80 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto: Vergebliche Aufklärung
Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Szmuel Zygielbojm warnte da schon lange, dass die Nazis das Judentum vernichten wollten.
Das „Lied des Hasses“ stammt aus dem Jahre 1942. Darin heißt es: „Ist es mein Schicksal, der letzte Sänger einer ausgerotteten Gemeinde zu sein?“ Mit dieser Frage beginnt das Lied, das der Dichter Itzik Manger schrieb und das er dem polnischen Exilpolitiker Szmuel Zygielbojm widmete. Zygielbojm hatte als einer der Ersten eindringlich vor der Vernichtung des polnischen Judentums gewarnt.
Zygielbojm, der am 12. Mai 1943 Suizid beging, ist auch fast 80 Jahre nach seinem Tod in der polnischen Zivilgesellschaft präsent, sein Leben und Wirken sind Teil geschichtspolitischer Debatten. 2021 erschien „Śmierć Zygielbojma“ („Zygielbojms Tod“), der erste Spielfilm zu seinem Leben. In Deutschland ist Zygielbojms Wirken als Aufklärer und Ankläger deutscher Verbrechen so gut wie unbekannt.
Szmuel Zygielbojm wird 1895 in der Nähe von Chełm geboren. Ab seinem 10. Lebensjahr muss er durch Fabrikarbeit zum Unterhalt der Familie beitragen. Während des Ersten Weltkriegs schließt sich der junge Arbeiter dem marxistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund an, in dem er schnell aufsteigt.
Der Bund strebt einen demokratischen Sozialismus an. Im Vordergrund steht zudem der Kampf gegen Antisemitismus. Den Zionismus – die Vorstellung einer „Heimstätte Israel“ – lehnen die Bundisten entschieden ab, die Gleichberechtigung soll in Europa erkämpft werden. „Wir lassen uns nicht als ‚Fremde‘ behandeln!“ lautet Zygielbojms Losung.
Die Familie muss in Polen bleiben
Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, zieht Zygielbojm von Łódź in die polnische Hauptstadt. Während viele wichtige Politiker des Bundes in den ersten Tagen des Kriegs Warschau verlassen, organisiert er die Bildung jüdischer Arbeitermilizen zur Verteidigung der Stadt. Nach deren Besetzung muss der Bürgermeister den deutschen Besatzern zwölf Geiseln benennen. Eine der zwei jüdischen Geiseln ist Zygielbojm.
Als Mitglied des ersten Judenrats spricht er sich bei Bekanntwerden der ersten Pläne öffentlich gegen die Errichtung eines jüdischen Ghettos aus, wodurch er sich in große Gefahr bringt. Auf Anraten seiner Genossen verlässt er Anfang 1940 sein Heimatland für immer. Nach kurzen Aufenthalten in Belgien und Frankreich erreicht er im Sommer 1940 die USA, während seine Familie in Polen bleiben muss.
„Lieber Papa, tu alles, was in deiner Macht steht, um uns zu retten! Lass dein Gewissen rein sein, dass du alles getan hast, was du hättest tun können“, fleht Zygielbojms Tochter Rywka ihren Vater 1941 in einem Brief aus dem Warschauer Ghetto an, wie der Historiker Michał Trębacz nachzeichnete. Zygielbojm beginnt bereits 1940 in Belgien als einer der ersten Augenzeugen, über den deutschen Terror in Polen zu informieren.
Angekommen in den USA, reist er durch das ganze Land, um über die Verbrechen aufzuklären. Politische Folgen soll dieser Einsatz genauso wenig haben wie der Versuch, Visa für seine Familie zu organisieren. Nur sein Sohn Josef wird schlussendlich den Holocaust überleben.
Augenzeuge des Terrors
Im April 1942 – der Kontakt zur Familie ist mittlerweile abgerissen – reist Zygielbojm nach London, um den Bund im Nationalrat der dort ansässigen polnischen Exilregierung zu vertreten. Hier steht er oft alleine mit seinen Positionen. So wird etwa sein Vorschlag, Antisemitismus zum Verbrechen zu erklären, abgelehnt.
Einen Monat nach seiner Ankunft in London berichtet ein Bundist aus Warschau Zygielbojm von der Ermordung von 700.000 polnischen Juden. Es ist einer der ersten Berichte aus den besetzten Gebieten, der über die sogenannte Endlösung informiert. Zygielbojm nutzt seine Stellung in London, um die Welt über den Holocaust zu informieren. Unermüdlich versucht er, durch Radioansprachen, Weitergabe von Informationen an britische Abgeordnete und Journalisten sowie den Kontakt mit anderen Exilanten die Welt aufzurütteln.
Im Jahr 1947 berichtete der prominente SPD-Reformer Willy Eichler in der Zeitschrift Geist und Tat, dass Zygielbojm, dem er in London begegnet war, insbesondere über die fehlende Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen den Nationalsozialismus enttäuscht gewesen sei.
1950 erschien der Bericht des Bundisten Bernard Goldstein über den Aufstand im Warschauer Ghetto in der Europäischen Verlagsanstalt, einem Verlag aus dem Umkreis Eichlers. Die Begegnung mit Zygielbojm dürfte unter anderem ein wichtiger Anstoß für Eichler und andere Sozialdemokraten gewesen sein, sich der Erinnerung an den jüdischen Widerstand zu widmen.
Konflikt mit der Exil-Regierung
„Ich berichte mir selbst, weil zu diesem Zeitpunkt ziemlich wahrscheinlich ich der Repräsentant einer Geistergemeinschaft bin. Jedoch, wenn Teile meines Volkes noch leben, rufe ich zu außergewöhnlichen Maßnahmen auf“, sagte Zygielbojm am 13. Dezember 1942 in der BBC. Seine konkreten Forderungen, wie die nach Abwurf von Flugblättern zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung über den Völkermord, lehnen die Alliierten ab.
Auch mit der polnischen Exilregierung verschärfen sich die Konflikte zunehmend, da Zygielbojm dieser vorwirft, die polnisch-jüdische Bevölkerung zu wenig zu unterstützen. Zygielbojm, der sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet, bittet die Exilführung des Bundes in New York, ihn von seiner Funktion abzuberufen. Im März 1943, noch vor einer Entscheidung über dieses Gesuch, informieren ihn Bundisten aus dem Warschauer Ghetto per Telegramm über die Revolte vom Januar 1943: „Nur du kannst uns noch retten, die Nachwelt wird über dich urteilen.“
Am 19. April 1943 bricht gegen die endgültige Vernichtung des Warschauer Ghettos ein Aufstand aus. Am 16. Mai 1943 erklärt die deutsche Seite, den Aufstand niedergeschlagen zu haben. Bereits am 12. Mai 1943 begeht Zygielbojm aus Protest gegen die weltweite Tatenlosigkeit angesichts des Völkermords an den Juden Suizid. In einem Abschiedsbrief erklärt er mit Bezug auf die Menschen, die er 1940 zurückließ und für deren Rettung er sich verantwortlich fühlte: „Ich kann nicht ohne sie leben. Ich gehöre doch zu ihnen.“
Geht man heute durch Chełm, kann man entdecken, wie ein Abschiedsbrief Zygielbojms als Mural verewigt wurde. Auch in Warschau erinnert an ihn ein Gedenkstein im Rahmen der Gedenkroute des Martyriums und des Kampfes der Juden.Michał Trębacz kritisiert jedoch eine gewisse Einseitigkeit des polnischen Erinnerns. Es konzentriere sich oft auf Zygielbojms Kritik alliierter Tatenlosigkeit angesichts des Holocausts und blende seine kritische Haltung gegenüber der polnischen Exilregierung weitgehend aus.
Deutsches Erinnern?
Gleiches gilt auch für das ohnehin kaum vorhandene deutsche Erinnern an den polnischen Politiker. Obwohl einige deutsche Exilanten in den 1950er Jahren ein umfassenderes Bild von Szmuel Zygielbojm zeichneten, wird seine Person im deutschen Erinnerungstheater oftmals auf seinen Abschiedsbrief vom Mai 1943 reduziert, so auch in der taz im Jahre 1993. Auch vielen informierten Deutschen dürfte der Name Szmuel Zygielbojm heute noch gänzlich unbekannt sein, obwohl er einer ihrer ersten öffentlichen Ankläger war.
Achtzig Jahre nach seinem Tod verdient Szmuel Zygielbojm, dass man an sein Leben und das, was ihm in seinem Leben von Bedeutung war und wofür er sich einsetzte, erinnert: an sein Wirken für ein demokratisches Polen, für seine politische Heimat, den Bund, und für seine Familie – nur so können die Wut und die Trauer des „letzten Sängers“ ansatzweise begriffen werden.
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