regelsätze, sondern die geringe Bezahlung im Niedriglohnsektor: „Das ist eine deutliche Aufforderung an die, die niedrige Löhne bezahlen, dass sie besser bezahlen.“ Man könne nicht sagen, „der Hartz-IV-Regelsatz ist jetzt zu hoch und die Niedriglöhner haben keinen Abstand mehr.“
Grüne und FDP zeigten sich zufrieden. „Gerade jetzt in einer Krise ist das Signal klar: Wir lassen Menschen, die wenig haben, nicht allein“, sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann. Jens Teutrine, Sprecher für Bürgergeld der FDP-Fraktion, begrüßte ebenfalls das Reformvorhaben. Das Bürgergeld schaffe „mehr Fairness und Leistungsgerechtigkeit“. Ziel sei ein Sozialstaat, der „Chancen schafft, sich von der Abhängigkeit von Sozialleistungen zu befreien.“
Die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Jessica Tatti, zog ein gemischtes Fazit: „Es finden sich Licht und Schatten im Gesetzesentwurf, das Wichtigste aber fehlt: eine ehrliche Bemessung und Erhöhung der Regelsätze.“ Eine Abkehr von Hartz IV kann sie darin nicht erkennen. Tatti kritisierte „die miese Kleinrechnerei“ und forderte „einen ehrlich berechneten Regelsatz von 687 Euro.“
Die AfD demonstrierte mal wieder, dass sie nicht an der Seite der ärmeren Bevölkerungsschichten steht, anders als sie im Zuge der Energiekrise vielfach zuletzt behauptete: „Das Bürgergeld nimmt der arbeitenden Bevölkerung den Leistungswillen“, behauptete Fraktions-Vize Norbert Kleinwächter und vermischte seine sozialdarwinistische Meinung noch mit rassistischen Ressentiments: Man mache das Land „zum Fluchtpunkt von Wirtschaftsmigranten“, so Kleinwächter.
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