1. Jahrestag Breitscheidplatz-Anschlag: Und dann waren sie alleine

Vor einem Jahr tötete Anis Amri zwölf Menschen und verletzte über 70. Kanzlerin Angela Merkel traf nun erstmals die Betroffenen.

Ein Mann steht in einer Marktbude

René Köchel arbeitet dieses Jahr wieder auf dem Weihnachtsmarkt. Seit dem Anschlag ist er gehbehindert Foto: Christian Mang

BERLIN/DRESDEN/PREMNITZ taz | Viel hatte Sigrid Rheinsberg von der Kanzlerin nicht erwartet. Ein paar Worte auf einer Gedenkfeier mit allen zwölf Särgen. Ein Kondolenzschreiben an die Familien. Und ein Brief, dass die Kosten der Beerdigung vom Staat übernommen werden.

Doch all das gab es nicht. Fast genau vor einem Jahr wurde Dorit Krebs, die Tochter der Rheinsbergs, bei dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz getötet. Erst wenige Tage zuvor hatte die 53-Jährige eine neue Stelle in einer Bank am Kurfürstendamm angetreten. Viel deutet darauf hin, dass Krebs die erste war, die von dem schweren Sattelschlepper erfasst wurde, den der Islamist Anis Amri am 19. Dezember um 20.02 Uhr auf den Weihnachtsmarkt steuerte, um im Namen des „Islamischen Staates“ möglichst viele Menschen zu töten. Zwölf kamen ums Leben, mehr als 70 wurden verletzt. Die Polizei hatte den Täter zuvor im Blick: Er war als „islamistischer Gefährder“ eingestuft.

Sigrid Rheinsberg sitzt am Nikolaustag mit ihrem Mann im heimischen Wohnzimmer im Havelland, auf dem Tisch stehen Plätzchen, draußen pfeift ein kalter Wind um das Haus. Anfangs erzählt die 75-jährige Rentnerin ruhig, was seit dem Anschlag geschehen ist. Doch je länger sie spricht, desto mehr hört man die Wut, die in ihr arbeitet. „Frau Merkel hat Büros, sie hat Mitarbeiter. Warum hat sie nicht reagiert?“, fragt sich Rheinsberg.

Es ist eine Frage, die alle Opfer und Hinterbliebenen teilen. Und hinter der eine noch größere Frage steht: Warum tut sich dieses Land so schwer mit den Opfern eines Terroranschlags? Wie sieht ein angemessenes Gedenken aus?

„Der Staat hat Mitschuld“

Am Montag konnte Sigrid Rheinsberg ihre Frage der Bundeskanzlerin selbst stellen. Am Tag, bevor sich der Anschlag jährt, hat Angela Merkel die Angehörigen der Verstorbenen zum Gespräch ins Kanzleramt geladen, auch der Opferbeauftragte Kurt Beck war dabei. Die Kanzlerin wolle wissen, wie es den Hinterbliebenen heute geht, heißt es in der Einladung.

Es dürfte ein Gespräch in angespannter Atmosphäre gewesen sein. Denn Sigrid Rheinsberg und ihr Mann sind nicht nur enttäuscht vom fehlenden Engagement der Kanzlerin. „Der Staat hat Mitschuld an dem Anschlag“, ist die Rentnerin überzeugt. Und sie ist mit ihrer Meinung nicht alleine. In einem offenen Brief haben jüngst Angehörige aller zwölf Todesopfer der Regierung Versagen vorgeworfen. Von „eklatanten Missständen“ in der deutschen Antiterrorarbeit ist dort die Rede. Von „politischer Untätigkeit“ der Regierung, die mit für den Anschlag verantwortlich sei. „Wir sind der Auffassung, dass Sie Ihrem Amt nicht gerecht werden“, heißt es an Merkels Adresse.

Petr Čižmár, Hinterbliebener

„In dieser Sekunde an genau diesem Ort zu sein, ist eine fast unmögliche Wahrscheinlichkeit, ein Super-Pech“

Es sind scharfe Worte. Geschrieben von Menschen, die sich gleich mehrfach getroffen fühlen. Von einem Anschlag, der einen Angehörigen aus dem Leben riss, und doch eigentlich dieser Gesellschaft galt. Von einem Staat, der im Umgang mit dem späteren Täter schwere Fehler beging und es nicht vermochte, die Opfer zu schützen. Und von einer Regierung, von der sich die Angehörigen nach der Tat wochenlang alleingelassen fühlten.

Am 19. Dezember, wenn sich der Anschlag jährt, wird auf dem Breitscheidplatz ein Denkmal enthüllt. Auf den Stufen zur Gedächtniskirche werden die Namen aller zwölf Todesopfer stehen, erstmals öffentlich. Und auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen. Anna Bagratuni, Georgiy Bagratuni, Sebastian Berlin, Nad’a Čižmár, Dalia Elyakim, Christoph Herrlich, Klaus Jacob, Angelika Klösters, Dorit Krebs, Fabrizia Di Lorenzo, Lukasz Urban, Peter Völker. Dazu ein goldener Riss im Boden des Platzes, 14 Meter lang. Die Angehörigen sollen ihn am Dienstag mit einer Metalllegierung schließen und so das Denkmal fertigstellen. Ein versöhnliches Symbol.

Ein Super-Pech

Doch für die Hinterbliebenen lässt sich die Wunde, die der Anschlag gerissen hat, nicht so einfach schließen.

Petr Čižmár fällt es bis heute schwer, über den Tod seiner Frau zu sprechen. Anfang Dezember sitzt er in einem Gasthaus im Norden Dresdens, am Nebentisch begehen drei ältere Paare eine Vorweihnachtsfeier. Čižmár kommt direkt von der Arbeit aus einer Halbleiterfabrik. David, seinen sechsjährigen Sohn, hat er bei einem Freund untergebracht. Der 39-Jährige knetet seine Hände. Wenn die Gefühle zu stark werden, nippt er an der großen Cola, die vor ihm steht. Auf die Frage nach dem „Warum“ findet Čižmár bis heute keine Antwort. Der promovierte Physiker hat es statistisch versucht. „In dieser Sekunde an genau diesem Ort zu sein, das ist eine fast unmögliche Wahrscheinlichkeit, ein Super-Pech.“

Petr Čižmár lebte vor einem Jahr noch in Braunschweig. Nad’a Čižmár fand dort keinen Job, schließlich landete sie bei einem Logistik-Unternehmen in Berlin. Zum Zeitpunkt des Todes hatten sich beide auseinandergelebt, sahen sich aber oft, der Sohn pendelte. Über Wochen hatte Petr Čižmár Nad’as Wohnung in Berlin renoviert, die Familie wollte dort gemeinsam Weihnachten feiern. Dann war Nad’a tot. Und Čižmár musste David erklären, dass seine Mutter nie wiederkommen wird.

Der Sechsjährige habe das lange gut verkraftet, sagt Čižmár. Zuletzt aber sei er nachts wieder aufgewacht, rüttelte an seinem Bett. Auch wenn sie tagsüber unterwegs seien, kontrolliere David immer wieder, ob er noch da sei. Neulich, als Čižmár im Bad ausrutschte und aufschrie, fragte der Sohn: „Wer kümmert sich um mich, wenn du stirbst?“

Schmerz in die Knochen drücken

Es sind zehn weitere Familien, aus denen ein Mitglied von einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen wurde. Eine 22-jährige Studentin hat auf dem Breitscheidplatz beide Eltern verloren. Ein 40-jähriger Jurist schubste noch seine Begleiterin aus dem Weg des heranrasenden Laster, dann wurde er selbst tödlich verletzt. Zwei weitere Männer und eine Frau starben vor den Augen ihrer Partner, eine andere Frau neben ihrem Sohn. Einige Schwerverletzte sind bis heute in Behandlung. Manche haben Beine oder Arme verloren, werden für immer Pflegefälle bleiben. Ein Mann ist gelähmt, kann nur seine Augen bewegen.

Wenn Sigrid Rheinsberg über die Zeit nach der Tat spricht, sagt sie: „Für mich hat der Terroranschlag mehrmals stattgefunden.“ Seit dem Attentat hat die Rentnerin Nervenschmerzen, die bis ins Bein hinunter ziehen, das Gehen fällt ihr schwer. Trotz vieler Untersuchungen findet der Arzt die Ursache nicht. „Vielleicht drückt man den Schmerz in die Knochen“, sagt Rheinsberg. Eine psychologische Betreuung lehnte sie ab. „Ich dachte, dass ich das wegstecken kann. Doch ich leide heute mehr als am Anfang.“

Das liegt auch an der Wut, die in ihr arbeitet und jedes mal größer wird, wenn neue Fehler im Fall Anis Amri bekannt werden. Die 14 Identitäten des Tunesiers. Die Überwachung nur wochentags. Die dubiose Rolle eines V-Manns, der zu dem Anschlag angestachelt haben soll. Das nachträgliche Vertuschen von Amris Drogengeschäften durch das Berliner Landeskriminalamt, die eine Inhaftierung wohl ermöglicht hätten. Und immer wieder die Frage: Hätte der Anschlag nicht verhindert werden können?

Warum ist niemand zurückgetreten?

Petr Čižmár zog einige Monate nach dem Anschlag nach Dresden, für seinen neuen Job in der Halbleiterfabrik. Als alleinerziehender Vater ist die Zeit knapp, da bleibt auch wenig Zeit zum Grübeln. „So ist es jetzt einfach“, sagt er über seinen neuen Alltag. Aber in einem Punkt wird auch Čižmár energisch: „Nur ein Fehler weniger und Nad’a könnte noch leben.“ Dafür gebe es keine Entschuldigung. Und wie könne es eigentlich sein, dass für dieses Versagen bis heute noch niemand zurückgetreten sei?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Dieses Unverständnis teilen die Hinterbliebenen. Genau wie das Gefühl, seit dem Anschlag alleingelassen worden zu sein. Die Rheinsbergs waren erst am Morgen nach dem Attentat ganz sicher, dass ihre Tochter auf dem Weihnachtsmarkt verabredet war. Immer wieder riefen sie und ihre Enkelin, die in Berlin lebt, die Hotline der Polizei an. Die Enkelin, heute 29 Jahre, ist Dorit Krebs Tochter, ihr Name soll nicht in der Zeitung stehen. Schließlich sagte man ihnen, dass Dorit Krebs verletzt in einem Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf liege. Als aber die Enkelin dort eintraf, hieß es: Eine Dorit Krebs gebe es hier nicht. Die junge Frau gab auf einer Polizeiwache eine Vermisstenanzeige auf, klapperte die Krankenhäuser ab. Bei der Polizeihotline hätten sie irgendwann genervt reagiert, erzählt Rheinsberg.

Schließlich meldete sich ein Polizist und bat um Material für einen DNA-Abgleich. Die Enkelin gab ihm eine Zahnbürste. Dann hatte die Familie Gewissheit – drei Tage nach dem Anschlag. Als die Enkelin nach den Sachen ihrer Mutter fragte, habe man ihr ohne viel Worte eine blutverschmierte Handtasche in die Hand gedrückt. Ja, sagt Sigrid Rheinsberg, die Behörden seien überfordert gewesen. Aber etwas Mitgefühl hätte sie schon erwartet.

Auch Petr Čižmár fuhr damals nach Berlin, als er von dem Anschlag hörte und seine Frau stundenlang nicht erreichte. Auch er irrte von Krankenhaus zu Krankenhaus, erfuhr erst nach drei Tagen von Nad’as Tod. Dabei waren alle zwölf Getöteten schon in der Nacht des Anschlags identifiziert – alle hatten Ausweise bei sich. Die Polizei aber schloss erst die vorgeschriebenen DNA-Tests ab, bevor sie die Angehörigen informierte.

Wer ist zuständig?

Bei Petr Čižmár war es – noch in den Stunden der Ungewissheit – der tschechische Botschafter, der als erstes seinen Besuch ankündigte. „Da war alles klar.“ Kurz darauf lud der tschechische Staatspräsident Petr Čižmár und David zum Gespräch auf die Prager Burg. Von deutscher Seite kam vorerst: nichts. „Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hat“, sagt Čižmár. Hatte man ihn vergessen? Wollte Deutschland die Sache kleinhalten? Čižmár blieb mit seinen Fragen allein. Auch mit ganz praktischen. Welche Entschädigung steht im zu? Wer ist zuständig?

In Frankreich lief nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo auf einer Demonstration der Staatspräsident voran. Als der Leichnam des italienischen Opfers vom Breitscheidplatz, Nad’as Kollegin Fabrizia Di Lorenzo, überführt wurde, wurde dieser vom Staatsoberhaupt empfangen. Vor dem Sarg des polnischen Opfers Lukasz Urban kniete der Staatspräsident nieder.

In Berlin saß Merkel am Tag nach dem Anschlag in der Gedächtniskirche in einem Gedenkgottesdienst – als die Opfer noch im Krankenhaus lagen und manche Angehörigen durch Berlin irrten. Andere waren sogar zur Kirche gekommen. Sie wurden von Sicherheitsleuten an der Tür abgewiesen. Erst Mitte Januar traf bei den Hinterbliebenen ein erstes Schreiben der Bundesregierung ein, verfasst von Justizminister Heiko Maas. Zuvor kamen andere Briefe: eine Rechnung für die Obduktion der Opfer, 51 Euro, zu zahlen in 30 Tagen, sonst drohe ein Inkassounternehmen. Oder Standardformulare für Autounfälle, in denen gefragt wurde, ob derjenige, der den Unfall verschuldet hat, mit dem Opfer verwandt sei, und ob man in Kontakt stehe. Die Angehörigen waren entsetzt.

Dann aber lud Bundespräsident Gauck sie ein, der oberste Mann im Staat. An dem Treffen im Schloss Bellevue Mitte Februar nahm auch der Innenminister teil. An diesen hatte Rheinsbergs Enkelin einen Monat zuvor eine E-Mail verfasst. Sie schilderte ihre Erlebnisse nach dem Anschlag, schrieb, dass der Staat versagt habe und dass sie sich „verarscht“ fühle. Gauck fragte nach, sie trug ihre Kritik noch einmal vor. Auch Rheinsberg meldete sich zu Wort. „Das war die erste Veranstaltung, wo ich meine Wut mal loswerden konnte.“

Gebrannte Mandeln, Grünkohl, „Feliz Navidad“

Mitte Dezember, Breitscheidplatz, der Weihnachtsmarkt hat wieder eröffnet. In einem Glühweinstand steht René Köchel. Er war im Frühjahr im Schloss Bellevue nicht dabei, der Gastronom lag noch im Krankenhaus. Amri hatte den Laster direkt in Köchels Bude gesteuert, drei der Menschen starben dort. Er selbst brach sich das linke Bein, erlitt Prellungen, eine heruntergeschleuderte Zapfanlage zertrümmerte den rechten Fuß. Über Monate setzten Ärzte den Fuß wieder zusammen, Köchel wird gehbehindert bleiben.

Gleich gegenüber Köchels Glühweinstand wird das Mahnmal aufgebaut. Noch ist es von einem Bauzaun verdeckt. Etwas weiter links stehen Grablichter und Kuscheltiere, jemand hat weiße Rosen abgelegt. Einige Besucher halten kurz inne, auch patrouillieren Polizisten. Sonst läuft alles wie immer: gebrannte Mandeln, Grünkohl, „Feliz Navidad“.

Köchel, dunkle Steppjacke, dicker Schal, Basecap, steht seit 20 Jahren auf Weihnachtsmärkten. Er macht nicht viele Worte. Es fühle sich wie immer an, behauptet er. Auch der Aufbau des Mahnmals gleich gegenüber bewege ihn nicht. „Ich habe abgeschlossen. Sonst könnte ich hier auch gar nicht stehen“, sagt er. „Es tut gut, endlich wieder was zu machen.“

Aber auch Köchel ist verbittert. „Wir wurden alleingelassen“, sagt er. Wegen seines Fußes musste sich der 53-Jährige eine neue Wohnung suchen, die im Erdgeschoss liegt. Er stritt sich mit Krankenkassen, musste eine Reha selbst bezahlen. Ein Jahr lang verdiente er nichts. Als Schmerzensgeld bekam Köchel 5.000 Euro. „Das reicht hinten und vorne nicht.“

Nationaler Pathoser nicht wünschenschwert

Kurt Beck kennt den Frust. Im März ernannte Justizminister Maas den Mainzer Exministerpräsidenten zum Beauftragten für die Opfer – erst im März, klagen einige der Betroffenen. Seitdem hat Beck viele von ihnen besucht, die meisten zu Hause. Die Regierung habe zu spät reagiert, gesteht auch Beck ein. „Das Sich-verlassen-fühlen der Betroffenen ist nicht mehr ganz aufzuarbeiten.“ Schuld sei die Unerfahrenheit dieses Landes mit dem Terror.

Es gab den NSU. Erst vor anderthalb Jahren geschah das Attentat am Münchner Olympia Einkaufszentrum, es gab einzelne islamistische Attacken. Alle Sicherheitsbehörden warnten vor einem möglichen großen Anschlag auch in Deutschland. Doch auf den Umgang mit eventuellen Opfern war der Staat nicht vorbereitet.

Sabine am Orde ist innenpolitische Korrespondentin der taz.Konrad Litschko ist taz-Redakteur für innere Sicherheit.

Die Betroffenen organisierten sich stattdessen in einer WhatsApp-Gruppe. Einige besuchten den Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Tochter eines Getöteten flog bis nach Nizza, um den dortigen Jahrestag des islamistischen Lkw-Anschlags beizuwohnen. Emmanuel Macron war vor Ort, Flugzeuge sprühten die Tricolore in den Himmel.

Nationales Pathos, das hierzulande kaum denkbar wäre. Und wohl auch nicht wünschenswert. Was aber dann? Wie gedenkt man richtig?

Gedenkandacht hinter verschlossenen Türen

Zu dem Gedenken in Berlin werden rund 100 Betroffene anreisen und auf einen abgeriegelten Breitscheidplatz treffen, der Weihnachtsmarkt ist am Dienstag geschlossen. Die Gedenkandacht findet hinter verschlossenen Türen statt, genau wie zuvor das Treffen im Kanzleramt. Eine öffentliche Rede Merkels ist nicht geplant, keine große Geste. Es wirkt wie der Gegenentwurf zu Macrons Gedenken.

Mitte der Woche präsentierte Kurt Beck seinen Abschlussbericht als Opferbeauftragter. Die Entschädigungen für Terroropfer müssten „deutlich“ erhöht werden, forderte er. Zudem müssten Bund und Länder eine feste Anlaufstelle einrichten, die Betroffenen unkompliziert Hilfe leisten könne. Justizminister Heiko Maas sicherte seine Unterstützung zu, am Nachmittag fasste der Bundestag einen entsprechenden Beschluss.

Schon zuvor war manches geschehen. Rund zwei Millionen Euro Entschädigung flossen bisher an die Opfer. Ehepartner, Kinder oder Elternteile der Getöteten erhielten je 10.000 Euro Schmerzensgeld, Geschwister und Selbstverletzte 5.000 Euro. Beck vermittelte Entschädigungen für die Budenbesitzer am Breitscheidplatz oder den Spediteur des gekaperten Sattelschleppers. Für die verwaiste Tochter der Bagratunis fand er ein Ehepaar, das ihr das Studium finanziert. Das Land Berlin schuf schon im Herbst einen hauptamtlichen Opferbeauftragten.

Merkel will vor allem zuhören

Doch Sigrid Rheinsberg hat ihr Urteil gefällt, auch über Angela Merkel, die sie früher als starke Frau gesehen habe. „Das denke ich heute nicht mehr. Der erste Fehler war schon, als die Flüchtlinge hier reinkamen und nicht registriert wurden.“ Der Terroranschlag habe ihr Leben verändert, sagt Rheinsberg. „Ich denke heute in vielen Dingen anders, auch politisch.“

Petr Čižmár meidet harsche Worte. Er äußert sogar Verständnis für das anfängliche Chaos der Behörden: Ein Anschlag überfordere eben erst mal alle. Aber auch Čižmár macht seine Kritik klar. „Erst müssen der Staat und die Polizei funktionieren, dann kann man Gäste empfangen.“ In der Politik war es die AfD, die schon kurz nach dem Anschlag von „Merkels Toten“ sprach. Schuld an dem Terror sei die „unkontrollierte Massenmigration“. Auch manche Betroffene hätten sich von solchen Tönen eine Zeit lang „mitreißen“ lassen, räumt Kurt Beck ein. Den Ärger über die Ermittlungsversagen aber könne er verstehen. Dass nicht versucht wurde, Amri vor seinem Anschlag festzunehmen, sei „furchtbar, einfach furchtbar“.

Am Dienstagabend stand Angela Merkel vor dem Glühweinstand von René Köchel – ein Überraschungsbesuch auf dem Weihnachtsmarkt. Wie es ihm gehe, habe die Kanzlerin gefragt. Köchel antwortete, man müsse nach vorne schauen. Nur wenige Minuten habe der Austausch gedauert. „Nett und freundlich“ sei er gewesen, sagt Köchel. Aber er komme eben sehr spät. „Erst nach der ganzen Kritik.“ Wenn Merkel am Montag die Betroffenen ins Kanzleramt lädt, wird auch Köchel dabei sein. Man habe „mit großem Respekt“ den offenen Brief gelesen, sagt ein Sprecher Merkels im Vorfeld. Die Regierungschefin wolle bei dem Treffen nun vor allem zuhören.

Sigrid Rheinsberg wird Merkel einiges zu erzählen haben. Auch Petr Čižmár wird mit seinem Sohn David anreisen. Der Junge soll dabei sein, wenn die Kanzlerin seiner Mutter gedenkt. Er selbst dagegen, sagt Čižmár, habe vor allem eine Frage: „Warum hat es ein Jahr gebraucht, um mit uns zu sprechen?“

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