■ Das Testament des polnischen Juden Szmul Zygielbojms
: „Ich kann nicht leben, während das jüdische Volk liquidiert wird“

Am 19. April 1943 – heute vor fünfzig Jahren – begann der Aufstand der Juden im Warschauer Getto. Wenige Tage, bevor die SS die Niederschlagung des letzten Widerstands und die vollständige Zerstörung des jüdischen Wohnbezirks bekanntgab, beging in London am 12. Mai 1943 Szmul Zygielbojm, geboren 1895 in Borowica, verheiratet, drei Kinder, Selbstmord, um gegen das Schweigen und die Passivität der Welt gegenüber den Naziverbrechen in Polen zu protestieren – Szmul Zygielbojm, Funktionär des „Bundes“, ehemaliger Abgeordneter der Hauptstadt Warschau, Mitglied des Nationalrates in der Emigration. In dieser Zeit ging der hoffnungslose Kampf im Warschauer Getto schon seinem Ende entgegen. Die Botschaft an die jüdischen Führer in der Welt, die ihm durch den Kurier der Heimatarmee Karski von den Funktionären der jüdischen Untergrundbewegung überreicht wurde, faßte er zutiefst persönlich auf. Nach mehrmonatigen, vergeblichen Bemühungen, die Großmächte zu sofortigem Handeln zu bewegen, zog er aus seinem Unvermögen, den Verbrechen entgegenzuwirken, die endgültige Konsequenz. Sein letzter Brief vom 11. Mai 1943, adressiert an den Präsidenten der Londoner Exilregierung, Wladyslaw Raczkiewicz, und an den Vorsitzenden des Ministerrats im Exil, General Wladyslaw Sikorski, ist eines der tragischen Testamente unserer Zeit.

Ich erlaube mir, meine letzten Worte an Sie zu richten und über Sie an die polnische Regierung und das polnische Volk, an die Regierungen und Völker aller Bündnisstaaten und an das Gewissen der Welt. Aus den letzten, aus Polen erhaltenen Nachrichten geht hervor, daß die Deutschen jetzt mit schrecklicher Grausamkeit die Reste der dort übriggebliebenen Juden vernichten.

Innerhalb der Gettomauern spielt sich gegenwärtig der letzte Akt einer Tragödie ab, wie sie die Geschichte noch nicht verzeichnet hat. Die Verantwortung für das Verbrechen der Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung in Polen tragen in erster Linie die Mörder selbst, indirekt aber lastet sie auch auf der gesamten Menschheit, auf den Völkern und Regierungen der verbündeten Staaten, die sich bisher nicht bemüht haben, konkrete Aktionen zur Einstellung dieses Verbrechens durchzuführen. Indem sie passiv der Ermordung von Millionen wehrloser, zu Tode gequälter Kinder, Frauen und Männer zugesehen haben, sind diese Länder zu Helfershelfern der Verbrecher geworden.

Ich möchte auch erklären, daß die polnische Regierung, obwohl sie in großem Maße dazu beigetragen hat, einen Einfluß auf die Öffentlichkeit zu gewinnen, nicht genügend getan hat, was dem Ausmaß des sich gegenwärtig in Polen abspielenden Dramas entspräche. Von den ca. 3.500.000* polnischen und 700.000* aus anderen Ländern nach Polen deportierten Juden lebten im April 1943 (...) nur noch 300.000. Und die Ausrottung geht weiter.

Ich kann nicht ruhig bleiben. Ich kann nicht leben, während die Reste des jüdischen Volkes in Polen, dessen Vertreter ich bin, liquidiert werden. Meine Kameraden im Warschauer Getto sind mit der Waffe in der Hand im letzten heldenhaften Kampf gefallen. Es war mir nicht beschieden, so wie sie, zusammen mit ihnen zu sterben. Aber ich gehöre zu ihnen und zu ihren Massengräbern.

Durch meinen Tod möchte ich schärfsten Protest gegen die Passivität zum Ausdruck bringen, mit der die Welt der Ausrottung des jüdischen Volkes zusieht und sie duldet. Ich weiß, daß ein Menschenleben in unserer Zeit wenig bedeutet; da ich jedoch zu Lebzeiten nichts tun konnte, trage ich vielleicht durch meinen Tod dazu bei, daß die Gleichgültigkeit derjenigen gebrochen wird, die die Möglichkeit haben, vielleicht im letzten Augenblick die noch am Leben gebliebenen polnischen Juden zu retten.

Mein Leben gehört dem jüdischen Volk in Polen, und deshalb opfere ich es ihm. Es ist mein Wunsch, daß die Reste, die von den Millionen polnischer Juden übriggeblieben sind, zusammen mit der polnischen Bevölkerung die Befreiung in einer Welt der Freiheit und der sozialistischen Gerechtigkeit erleben werden. Ich glaube daran, daß ein solches Polen entsteht und daß eine solche Welt kommt.

Ich bin sicher, daß Sie, Herr Präsident, und Sie, Herr Premier, meine Worte allen denjenigen übermitteln, an die sie gerichtet sind, und daß die polnische Regierung sofort eine entsprechende Aktion auf diplomatischem Gebiet zugunsten derer unternimmt, die noch leben. Ich richte mein „Bleibt gesund“ an alle und an alles, was mir teuer ist und was ich geliebt habe. Szmul Zygielbojm

Am 16. Mai 1943 benachrichtigte General Stroop in einem Telegramm General Krüger in Krakau: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr. Mit der Sprengung der Warschauer Synagoge wurde die Großaktion um 20.15 Uhr beendet ... Gesamtzahl der erfaßten und nachweislich vernichteten Juden beträgt insgesamt 56.065.“

* Von den ca. 3.500.000 polnischen ... Juden – Die Zahlenangaben sind ungenau. Sie stützen sich auf geschätzte Zahlen, die aus Polen einliefen.

Vorabdruck aus: „Hiob – Ein Requiem für das Warschauer Getto“, herausgegeben und übersetzt von Karin Wolff, erscheint im Juni 1993 im Ölbaum-Verlag, Augsburg.