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Shreteh verbrachte 37 Tage in Haft Foto: Roger Hagmann

Deutsche MigrationspolitikWegsperren, wegschicken

Der Asylsuchende Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft verbringen. Über eine traumatisierende deutsche Praxis.

Von Joscha Frahm aus Suhl/büren

A li Shreteh hat geweint, geschrien und das Ticket für den Abschiebeflieger zerrissen. Gebracht hat all das nichts. Ende November wurde der 21-jährige Syrer nach Kroatien abgeschoben. Die letzten 37 Tage vor seiner Abschiebung verbrachte er in Haft. Eine Straftat hat Shreteh nicht begangen. Doch in Deutschland, so sagt er, habe man ihn wie einen Verbrecher behandelt. „Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um in Deutschland eingesperrt zu werden.“

Mitte Dezember steht Shreteh in schwarzen Skinny-Jeans und dunkelgrüner Bomberjacke vor einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Kleinstadt Suhl, mitten im Thüringer Wald. Für das eisige Wetter ist er eigentlich zu kalt angezogen. Seine dunklen Augen wirken müde, immer wieder lächelt er schüchtern. Er ist nach einer guten Woche in Kroatien nach Deutschland zurückgekehrt, um erneut Asyl zu beantragen.

Wenn er von seiner Zeit in Abschiebehaft erzählt, lacht er manchmal kurz auf, greift sich an die Stirn, oder schüttelt ungläubig den Kopf. Er fingert an seinem Reißverschluss herum, scheint nicht genau zu wissen, was er mit seinen Händen machen soll. Schließlich zündet er sich eine Zigarette an. Die Sammelunterkunft verlässt Shreteh dieser Tage nicht häufig. „Ich muss vorsichtig sein“, sagt er.

Alleine Bahn fahren, in der Stadt spazieren gehen oder ein Paket Mate-Tee in dem kleinen arabischen Laden im Zentrum von Suhl kaufen – all das sei nicht ungefährlich. Dass Shreteh erneut in Abschiebehaft kommt, ist nicht ausgeschlossen. „Ich kann diese Angst nicht ganz abschütteln“, sagt der junge Mann und blinzelt unruhig.

Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um in Deutschland eingesperrt zu werden

Ali Shreteh, 21

Die Geschichte von Shreteh ist nicht außergewöhnlich. Jährlich inhaftiert der deutsche Staat mehrere tausend Asylsuchende, um sie leichter abschieben zu können. Ausländerbehörden können Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam beantragen. Dafür müssen sie nachweisen, dass sich die betroffene Person einer geplanten Abschiebung entziehen will und eine Abschiebung praktisch und rechtlich machbar ist. Ein Amtsgericht entscheidet dann, ob die Person in Haft kommt.

Die rechtlichen Hürden für die Anordnung von Ausreisegewahrsam sind niedriger als die für Abschiebehaft, auch die maximale Haftdauer unterscheidet sich. Bisher galt Abschiebehaft als „Ultima Ratio“ – also als letztes Mittel –, wie das Bundesinnenministerium schreibt. Steht eine mildere Maßnahme zur Verfügung, um die Abschiebung zu vollziehen, darf keine Haft angeordnet werden.

Die Haftzahlen steigen seit Jahren. Während 2015 bundesweit 1.850 Menschen in Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam saßen, waren es vier Jahre später 5.208, wie aus einer großen Anfrage der Linken im Bundestag 2021 hervorging. In den Folgejahren waren die Zahlen pandemiebedingt gesunken. Anfragen der taz an die Innen- und Justizministerien der Länder zeigen: 2024 wurden in Deutschland 6.498 Menschen im Rahmen von Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam inhaftiert, deutlich mehr also als vor der Pandemie. Gleichzeitig war die Gesamtzahl der Abschiebungen niedriger als 2019.

Blick auf die Erstaufnahme-Einrichtung in Suhl, in der Ali Shreteh untergebracht ist Foto: Roger Hagmann

In 13 dafür vorgesehenen Einrichtungen stehen bundesweit rund 800 Abschiebehaftplätze zur Verfügung. Mehrere hundert weitere sollen in den kommenden Monaten entstehen, unter anderem in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Auch die durchschnittliche Haftzeit steigt. 2019 saßen Menschen im Schnitt 19,1 Tage in Abschiebehaft, 2024 waren es durchschnittlich 24,4 Tage.

Dafür sind laut Bundesländern unter anderem die Rechtsverschärfungen der vergangenen Monate verantwortlich. Im Februar 2024 hatte die Ampelregierung das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen – eine von ­zahlreichen Aslyrechtsverschärfungen in den letzten dreieinhalb Jahren. Menschen können seitdem statt bisher 10 bis zu 28 Tage im Aus­reisegewahrsam festgehalten werden. Im Rahmen von Abschiebehaft können Menschen nun 6 Monate inhaftiert werden, in Ausnahmefällen sogar bis zu 18 – vorher waren es maximal 3 Monate gewesen.

Auch die möglichen Haftgründe wurden erweitert. Nun kann zum Beispiel schon eine un­erlaubte Einreise ins Bundesgebiet ausreichen, um ein halbes Jahr in Haft zu rechtfertigen. Ob die Rechtsverschärfungen ihren Zweck einer konsequenteren Abschiebepraxis erfüllen, ist fraglich. Die Folgen für die betroffenen Menschen wiegen dagegen schwer. Unter einer CDU-geführten Bundesregierung könnte sich die Lage noch deutlich zuspitzen.

In ihrem Fünfpunkteplan, den die Union vergangenen Mittwoch im Notfall auch mit Stimmen der AfD durch den Bundestag bringen wollte, fordert sie, dass ausreisepflichtige Personen künftig „unmittelbar in Haft genommen werden“ sollen. Container und alte Kasernen sollen genutzt werden, um mehr Haftplätze zu schaffen. Im Wahlprogramm fordert die Union zudem eine Art Beugehaft: Straf­tä­te­r:in­nen sollen nach Absitzen der Strafhaft für unbestimmte Dauer in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Bis sie freiwillig ausreisen.

Es ist still im größten Abschiebegefängnis Deutschlands. Mitte Januar ist die Sonne noch zu schwach, um den Schnee im Innenhof zum Schmelzen zu bringen. Dicke Betonmauern und Stacheldrahtzaun umgeben das Gelände der ehemaligen Nato-Kaserne, die mitten in einem Waldstück bei Büren liegt, einer Stadt bei Paderborn. Kameras überwachen den Bereich rund um die Mauer, die an der höchsten Stelle 12 Meter in den blauen Himmel ragt. Die Fenster der roten Backsteingebäude, in denen 124 Männer auf ihre Abschiebung warten, sind von außen vergittert.

„Die Menschen genießen bei uns in Haft eigentlich ein normales Leben, nur eben minus die Freiheit“, sagt Johanna Korter, die die Einrichtung seit Mitte 2024 leitet, während sie durch den Schnee stapft. Fotos vom Stacheldrahtzaun wolle man lieber nicht in der Zeitung sehen, so etwas könne leicht aus dem Kontext gerissen werden. Hier in Büren sei man stolz auf das vielfältige Freizeitangebot, das man den Inhaftierten biete. Einen Fitnessraum, eine Holzwerkstatt, sogar eine kleine Bibliothek gibt es.

In die dunklen Stahltüren der Zellen sind kleine Luken eingebaut. „Um zu gucken, ob der Untergebrachte noch lebt“, erklärt ein uniformierter Beamte, der über das Gelände führt. In jeder Zelle steht ein einfaches Bett, ein kleiner Tisch, außerdem Kühlschrank, Wasserkocher und ein Fernseher. Der Boden ist grau gefliest, in jeder Zelle gibt es eine Toilette. In den hellblau gestrichenen Gängen hängen große Digitaluhren von der Decke. An den roten Ziffern können die Gefangenen ablesen, wie viel Zeit bleibt, bevor sie nach Kroatien, Bulgarien, Afghanistan oder in den Iran abgeschoben werden. Mit ihnen zu sprechen, sei aus organisatorischen Gründen nicht möglich, hatte die Pressestelle im Vorfeld mitgeteilt.

Aussicht auf Abschiebung: Blick aus einer Zelle der Abschiebehaftanstalt Büren Foto: Socrates Tassos/imago

Wer in Büren ankommt, muss zuerst in die sogenannte Kammer. Ein weißer Raum, in dessen Mitte ein blauer Stuhl steht. Die Inhaftierten müssen sich ausziehen, bevor ein Uniformierter sie durchsucht. Bargeld und Smartphones müssen abgegeben werden. Sie bekommen Kochgeschirr, ein Tastenhandy mit SIM-Karte, Kleidung und Turnschuhe ausgehändigt. Besonders wichtig sei, dass keine spitzen Gegenstände mit aufs Gelände genommen würden, erklärt ein junger Uniformierter, der einen Schlüsselbund und Pfefferspray am Gürtel trägt. Immer wieder war es in deutschen Abschiebehafteinrichtungen zu Suiziden gekommen, so auch 2018 in Büren. Damals hatte sich ein 41-jähriger Georgier in seiner Zelle erhängt.

Asyl- und Auf­ent­halts­rechts­ex­per­t:in­nen schlagen Alarm. Die Zahl der unrechtmäßig Inhaftierten sei extrem hoch, sagt etwa Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, der seit 2001 über 2.500 Betroffene von Abschiebehaft vor Gericht vertreten hat. „In rund der Hälfte der von mir geführten Verfahren haben Gerichte später entschieden, dass meine Man­dan­t:in­nen zumindest teilweise zu Unrecht in Haft saßen“, sagt Fahlbusch. Eine Untersuchung der Universität Hamburg kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Demnach stellten sich 60 Prozent der Abschiebehaftbeschlüsse, die zwischen 2015 und 2022 vor dem Bundesgerichtshof landeten, als rechtswidrig heraus.

In vielen Fällen werde nicht sorgfältig genug geprüft, ob ein Haftgrund vorliege, sagt Fahlbusch. „Die Ausländerbehörde behauptet dann zum Beispiel, sie habe die Betroffenen bei einem Abschiebungsversuch nicht vorgefunden oder es bestehe Fluchtgefahr, obwohl das nicht ausreichend belegt werden kann.“ Manchmal würden auch Menschen inhaftiert, bei denen gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind. Auch die Haftdauer sei häufig nicht gerechtfertigt.

Besonders problematisch sei, dass in den meisten Fällen Monate oder Jahre vergingen, bis die Rechtswidrigkeit der Haft festgestellt werde. In der Zwischenzeit sei die Mehrzahl der inhaftierten Menschen bereits abgeschoben worden.

Peter Fahlbusch sagt, zwischen Ausländerbehörden und Amtsgerichten habe sich zum Teil ein bedenkenswerter Mechanismus etabliert. „Wenn die Ausländerbehörde einen Haftantrag stellt, sagen die Gerichte oft: Das wird schon so passen.“ Dafür gebe es unterschiedliche Gründe. Hin und wieder hätten Amts­rich­te­r:in­nen nicht ausreichend Erfahrung mit aufenthaltsrechtlichen Fragen. Außerdem bestehe ein nicht zu unterschätzender politischer Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen. Es mache gelegentlich den Eindruck, dass dieser Druck auch auf die Haftentscheidungen der Gerichte durchschlage.

Auf taz-Anfrage dementiert ein Großteil der Justizministerien der Länder, dass Fehlentscheidungen in dem Ausmaß, von dem Ex­per­t:in­nen berichten, getroffen würden. Die Ausländerbehörden und Amtsgerichte würden stets sorgfältig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen würden, heißt es. Systematisch erhoben wird die Zahl der zu Unrecht inhaftierten Personen in den meisten Bundesländern nicht. Auch konkrete Maßnahmen gegen unrechtmäßige Inhaftierungen von abgelehnten Asyl­be­wer­be­r:in­nen können auf Anfrage nicht genannt werden. Peter Fahlbusch sagt: „Abschiebehaft und die dazugehörigen Verfahren sind eine ziemliche Blackbox.“ Es sei unverständlich, dass keine Zahlen zu unrechtmäßigen Inhaftierungen erhoben würden.

Manchmal würden laut Ex­per­t:in­nen auch Menschen inhaftiert, bei denen gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind

In den Justizministerien der Länder sieht man das offenbar anders. Bei der Justizministerkonferenz im Dezember stimmte eine Mehrheit dafür, dass Betroffenen von Abschiebehaftverfahren in Zukunft kein Pflichtanwalt mehr zur Verfügung gestellt werden solle. Die verpflichtende Beiordnung eines Rechtsbeistandes für Betroffene von Abschiebehaftverfahren war erst im Rahmen des „Rückführungsverbesserungsgesetzes“ im Februar eingeführt worden – auf Drängen der Grünen.

Peter Fahlbusch sagt: „Dass die Justizministerkonferenz den Paragrafen wieder abschaffen möchte, ist skandalös.“ Zwar sei die bisherige Regelung nicht optimal, denn in der Praxis würden häufig An­wäl­t:in­nen bestellt, die sich nicht vertieft mit dem Aufenthaltsrecht auskennen würden. Aber immerhin sei die Beiordnung von Pflicht­an­wäl­t:in­nen ein erster Schritt, um die Rechte der Betroffenen zu wahren.

In dem Beschluss der Justizministerkonferenz heißt es, die Verfahren würden durch die Bestellung von Pflicht­an­wäl­t:in­nen „zeitintensiver sowie komplexer“. Rückführungen würden dadurch erschwert. Dass der Paragraf zu einer Mehrbelastung der Gerichte geführt habe, möge stimmen, sagt Peter Fahlbusch. „Nur: Es war schon immer etwas mühseliger, rechtsstaatlich zu verfahren.“

Die Bundesländer argumentieren auf Anfrage, in vielen Fällen würden Abschiebungen scheitern, weil sich die Betroffenen der Maßnahme entziehen würden. Abschiebehaft wirke dem entgegen.

Nach Meinung der Anstaltsleitung ganz anders als ein Knast: die Abschiebehaftanstalt Büren Foto: Socrates Tassos/imago

Der Preis, den die Länder dafür zahlen, ist hoch, auch finanziell. Die Innenministerkonferenz schätzte im Juni 2024, dass der Betrieb einer Haftanstalt mit 100 bis 200 Plätzen mindestens 5 bis 15 Millionen Euro im Jahr erfordere. Der Neubau einer Einrichtung dieser Größe koste, wie Erfahrungen aus Bayern zeigen würden, knapp 58 Millionen Euro. Dazu kommen Entschädigungssummen, die die Länder im Falle einer unrechtmäßigen Inhaftierung zahlen müssen.

Laut Peter Fahlbusch beläuft sich die Entschädigung im Schnitt auf 75 Euro pro Tag, den eine Person zu Unrecht in Haft saß. Geht man davon aus, dass davon jährlich tausende Personen betroffen sind, die meist wochenlang in Haft sitzen, kämen mehrere Millionen Euro dazu. Peter Fahlbusch sagt, es sei wichtig, Haftverfahren weiterzuführen, auch wenn die Menschen schon abgeschoben oder anderweitig aus Haft entlassen wurden. „Wenn der Staat am Ende Entschädigungszahlungen leisten muss, wird in Zukunft vielleicht genauer hingeschaut.“

Im Suhler Stadtzentrum duftet es nach Glühwein und Schmalzgebäck. Während Ali Shreteh über den Weihnachtsmarkt schlendert, wirkt er entspannt. „Ich will, dass Deutschland mein Zuhause wird“, sagt er. Er sei erleichtert, wieder hier zu sein, habe aber gleichzeitig Angst, wie es weitergehe. „Was ist schlimmer, ein kroatischer Polizeihund, der sich in deinem Arm festbeißt, oder ein paar Wochen im deutschen Gefängnis?“, fragt er und weiß selbst keine Antwort. Immer wieder berichten Asylsuchende von Polizeigewalt und Pushbacks durch kroatische Behörden. Auch Shreteh hat solche Erfahrungen gemacht.

„Deutschland hat für mich zwei Gesichter“, sagt Shreteh. Da seien Hoffnung und der Glaube an eine bessere Zukunft. Auf der anderen Seite stünden Zweifel, Angst und Enttäuschung. Die Enttäuschung, von der Shreteh erzählt, beginnt zwei Monate zuvor. Als Shreteh Mitte Oktober von der Ausländerbehörde des Unstrut-Hainich-­Kreises in Thüringen vorgeladen wird, um seine Duldung zu verlängern, warten dort Polizeibeamte auf ihn. „Sie haben mir Handschellen an Händen und Füßen angelegt und mich zur Polizeistation gebracht“, erzählt er. Schon am nächsten Tag wird er das erste Mal nach Kroatien abgeschoben. „Ich war von meiner Festnahme komplett ­überrumpelt“, sagt Shreteh.

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Rund eine Woche später kehrt der junge Mann nach Deutschland zurück und wird erneut von Polizeibeamten aufgegriffen. Diesmal an einem Bahnhof in Nordthüringen. Nach einer Nacht in der Zelle kommt er vor Gericht. Erst hier erfährt Shreteh, dass er eingesperrt werden soll. In dem Haftantrag der Ausländerbehörde, der der taz ­vorliegt, heißt es, Shreteh habe in einer Befragung gesagt, dass er nicht nach Kroatien zurückkehren wolle, obwohl er ausreisepflichtig sei. Außerdem sei Shreteh illegal in das Bundesgebiet eingereist.

Gerade einmal eine Stunde und 18 Minuten dauert die Anhörung vor dem Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt. „Der Betroffene teilt mit, dass er jetzt in einen Hungerstreik treten wird und er sterben möchte“, steht im Sitzungsprotokoll. Auch, dass er nun freiwillig nach Kroatien ausreisen wolle, beteuert Shreteh. Die beiden letzten Sätze, die der 21-jährige vor Gericht sagt, lauten: „Ich möchte mich umbringen im Knast. Ich kann das nicht aushalten.“

Das Gericht ent­scheidet, dass Shreteh bis Ende November in Haft bleiben muss. Weil Thüringen bisher über keine eigene Einrichtung verfügt, kommt Shreteh nach Ingelheim, ­einer Kleinstadt bei Mainz. Auf taz-­Anfrage schreibt das Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt, dass Abschiebehaftverfahren zwar relativ selten vorkämen, grundsätzlich aber ausreichend ­Ressourcen zur Verfügung stünden, um Haft­anträge sorgfältig zu prüfen. Ob sich Shretehs Inhaftierung als rechtswidrig herausstellen könnte, ist unklar. Gegen den Haftbeschluss hat Peter Fahlbusch, der den Fall übernommen hat, Beschwerde eingelegt. Eine Entscheidung steht noch aus.

Als Shreteh in der Abschiebehafteinrichtung ankommt, fallen ihm zuerst die grünen Gitterstäbe und die sterilen Flure auf. „Alles hat mich an die Gefängnisserien erinnert, die ich früher gerne geschaut habe.“ Diese Fernsehserien lösten mittlerweile kalte Schauer auf seinem Nacken aus, erzählt er.

Die ersten acht Tage verbringt Shreteh in ­Einzelhaft. „Als die Zellentür zum ersten Mal geschlossen wurde, wusste ich: jetzt bin ich alleine mit meinen Gedanken.“ Sein Herz sei gerast, er habe sich auf den kalten Boden gelegt und ­gewartet, bis er besser atmen konnte. „Die Uniformierten haben mir gesagt, die ersten Tage sind ein Test.“ Auf Anfrage schreibt die Einrichtung in Ingelheim: „Neuankömmlinge werden zu Beginn ihres Aufenthaltes im geschlossenen Flur ­untergebracht.“ So könne man die Bedürfnisse der untergebrachten Personen besser beurteilen.

Die Bedingungen in Abschiebehafteinrichtungen sind umstritten. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus 2014 und 2022 schreiben vor, dass diese nicht wie Strafhaft gestaltet werden darf. Die Innenministerien der Bundesländer betonen auf Anfrage, mehr Hofgang, Freizeitangebote und eine engmaschige psychologische Unterstützung würden Abschiebehaft im Gegensatz zur Strafhaft auszeichnen. Von der Abschiebehafteinrichtung in Ingelheim heißt es, Gitter, Mauern und Zäune seien mangels geeigneter Alternativen hinzunehmen.

In Büren gibt man sich Mühe, die Unterschiede zur Strafhaft betonen. Die bunten Kugeln im Billardzimmer, Crosstrainer und Hantelbänke im Fitnessraum und der verschneite Fußballplatz sollen die Inhaftierten wohl auf andere Gedanken bringen. Nach einer Woche Einzelhaft können sie sich innerhalb der Betonmauern tagsüber frei bewegen, mit ihren Tasten-Handys telefonieren und rauchen.

Bei ihrer Ankunft wird den Inhaftierten Tabak angeboten. „Um erst mal ein bisschen runterzukommen“, erklärt ein Uniformierter, während er die Schublade mit den roten Tabakpäckchen, Filtern und Blättchen präsentiert. Für zwei bis drei Euro Stundenlohn dürfen die Inhaftierten unter Anleitung Holzarbeiten herstellen, die später verkauft werden. Ein Psychologe, drei Sozialarbeiter, zwei Seelsorger und ein Imam sollen sich um den Rest kümmern.

Ein Seelsorger, der in einer anderen großen deutschen Abschiebehafteinrichtung tätig ist, berichtet der taz am Telefon: „Die normalen Verdrängungsmechanismen funktionieren in Abschiebehaft nicht.“ Mit den Gesprächs- und Freizeitangeboten könne man zwar ein bisschen gegensteuern. „Diese ganz tiefsitzende Verzweiflung der Menschen, kann man aber nicht auflösen.“

„Im Gefängnis hört man nur traurige Geschichten. Die Träume der Menschen zerbrechen dort.“, erzählt Shreteh. Eine immer größere Leere habe sich in ihm ausgebreitet. „Ich habe Syrien so vermisst wie noch nie“, sagt Shreteh. Seine Stimme klingt heiser, wenn er von seiner Familie spricht, die noch in seiner Heimatstadt Homs lebe. Auch für sie sei er nach Deutschland gekommen. „Die Zelle hat sich plötzlich sehr klein angefühlt.“ Zurück nach Syrien zu gehen sei trotzdem nie eine Option gewesen, sagt Shreteh. Selbst dann nicht, als er vom Sturz des Assad-Regimes erfahren habe.

Er zieht sein Hosenbein hoch und zeigt auf die lange weiße Narbe, die sein Schienbein zeichnet. „Als ich 10 Jahre alt war, hat ein Bombensplitter mich fast mein Bein gekostet.“ Wenige Jahre später sei seine Mutter im Bürgerkrieg gestorben. „Dass Syrien jetzt sicher ist, ist Quatsch“, sagt Shreteh und schluckt. Die politische Debatte mache ihm Angst, sagt Shreteh. Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sind ebenfalls Teil des Fünfpunkteplans der Union.

Als sich seine Zelle Ende November nachts öffnet, stehen dort, laut Aussage Shretehs, fünf Polizeibeamte. Sie bringen ihn nach Hamburg zum Flughafen, von dort aus geht der Charterflug nach Kroatien. „Ich habe mich wie ein Schwerverbrecher gefühlt“, sagt Shreteh und blickt nachdenklich auf seine Hände.

Er zögert, wenn man ihn fragt, ob er das deutsche Rechtssystem als unfair wahrnehme. „Ich habe das Gefühl, man kann Glück oder Pech haben“, sagt Shreteh. „Und ich hatte eben Pech.“ Schulterzucken. „Die deutschen Behörden haben versucht, mich zu brechen“, sagt Shreteh. „Aber ich habe es geschafft, da durchzukommen.“

Wohl auch, weil Shreteh Menschen um sich hat, die ihn bei seiner Suche nach einem sicheren Ort zum Leben unterstützen. Ak­ti­vis­t:in­nen und Freunde setzen sich für Shreteh ein, um ihn in Zukunft vor den hohen Betonmauern, den kroatischen Polizeihunden und dem Alleinsein zu schützen.

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18 Kommentare

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  • "Einen Fitnessraum, eine Holzwerkstatt, sogar eine kleine Bibliothek gibt es."



    Es sind immer so die Details in solchen Artikeln, die einem das ungute Gefühl geben, daß nicht wirklich so recht Recherche und Sachkenntnis walten. Ich glaube nicht, daß es auch nur ein Gefängnis gibt, in dem man keine Bücher ausleihen kann, allerdings ist es sehr schön, wenn man in einem arabischen Lädchen Mate bekommt, ich war immer verwirrt, zu glauben, daß dies ein südamerikanisches Getränk ist. Ich glaube durchaus, daß es dem oben genannten Menschen nicht gut geht, weil er Angst vor einer erneuten Abschiebung hat, aber ziemlich viel der "Dekoration" des Artikels scheint wenig schlüssig. Das Gefühl beim Lesen, daß man da ein wenig hinter die Fichte geführt wird, ist der an sich guten Sache wenig dienlich und erinnert ein wenig an Journalistenpreisträger, in deren Erzählung etwa ein US-Amerikaner im Kraftwerk Kohle schaufelt in einem dunklen Wald in der Prairie oder Russen, die sich vom letzten Geld eine Pizza teilen, in einem Ort, in dem es keine Pizzeria gibt. Man käme ohne diese Details aus, aber sie senken die Glaubwürdigkeit erheblich.



    (Nicht böse gemeint, eher im Gegenteil)

  • Ist das Essay ein Plädoyer dafür, Asylverfahren abzuschaffen und Geflüchteten automatisch ein Bleiberecht zu gewähren, nur weil es die emotionale Perspektive eines Betroffenen schildert? Schließlich hatte die Person keinen Asylanspruch, wurde zwei Mal ausgewiesen und landete wegen erneuter Einreise im Gefängnis.

  • Also ist er mittlerweile zum dritten Mal hier???



    Danke für diese Reportage - sie ist der beste Beweis das wir unsere Grenzen sichern müssen damit geltendes Recht endlich durchgesetzt werden kann.



    Es ist absurd das Menschen die abgeschoben wurden EINE Woche später schon wieder hier auf der Matte stehen.



    Das kann einfach nicht sein.



    Der völlige Rechtsdrall, die aufgeheizte Stimmung im Land und dieses unwürdige Schauspiel gestern hätten locker verhindert werden können, wenn die regierenden Parteien der letzten 10 Jahre auf ihrer im Überfluss getätigten Worte auch mal hätten Taten folgen lassen 🤷‍♂️



    Das Kollektivversagen von Union, SPD, FDP und Grünen ist beispiellos in der Migrationsfrage und unisono sind sie verantwortlich dafür, dass in einem Monat jeder 5. Abgeordnete der AfD angehört 🤮

  • Was heißt denn ,dass er für seine Familie hier ist? Soll die perspektivisch auch kommen? Oder will er Geld heimschicken?

  • Also Deutschland ist ein furchtbares Land, aber nach einer Woche Kroatien - was zuständig wäre, ist er wieder hier. Stellt erneut einen Antrag, der Wochen dauert geprüft zu werden. Wenn es ihm um Sicherheit ginge (und das ist doch der Grund für Asyl) hat er diese in Kroatien genauso.

    • @Strolch:

      Gar nichts verstanden. Warum fühlen Sie sich denn gleich auf den Schlips getreten, wenn jemand was schlechtes über ihr schönes Toitschland sagt?

      • @Bartleby208:

        Na dann, erklären Sie es mir doch.

  • Aufgrund der Dublinverordnung sitzt Deutschland wie eine fette Henne umgeben von ihren zahlreichen "Küken" bequem im sicheren Zentrum Europas. Infolgedessen ist es in den meisten Fällen nicht zuständig für die Prüfung des Antrags auf Schutz. Bisher werden deshalb die meisten Fälle Schutzsuchender nach dem Selbsteintrittsrecht durchgeführt, bei dem Deutschland auf die Rücküberstellung des Schutzsuchenden in den für das Verfahren ursprünglich zuständigen Staat verzichtet. Das hat menschenrechtliche oder systemische Gründe. Der Status der Schutzsuchenden ist oft mehr als fragil und setzt durch die Flucht traumatisierte Menschen unter Dauerstress. Viele sind am Ende nur "geduldet" und es wird ihnen das - nicht ganz unbegründete - Gefühl vermittelt, dass sie jederzeit abgeschoben werden können. Mit ein wenig Empathie kann man sich gut vorstellen, was in einer/einem Geflüchteten vorgeht, die/der, in einen leeren Raum gesperrt, sich vollständig entkleiden muss, nicht versteht, was mit ihr/ihm als nächstes geschehen wird und ihre/seine Rechte nicht kennt. (Re)traumatisierung ist die fast zwingende Folge. Ich selbst habe einige Geflüchtete kennengelernt und bewundere sie für ihre Resilienz.

    • @Klabauta:

      Deutschland macht doch in der Regel gerade nicht vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch. In den weitaus meisten Fällen fehlt es an der vorhergesehenen Registrierung im Ausland. Problematisch sind auch die kurzen Überstellungsfristen und in bestimmten Ländern auch der Unwille zur Aufnahme.

      Von Freiwilligkeit kann kaum die Rede sein.

    • @Klabauta:

      Sie werfen jetzt mal einen Blick auf die Zahlen pro 1000 Einwohner. Es dürften ein paar Jahre vergehen, bis die Küken außen herum aufgeschlossen haben.

    • @Klabauta:

      Nein, weil sich die anderen Länder um Dublin wenig kümmern und die Menschen nach Deutschland durchwinken. Rücküberführungen scheitern zudem ebenfalls meistens.

    • @Klabauta:

      Trotz Dublin-Verordnung nimmt Deutschland faktisch alle auf, mit allen Kosten und Sicherheitsrisiken.

      Sehr bequem für unsere Nachbarländer.

  • Was will uns der Bericht sagen? Dass es vermeintlich unmenschlich und verwerflich ist geltendes Recht durchzusetzen?

    So lange die Gesetze sind wie sie sind, ist jemand ohne Aufenthaltsrecht abzuschieben; ganz egal er er möchte, dass Deutschland sein zu Hause wird oder nicht.

    Möchte man es ändern, kann man sich eine Mehrheit suchen und dann die Gesetze ändern.

  • "Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft verbringen"

    Nein, musste er nicht. Er hätte das Gesetz befolgen und ausreisen können. Statt dessen hat er gutes Geld der Steuerzahlenden verschwendet.

    Und die beschriebene erneute Einsreise sollte als Ausschlussgrund für das Asylverfahren in das Gesetz mit aufgenommen werden.

    Und da wundern sich die Leute über die wachsende Unzufriedenheit über die Regierung.

  • Aus dem Artikel kann man es eigentlich nur erahnen: Wenn ich es richtig deute, ist aber eigentlich Kroatien für seinen Asylantrag zuständig. Das hat man, so nehme ich an, auch Herrn Shreteh deutlich gemacht. Warum versucht er es dennoch ein zweites Mal in Deutschland? Ein Menschenrecht auf ein bestimmtes Asylland gibt es nämlich nicht.

    • @Schalamow:

      Weil sich Kroatien illegaler Pushbacks bedient, um Asylanträge zu vermeiden.



      Dort wird das Asylrecht ausgehebelt. Im immer gern zitierten Dublin-Verfahren ist im Übrigen auch vorgesehen, dass Menschen nicht in Länder abgeschoben werden dürfen, in denen sie kein rechtmäßiges Asylverfahren erwarten können. Wird immer gern vergessen bei den Dublinbeschwörern.



      Leider ahndet die EU diese Verstöße gegen das europäische Asylrecht, die zahlreiche Länder regelmäßig begehen, auch nicht. Im Gegenteil, Frontex ist nachweislich vielfach an illegalen Pushbacks beteiligt.



      Aber wer gesteht schon gern ein, dass wir uns als EU strukturell rechtswidrig verhalten......

    • @Schalamow:

      Das mag sein, aber in Deutschland wird er viel besser versorgt und alles darunter ist dich Menschenunwürdig.

      • @Jörg Radestock:

        Nur die Bestversorgung stellt Menschenwürdigkeit her?