Ringelblum-Archiv aus Warschauer Ghetto: Vermächtnis in Milchkannen
Im Münchner NS-Dokumentationszentrum gibt eine Ausstellung erstmals Einblick in Originale aus dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos.
Es sind Stimmen wie die des 19-jährigen David Graber, die einen noch lange nach der Ausstellung über das Warschauer Untergrundarchiv im Münchner NS-Dokumentationszentrum begleiten. Unter dem Eintrag „Mein letzter Wille“ notiert der junge Mann am 3. August 1942 in sein Tagebuch: „Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit.“ David Graber sollte diesen Augenblick selbst nicht mehr erleben dürfen. So wie 300.000 Bewohnerinnen und Bewohner des Warschauer Ghettos wurde er von den Nazis ermordet, viele von ihnen im Vernichtungslager Treblinka.
Der Schatz, von dem Graber berichtet, und für dessen Bewahrung er selbst mit gesorgt hatte, wird später unter dem Namen Ringelblum-Archiv in die Geschichtsbücher eingehen. Es handelt sich dabei um eine 35.000 Seiten umfassende Dokumentation des Lebens der Bewohner im Warschauer Ghetto, ein beispielloses Sammlungsprojekt, zusammengetragen von der Gruppe mit dem Tarnnamen Oneg Schabbat (Freude am Schabbat) um den Historiker Emanuel Ringelblum.
Als die deutschen Besatzer 1940 einen Teil der Stadt abriegeln und die jüdische Bevölkerung Warschaus und der umliegenden Gemeinden dorthin verschleppen, entsteht mit dem Warschauer Ghetto das größte Sammellager dieser Art. Ringelblum und seine im Geheimen arbeitenden Mitstreiter beginnen ihre Arbeit inmitten von Chaos und Elend, um das Geschehene für die Mit- und Nachwelt zu dokumentieren.
„Ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger, ich sterbe vor Hunger …“, schreit ein Mann im Prosagedicht von Icchak Berensztein den Passanten ins Gesicht. Das Gedicht ist Teil der Ringelblum-Sammlung, so wie auch die Aufzeichnungen eines Unbekannten, der angesichts des von den Nazis systematisch ausgehungerten Ghettos schreibt: „[…] der Hunger verlässt die Augen nie. Tödlicher Hunger. […] Die ganze Straße ist eine Wunde. Das Ghetto ist eine stinkende, eiternde Wunde.“
„Sterbekasse“ – die Zeichnung eines toten Kindes
In den abgeriegelten Vierteln breiten sich rasant Krankheiten wie Fleckfieber und Typhus aus, unter dem Hunger leiden am schlimmsten die Kinder. Eine Zeichnung von Benjamin Rozenfeld, die den Titel „Sterbekasse“ trägt, zeigt den kleinen, ausgemergelten Körper eines Kindes tot auf dem Asphalt liegend, sein Kopf mit einem Tuch bedeckt. Die Umstehenden werfen Münzen für seine Beerdigung in ein tönernes Gefäß, die „Sterbekasse“. Szenen wie diese gehörten zum Alltag im abgeriegelten Ghetto, dessen Bewohner nur aufgrund der in die jüdischen Viertel geschmuggelten Nahrungsmittel nicht noch schneller an Auszehrung starben.
Zeichnungen wie die Rozenfelds gehören zu den Dokumenten, die Oneg Schabbat systematisch zusammenträgt, aber auch Fotografien, Briefe, Plakate, Zeitungsberichte, NS-Verlautbarungen, Passierscheine, Einladungen zu Kulturveranstaltungen, mitunter unscheinbare Objekte wie ein buntes Bonbonpapier. In der Gesamtschau lassen die Sammlungsstücke einen Eindruck vom Leben und Sterben im Ghetto zu.
Die Ausstellung im Münchner NS-Dokumentationszentrum gewährt erstmals Einblick in eine größere Auswahl an Originalen aus dem Archiv und eine umfassende an Reproduktionen. Viele der schriftlichen Zeugnisse wurden vom Ensemble der Münchner Kammerspiele eingesprochen, was den Archiv-Stimmen eine bedrückende Gegenwärtigkeit verleiht.
Die gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum initiierte Ausstellung lässt einen Eindruck davon zu, dass es sich bei der Arbeit der rund 60 Oneg-Schabbat-Leute – darunter Intellektuelle, Geschäftsleute, Künstler, Kommunisten – auch um eine Form des zivilen Widerstands handelte. Der Wille zur jüdischen Selbstbehauptung sollte später auch beim blutig niedergeschlagenen Warschauer Ghettoaufstand im Jahr 1943 eine entscheidende Rolle spielen. Oneg Schabbat hatte in den Monaten zuvor begonnen, die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den deutsch besetzten Gebieten Polens zu dokumentieren. Zahlreiche Quellen und Aussagen von überlebenden Geflüchteten, etwa aus dem Lager Treblinka, belegten den Massenmord. Die Nachricht führte im Ghetto zur schieren Panik.
Arbeit des Untergrundarchives bis heute wenig bekannt
Trotz ihrer historischen Bedeutung ist die Arbeit der Frauen und Männer um den linken Zionisten Emanuel Ringelblum bis heute weitgehend unbekannt. Ein bedauerlicher Missstand, dem die Münchner Ausstellung sich zur Aufgabe gesetzt hat, entgegenzuwirken. Nur drei Mitglieder des Aktivistenkreises um Oneg Schabbat sollten die Shoah überleben. Das Werk, das sie hinterließen, passte schließlich in 15 Blechkisten und zwei Milchkannen, die die vollständige Vernichtung des Warschauer Ghettos wie durch ein Wunder überdauerten. 1946 wurden sie unter den Ruinen des Ghettos gefunden.
In einem der Zeugnisse – den eingangs erwähnten Tagebuchaufzeichnungen David Grabers –, heißt es angesichts der ungeheuren dokumentarischen Anstrengungen an einer Stelle: „Wir müssen uns beeilen, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. […] Wir spürten die Verantwortung. Wir hatten keine Angst, ein Risiko einzugehen. Uns war bewusst, dass wir Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben.“
„'Wichtiger als unser Leben’. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos“: NS-Dokumentationszentrum München, bis 7. Januar
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!