Wahlprogramm von CDU/CSU: Von wegen Maß und Mitte
Geht es nach der Merz-Söder-Union, wird das Land nach der Bundestagswahl ein anderes sein – mit reicheren Reichen, ärmeren Armen, ohne Geflüchtete.
Sieben Wochen vor der Wahl scheint sicher, dass die Union der nächsten Regierung angehören wird. Wahrscheinlich wird sie diese auch anführen. Wie ticken die Christdemokraten 2025?
Bereits der erste Satz des Wahlprogramms der Union weist die Richtung: „Unsere Bundesrepublik Deutschland ist eine großartige Erfolgsgeschichte: Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Weltmeistertitel, Westbindung, Friedliche Revolution, Wiedervereinigung und Aufbauleistung der Ostdeutschen, Wohlstand“. Der Satz geht noch weiter. In diesem Erfolgsstakkato ohne Verben, aber mit viel W wie „Westen“, wirkt die „Aufbauleistung der Ostdeutschen“ schon sprachrhythmisch wie ein Stolperdraht.
Die Union ist wieder eine westdeutsche Männerpartei mit einer Neigung zu zackigen Sätzen geworden, in denen kein Zweifel nisten darf. „Machen statt reden! Regieren statt streiten! Mit ‚Made in Germany‘ wieder an die Spitze!“, dröhnt es. Weg mit dem Relativsatz! Her mit dem Ausrufezeichen! Die zugespitzte Formel dieses „Politikwechsel für Deutschland“ betitelten Programms könnte lauten: Deutschland früher toll. Ampel schlimm, Union besser.
Damit es wieder aufwärts geht, will die Union Steuern senken. Der Soli für Reiche soll weg, der Spitzensteuersatz erst für höhere Einkommen gelten. Unternehmen sollen weniger Steuern zahlen. Die Stromsteuer soll gestrichen werden. Wenn das realisiert wird, klafft ein Loch von fast 100 Milliarden Euro im Haushalt. Weil die Schuldenbremse für die Union in Stein gemeißelt ist, fragt sich, wie das funktionieren soll. Bei der Vorstellung des Programms beschied Friedrich Merz kurz und knackig, das sei gar kein Problem: Der Staat gebe „50 Milliarden für Flüchtlinge, 50 Milliarden für Bürgergeld“. Da könne man zwar nicht alles streichen, aber viel.
Beunruhigendes Verhältnis zu Fakten
Im Wahlkampf wird nicht immer die reine Wahrheit gesagt. Aber hier offenbart sich ein beunruhigend dehnbares Verhältnis zu den Fakten. Für Geflüchtete gibt der Staat nicht 50, sondern weniger als 30 Milliarden aus. Bürgergeld oder Grundsicherung können nicht um zweistellige Milliardenbeträge gekürzt werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat untere Grenzen definiert, weil die Bundesrepublik laut Grundgesetz ein „sozialer Rechtsstaat“ und nicht der Nachtwächter des neoliberalen Manchester-Kapitalismus ist. Daran ändern erfreulicherweise auch die Hauruck-Hauptsätze der Union nichts. Zu suggerieren, man könne die Bürgergeldkasse einfach plündern, ist unlauter. Die Union weiß, dass die Weiterbildung von Arbeitslosen genau das Geld kostet, mit dem sie die Reichen zu beglücken verspricht.
Die Senkung der Unternehmenssteuer ist zwar ein bekannter Textbaustein der Unions-Programmprosa. Doch nimmt man all diese Steuerpläne zusammen, ist dies das wirtschaftsliberalste Programm der Union seit 2005. Es erinnert an die Heilslehre des Neoliberalismus: Gebt den Reichen, dann wächst die Wirtschaft, die Steuern sprudeln, und alle sind glücklich.
„Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts“, heißt es im Programm. Die Union denkt dabei unter anderem an Mehrwertsteuersätze für Gaststätten und versucht ihre etwas unernst wirkende neoliberale Gläubigkeit rhetorisch mit existenziellem Ernst aufzudonnern. Die Kirchen – die auf 79 Seiten dreimal pflichtschuldig erwähnt werden – spielen im aktuellen Programm der Union keine Rolle. Die Union glaubt dafür umso entschlossener an die Wunderkräfte des Marktes.
Die geplanten Steuersenkungen kommen nur zu einem kleinen Teil der Mehrheit zugute. Die Reichen, die oberen zehn Prozent, werden hingegen großzügig mit rund 50 Milliarden Euro mehr pro Jahr bedacht. Die ohnehin große Kluft zwischen der unteren Hälfte und den oberen zehn Prozent soll somit größer werden. Um das fair zu finden, muss man wohl zu jener Gruppe gehören.
Strenger AfD-Geruch
Zugleich beschwört die Union den „Zusammenhalt unserer Gesellschaft“. Wie passt das zusammen? Die Union hat einen Begriff von Zusammenhalt, der eher das Gegenteil meint: Abgrenzung. Denn der Zusammenhalt wird in ihrer Sicht der Dinge durch das Bürgergeld bedroht, dessen Abschaffung „den Zusammenhalt stärken“ soll. Das Bürgergeld habe für böses Blut gesorgt, weil es stärker gestiegen sei als die Löhne.
Schlichtweg verschwiegen wird dabei, dass die Union das Bürgergeld mit beschlossen hat. Verschwiegen wird auch, dass die Inflation – 20 Prozent in vier Jahren – Ärmere härter getroffen hat als die Mittelschicht. Doch für die Union ist das Bürgergeld die Chiffre für alles Üble, mit dessen Ende luftigste Steuerversprechungen bezahlt werden sollen.
Das Bürgergeld taucht stets als „sogenanntes“ auf und wird zusätzlich in Anführungszeichen gesetzt, so, als wäre es ein stinkender Putzlumpen, den man sich vom Leib halten muss. All das ist Ressentimentbewirtschaftung auf dem Rücken Schwächerer, die streng nach AfD riecht.
Die zweite Gefahr für den Zusammenhalt kann in den Augen der Christdemokraten nur durch die deutsche „Leitkultur“ gebannt werden, zu der sich auch MigrantInnen gefälligst zu bekennen haben. Kurzum: Unter Zusammenhalt versteht die Union die Abwehr von allem, was dem biodeutschen Kollektiv bedrohlich erscheinen könnte – nämlich faule, gierige Arme und MigrantInnen.
Das zweite Hindernis, das für die erhoffte baldige Rückkehr in das goldene Zeitalter der vielen „W“ beseitigt werden muss, sind nach Deutschland geflüchtete Menschen. „Wir setzen einen faktischen Aufnahmestopp sofort durch“, heißt es grimmig entschlossen.
Wenn Deutschland Flüchtlinge in Zukunft zurückweist und ihnen das Recht verweigert, einen Asylantrag zu stellen, verstößt das gegen EU-Recht. Offenbar will die Union darüber so nassforsch hinweggehen wie Herbert Kickl, Chef der rechtsextremen FPÖ, der sagte: „Wir würden es einfach machen.“ Wenn Deutschland, das größte, mächtigste Land in der Europäischen Union, das außerdem die meisten Grenzen zu anderen EU-Staaten hat, dies praktizieren würde, könnte das Schengen-Abkommen implodieren.
Zur „Remigration“ ist es nicht mehr weit
Die Union aber strebt auf Biegen und Brechen das Ende des Asylrechts an. Asyl in Deutschland soll nur noch „in einem sicheren Drittstaat“ (wie Ruanda) beantragt werden können. Wenn es gewährt wird, gilt es nicht in Deutschland, sondern in Ruanda.
Dieser Exitus des Asylrechts wird als moralische Großtat verkauft, die „das menschenverachtende Geschäft der Schlepper“ zerschlagen würde. Von da ist es zur „Remigration“, die die AfD proklamiert, nicht mehr weit. Faktisch ist das Drittstaaten-Modell eher untauglich. Die Versuche von Großbritannien und Italien, Geflüchtete nach Ruanda und Albanien abzuschieben, wurden teils von Gerichten gestoppt und haben außer hohen Kosten nicht viel bewirkt.
Diese AfD-affine Rhetorik zeigt, dass die Merz-Söder-Union die Merkel-Ära nach 2015 rückgängig machen will. Sie will auch das Erbe der Ampel – Cannabislegalisierung und schnellere Einbürgerung, das Heizungs- und Selbstbestimmungsgesetz – abwickeln. Auch das ist ein Bruch mit dem auf Kontinuität ausgerichteten bundesdeutschen Modell, in dem selten Gesetze früherer Regierungen gekippt werden.
Dies ist eine neue Union mit einem radikaleren, härteren Tonfall. Im Wahlprogramm 2017 hieß es noch: „Heute leben wir im schönsten und besten Deutschland, das wir je hatten.“ Nach diesem biedermeierlichen Intro war klar, dass es in diesem „schönsten und besten“ Land naturgemäß nur Details zu verbessern gab.
Jetzt herrscht eine mitunter kopflose Tabula-rasa-Rhetorik, die den unionstypischen Maß-und-Mitte-Sound übertönt. So ist im Programm etwa zu lesen, dass die „individuelle Mobilität der Inbegriff von Freiheit“ sei. Daher müsse das Verbrenner-Aus fallen, das Tempolimit auf Autobahnen verhindert, der Parkplatz in der Stadt verteidigt werden.
„Inbegriff“ bedeutet die vollkommene, absolute Verkörperung von etwas, also dessen Wesen. Man sollte annehmen, dass demokratische Parteien die in der Verfassung verbrieften Grundrechte für den Inbegriff der Freiheit halten. Für die Union besteht das Wesen der Freiheit heute darin, mit 200 Kilometern über die Autobahn zu brettern und die Städte mit SUVs vollzuparken. Kaum zu glauben.
Mit Ausrufezeichen in die Vergangenheit
Politik in der Bundesrepublik ist ein langer, ruhiger Fluss. Es gab seit 1949 erst einen vollständigen Machtwechsel, 1998. Sonst regierte immer eine Partei weiter. Durchregieren, die geistig-moralische Wende, die neoliberale Revolution fanden so wenig statt wie eine linke Erstürmung der Zitadelle. Für die Union zählten Pragmatismus und Machterhalt zudem meist mehr als Programme.
Also alles nicht so schlimm? Der rabulistische Ton – Ampel ausradieren, MigrantInnen abschrecken, Reiche beschenken – weckt schon den Verdacht, dass hier der Bruch mit der Konsensdemokratie, neudeutsch „Disruption“, anvisiert wird. Die Republik soll mit Ausrufezeichen in eine Vergangenheit mit Verbrenner-Autos und Leitkultur gebeamt werden.
Die Union wird wohl zusammen mit der SPD oder den Grünen regieren. Wenn sie dieses Wahlprogramm wirklich ernst meint, kann sie „Regieren statt streiten!“ schon mal streichen.
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