CDU-Mann Altmaier zum Flüchtlingssommer: „Wir standen vor einer sehr, sehr schwierigen Situation“
Peter Altmaier war Kanzleramtschef, als Angela Merkel entschied, die Grenzen offen zu lassen. Die CDU findet das heute falsch, die AfD triumphiert. Ist das der Preis für 2015, Herr Altmaier?
taz: Herr Altmaier, Sie waren ab Oktober 2015 Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, zusätzlich zu Ihrem Job als Chef des Kanzleramts. „Wir schaffen das“, war damals der zentrale Satz Angela Merkels. Zehn Jahre sind vergangen: Was haben Sie geschafft?
Peter Altmaier: Der Satz von Angela Merkel war von zentraler Bedeutung, wir befanden uns in der größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg: Mehr als zehn Millionen Menschen, die meisten aus Syrien, suchten Schutz. Wir waren entschlossen, uns der humanitären Verantwortung zu stellen und den Menschen zu helfen: mit Aufnahme, Unterbringung, Verpflegung, aber auch mit Deutsch- und Integrationskursen, um frühere Fehler zu vermeiden. Zwischen 2015 und 2016 sind fast anderthalb Millionen Menschen zu uns gekommen. Heute sprechen die allermeisten von ihnen Deutsch und rund 85 Prozent der Männer haben Arbeit. Dank des enormen Einsatzes der Helferinnen und Helfer vor Ort haben wir deutlich mehr geschafft, als viele Kritiker für möglich gehalten haben.
taz: Andere, auch in Ihrer eigenen Partei, kritisieren einen „Kontrollverlust“ und meinen damit, dass damals viele Menschen ohne Erfassung einreisen konnten.
Altmaier: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise kamen pro Tag etwa 7.500 Menschen nach Deutschland, manche mit, manche ohne Papiere. Die Bundespolizisten an der Grenze und die freiwilligen Helfer vor Ort haben Tag und Nacht gearbeitet. Wir haben sehr schnell wieder Grenzkontrollen eingeführt und fast allen Flüchtlingen wurden dann bei der Einreise Fingerabdrücke abgenommen. Aber wir konnten die Menschen doch nicht entweder bitten, auf der österreichischen Seite geduldig zu warten, bis die wochenlangen Überprüfungen abgeschlossen waren, oder sie mit Gewalt an der Einreise nach Deutschland hindern.
taz: „Es gab ein Vorher und ein Nachher“, schreibt Angela Merkel über die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 in ihren Memoiren. Da haben sich die Geflüchteten vom Budapester Bahnhof auf den Weg nach Österreich und Deutschland gemacht und die Frage war, wie sich Deutschland bei ihrer Ankunft verhält. Wie haben Sie das damals erlebt?
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Altmaier: Die Menschen machten sich auf den Weg in die EU, weil sie weder in Syrien noch im Libanon, in Jordanien oder in der Türkei die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben fanden. Die Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern waren drastisch gekürzt worden, weil nicht genügend Staaten Geld zur Verfügung gestellt hatten. Die Zahlen bei uns haben sich seit Anfang 2015 ungefähr alle zwei Monate verdoppelt. Schon als wir in die Sommerferien gingen, war klar, dass es einen ganz gewaltigen Migrationsdruck gab.
Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.
taz: Und in dieser Septembernacht konkret?
Altmaier: An diesem Tag sind die Menschen dann vom Bahnhof in Budapest Richtung Österreich aufgebrochen, mit dem Ziel, nach Deutschland zu gelangen – zu Fuß, im Zug, mit Bussen. Es gab damals sehr intensive Gespräche auf europäischer Ebene, auch zwischen Angela Merkel und dem österreichischen Bundeskanzler. Die Österreicher waren bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, wiesen aber darauf hin, dass sie als kleines Land nur über begrenzte Kapazitäten verfügen. Und wir standen dann vor einer sehr, sehr schwierigen Situation.
taz: Wo waren Sie?
Altmaier: Ich war mittags zu einer Konferenz in Evian am Genfer See aufgebrochen. Bei der Zwischenlandung in Frankfurt war meine Mailbox bereits randvoll. Ich habe sofort mit der Bundeskanzlerin telefoniert, dann mit der Staatssekretärin im Innenministerium. Thomas de Maizière, der Innenminister, lag mit hohem Fieber krank im Bett. Horst Seehofer war den ganzen Abend aus besonderen Gründen telefonisch nicht erreichbar, deshalb habe ich mit der Chefin der Bayerischen Staatskanzlei gesprochen, die meisten Flüchtlinge würden ja am nächsten Tag auf dem Münchener Hauptbahnhof eintreffen. Am Morgen hatten wir eine Telefonschalte mit den Chefs der Staatskanzleien aller Bundesländer. Alle waren sofort bereit zu helfen. Es war eine der ganz seltenen Situationen, wo man von einem humanitären Imperativ sprechen musste. Die dringlichste Frage war: Wie verteilen wir die Menschen auf die Bundesländer, wie werden Aufnahmekapazitäten organisiert. Doch schon sehr bald drehten sich alle Überlegungen auch um die Frage, wie man den großen Zustrom wieder Schritt für Schritt verringern kann.
Peter Altmaier
war einer der engsten Vertrauten von Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Der CDUler war Bundesumwelt- und Wirtschaftsminister und Chef des Bundeskanzleramts. Im Oktober 2015 machte Merkel ihn auch zum Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung. 2021 zog er sich aus der Politik zurück.
taz: Angela Merkel galt damit auf einen Schlag als große Flüchtlingsfreundin, dafür wurde sie von der einen Seite gelobt und von der anderen scharf angegriffen. War nicht eigentlich beides ein Missverständnis?
Altmaier: Eindeutig, es wurde von beiden Seiten – Befürwortern wie Gegnern – immer wieder auch unsachlich und teilweise verzerrend argumentiert, insbesondere von Vertretern der AfD ist die Diskussion verantwortungslos geführt worden. Uns war nicht nur klar, dass dies eine Situation war, in der man helfen musste, sondern ebenso, dass selbst ein Land wie Deutschland niemals alle Flüchtlinge wird aufnehmen können. Zwischen diesen Polen mussten wir navigieren. Trotz der ganzen Kampagnen hielt bis in den Bundestagswahlkampf 2017 hinein immer gut die Hälfte der Bevölkerung die Flüchtlingspolitik für richtig und akzeptabel. Manchmal waren es auch etwas weniger, zum Beispiel nach der Kölner Silvesternacht. Ich will auch nicht verhehlen, dass die Zahl der Zweifler gewachsen ist. Das hängt damit zusammen, dass es in der Union, zwischen CDU und CSU, relativ früh einen Dissens im Grundsatz gab, der nie ganz ausgeräumt werden konnte. Deshalb hat das Thema Migration in der Bundestagswahl 2017 eine unheilvolle Rolle gespielt.
taz: Die CSU forderte die Zurückweisung an der Grenze und eine Obergrenze für Geflüchtete. Damals wie heute war die Prämisse: Die Zahlen müssen runter, auf jeden Fall. Was hat bei Ihnen überwogen – Ihre Überzeugung oder der enorme politische Druck?
Altmaier: Joachim Gauck, der Bundespräsident damals, hat es sehr gut auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Unser Herz ist groß, aber unsere Möglichkeiten sind nicht unbegrenzt.“ Wir waren der Auffassung, dass wir mit dem akuten Flüchtlingsdruck 2015 und Anfang 2016 sehr wohl in einer menschenwürdigen Weise, die auch das Land nicht überfordert, umgehen können. Aber wir waren auch der Meinung, dass wir in der mittelfristigen Sicht eine deutliche Reduzierung anstreben müssen, auch im Interesse der Flüchtlinge. Denn natürlich war auch die Frage, ob man eine so große Zahl von Menschen dauerhaft integrieren kann, ob es genügend Deutschlehrer, Betreuer, Helfer gibt.
taz: Die Zahlen sind vor allem deshalb gesunken, weil die Balkanroute geschlossen wurde und die EU mit der Türkei ein Abkommen vereinbart hat. Konnte Ihre Regierung sich als humanitär darstellen, weil andere die schmutzige Arbeit gemacht haben?
Altmaier: Nein, ganz im Gegenteil. Eine restriktive Aufnahmepolitik durch Deutschland war nur möglich, weil die Flüchtlinge in der Türkei durch das Abkommen die Möglichkeit bekommen haben, eine Arbeit aufzunehmen. Das Geld, was wir als EU zur Verfügung gestellt haben, wurde nicht in Cash an die Türkei überwiesen, sondern damit wurden Schulen, Krankenhäuser und Aufnahmeeinrichtungen für die vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei geschaffen. Die Situation in der Türkei hat sich für die Betroffenen signifikant verbessert, und deshalb war es zumutbar, dass sie dort bleiben.
taz: An dem Abkommen und den Bedingungen in der Türkei gab es massive menschenrechtliche Kritik. Die Türkei sollte vor allem die Seegrenze nach Griechenland schließen, damit weniger Geflüchtete in die EU kommen.
Altmaier: Wir haben mit der Türkei in der Tat vereinbart, dass sie wieder ihre Außengrenzen sichert, vor allen Dingen die Seegrenze zum Mittelmeer. Das war auch eine humanitär notwendige Maßnahme, denn es sind einige Tausend Menschen auf dem Versuch, in völlig überfüllten Gummibooten von der Türkei nach Griechenland zu kommen, ertrunken. Deshalb war das auch im Interesse der Flüchtlinge richtig.
taz: Die AfD lag im Sommer 2015 bei unter fünf Prozent. „Wir verdanken unseren Wiederaufstieg in erster Linie der Flüchtlingskrise“, hat Alexander Gauland später gesagt. War das der politische Preis?
Altmaier: Es war seit ihrer Gründung das Geschäftsmodell der AfD, Sorgen und Ängste der Menschen für ihre parteipolitischen Zwecke zu missbrauchen, ohne selbst Lösungen in der Sache anzubieten. Als im Frühjahr 2017 absehbar war, dass die AfD die Fünf-Prozent-Hürde überspringen würde, habe ich gesagt: Die AfD ist wie ein heißes Soufflé, das aus dem Ofen kommt und in sich zusammenfällt. Das muss ich heute korrigieren. Aber ich war damals der festen Überzeugung, dass es sich um einen einmaligen Effekt handeln würde.
taz: Warum ist es anders gekommen?
Altmaier: Wir hatten bis zur Bundestagswahl über dieses Thema einen heftigen Streit zwischen CDU und CSU und dann nach der Bundestagswahl noch einmal zum Thema „Masterplan Asyl“ über mehrere Monate. Aber: 2017 lag die AfD bei zwölf Prozent, am Ende der Regierungszeit von Angela Merkel waren es zwei Prozent weniger, trotz der Coronapandemie mit all ihren Begleiterscheinungen. Was deutlich macht, dass wir sehr viele Probleme gelöst hatten. Seitdem hat sich der Stimmanteil der AfD verdoppelt.
taz: Was hätten Sie anders machen können, vielleicht müssen?
Altmaier: Natürlich muss man sich immer die Frage stellen, ob man etwas hätte besser machen können. Aber ich kenne aus der ganzen Debatte seit 2015 keinen einzigen Vorschlag, der uns einen Weg mit weniger Problemen aufgezeigt hätte. Die Menschen brutal zu Hunderttausenden zurückzutreiben, hätte genauso wenig funktioniert wie alles andere. Wir mussten in diesem Augenblick eine Abwägung treffen, die wir mit unserem Gewissen vereinbaren konnten. Alle anderen Alternativen wären schlechter gewesen.
taz: Derzeit argumentiert die Union, nur mit einer sehr restriktiven Migrationspolitik könnten wir die Demokratie retten. Sehen Sie das auch so?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Altmaier: Bei der Bundestagswahl im Februar haben die demokratischen Parteien der Mitte, CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP allesamt ungewöhnlich schlecht abgeschnitten. Angesichts der monatelangen Lähmung der Ampel hätte ich nicht für möglich gehalten, dass wir als Union unser zweitschlechtestes Wahlergebnis seit 1945 einfahren würden, schlechter als bei den vier Wahlen von Angela Merkel. Das Migrationsthema war und ist sicherlich richtig, aber es gibt in weiten Teilen der Mittelschicht vor allem die Sorgen vor einem sozialen Abstieg durch immer größere Belastungen. Auch deshalb haben Parteien wie die AfD so enorm Konjunktur.
taz: Die Union vertritt einen harten Kurs in der Migrationspolitik, manchmal klingt sie fast wie die AfD. Den extrem Rechten kommt sie trotzdem nicht bei. Ist das der falsche Weg?
Altmaier: Man kann noch nicht beurteilen, ob es der neuen Regierung gelingt, die AfD zurückzudrängen, sie ist gerade einmal hundert Tage im Amt. Außerdem ist die Migrationspolitik der neuen Bundesregierung rhetorisch durchaus markig, aber in der Umsetzung sehr pragmatisch. Ich habe bei meinen Reisen ins benachbarte Ausland jedenfalls nicht den Eindruck gehabt, dass wir in einem Staat mit hermetisch geschlossenen Grenzen leben. Bisher kann man der neuen Regierung auch nicht den Vorwurf machen, dass sie sich von grundlegenden humanitären Standards verabschiedet hat.
taz: Wir wissen aus der Erfahrung in anderen Ländern und aus Untersuchungen, dass es Mitte-rechts-Parteien schwächt, wenn sie die Problembeschreibung der radikalen Rechten übernehmen. Macht Ihre Partei gerade einen Fehler?
Altmaier: Ich bin ja als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium auch bei Wolfgang Schäuble in die Lehre gegangen. Und er hat viele Male erklärt, dass man über Migrationsprobleme nicht öffentlich diskutieren, sondern sie lösen soll. Eines seiner Beispiele war stets, dass die CDU in Baden-Württemberg in den 80er Jahren eine Grundgesetzänderung gefordert hat, als es damals auch einen Flüchtlingsandrang gab. Die Grundgesetzänderung kam erst mal nicht, aber die Republikaner wurden in den Landtag gespült und die CDU hat fast ihre Regierungsmehrheit verloren. Danach hat Schäuble mit Otto Schily in vertraulichen Gesprächen den damaligen Asylkompromiss verhandelt.
taz: Die CDU hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert, der konservativ-wirtschaftsliberale Flügel hat sich durchgesetzt, die Liberalen in der CDU sind massiv geschwächt. Friedrich Merz ist Kanzler, Jens Spahn Fraktionschef. Ist das der Preis für damals?
Altmaier: Volksparteien stehen in der Mitte und manchmal bewegen sie sich etwas mehr an deren konservativem Rand und manchmal etwas mehr am liberal-progressiven. In den 16 Jahren der Regierung von Angela Merkel haben wir uns deutlich von den Grünen und der SPD unterschieden, haben uns aber immer um eine sehr integrative Politik bemüht, die auch die anderen demokratischen Parteien mit ins Boot genommen hat. In der Opposition ist jede Partei in der Versuchung, ihre eigene Politik stärker zuzuspitzen, früher SPD und Grüne, zuletzt wir mit CDU pur.
taz: Merz, Spahn und die anderen sagen klar: Die Migrationspolitik damals war ein Fehler, deshalb haben wir diese Politik jetzt korrigiert. Am deutlichsten wird das bei den Zurückweisungen an der Grenze, die jetzt durchgeführt werden. Sie und Merkel haben die damals abgelehnt, weil Sie sie für rechtlich nicht zulässig hielten. Haben Sie inzwischen Ihre Meinung dazu geändert?
Altmaier: Nein, Zurückweisungen sind nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur im Rahmen des europäischen Rechts möglich und deshalb nicht in jedem Fall. Aber mein Eindruck ist, dass man bislang sehr pragmatisch vorgeht und es bisher nicht zu einer vollständigen Politikwende gekommen ist. Ich bin davon überzeugt, dass auch Alexander Dobrindt um seine europäischen Verpflichtungen weiß. Und ich meine, dass in Friedrich Merz doch etwas mehr Angela Merkel steckt, als alle geglaubt haben.
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