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Vikarin Franziska Zellmer Foto: Piotr Pietrus

Evangelische Kirche im OstenWer will heute noch Pfarrer werden?

Ostdeutschland ist recht säkular. Aber oft sind es Kirchen, die Zivilgesellschaft Raum geben. Keine leichte Aufgabe angesichts der erstarkenden AfD.

Thomas Gerlach
Von Thomas Gerlach aus Berlin, Wittenberg und Leipzig

E s passieren schon merkwürdige Dinge in einer Kirche. Ausgerechnet als der Sarg im Altarraum steht, ist plötzlich ein Schmetterling da, flattert über den Köpfen der Trauernden durchs Kirchenschiff, als wäre draußen Sommer. Dabei ist Winter, die Feldsteinkirche eiskalt, Insekten liegen erstarrt in Fensterritzen, die Finger der jungen Organistin auf der Empore sind steif, und unten am Sarg predigt der Pastor von der Auferstehung. Und dann hüpft da dieser aufgetaute Schmetterling durch die Luft. Wie tröstlich. Wer seine Augen offen hält, sieht überall Wunder – eigentlich keine schlechte Botschaft am Ende des Jahres 2024.

Diese Geschichte vom auferstandenen Schmetterling stammt aus Franziska Zellmers Jugend. Die Erinnerung aus ihrem Heimatdorf im Märkischen, mit Psalmversen angereichert, ist heute die Predigt der angehenden Pfarrerin. Vorn am Altar brennt eine Fülle von Kerzen. Jeder Besucher hat eine davon entzündet, jede eine Erinnerung, ein Wunsch, ein Gebet. Das „Hallelujah“ von Leonard Cohen, das ein Musiker auf der Gitarre angestimmt hat, ist verklungen. Auf einer der Kirchenbänke schluchzt leise eine Frau. Es ist der 24. November, Totensonntag, in der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg.

Etwa sechzig Menschen sitzen hier auf den Bänken, genug, dass die Kirche, eine der größten von Berlin, belebt wirkt. Sie würde locker das Zehnfache fassen. Doch für die Hauptstadt sind sechzig Gläubige, abseits des stets gut gefüllten Berliner Doms, eine stattliche Gemeinde. Das Backsteingewölbe wird von einem mächtigen Radleuchter erhellt, und in den Mauersimsen dösen, wie in jeder Kirche, Insekten, die im Kirchenraum umherirren könnten, wenn Kerzenwärme sie weckt.

Franziska Zellmer lächelt und huscht mit wehendem Talar zur Sakristei. Der Gottesdienst ist vorbei. Sie ist jetzt dreißig Jahre alt und weiß, dass Gott bei der Sache mit dem Schmetterling in ihrer Dorfkirche, wo sie damals zu vielen Anlässen die Orgel spielte, nicht die Hand mit im Spiel hatte. Jedenfalls nicht direkt. Man muss als Predigerin das, was man erlebt, deuten können, in eine Erzählung betten, mit dem eigenen Glauben abgleichen und zum „Narrativ“ machen. Und es muss das Herz der Menschen erreichen.

Vikarin Eva Hochmuth Foto: Thomas Victor

Franziska Zellmer ist das gelungen. Die junge Frau steht kurz vor ihrem Berufsziel. Sie wird Pastorin in der evangelischen Kirche im Osten Deutschlands. Die ist für den christlichen Glauben seit der vierzigjährigen SED-Herrschaft ein ausgetrockneter Weinberg. Was dort aber noch besonders prächtig gedeiht, ist das Gedankengut der AfD. Trotzdem wirkt Zellmer sehr zufrieden, vielleicht sogar glücklich.

Bundesweit verlieren die Kirchen massiv an Mitgliedern. Ende 2023 gehörten noch rund 18,5 Millionen Menschen einer der zwanzig evangelischen Landeskirchen an, was einen Rückgang binnen Jahresfrist um gut 3 Prozent bedeutet. Der Schwund hält seit Jahren an. Eine Vorhersage der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, geht inzwischen davon aus, dass sich im Jahr 2060 kaum noch 10 Millionen Evangelische im Mutterland der Reformation finden könnten. Im Osten, der Heimat des Reformators Martin Luther, noch einmal deutlich weniger. 1 Million evangelischer Christen könnte es dann noch geben, heute sind es 2,4 Millionen. Wer will mit solchen Aussichten Pastorin werden?

„Auf gar keinen Fall habe ich gedacht, jetzt werde ich mal Pfarrerin“, beginnt Franziska Zellmer und erzählt, wie sie als junge Frau, die aus einem kirchlich geprägten Elternhaus in Brandenburg stammt, zunächst Medizin studieren will. Das aber scheitert am Numerus clausus. Dann beginnt sie ein Pharmaziestudium, das an den endlosen chemischen Formeln scheitert. Zellmer lacht. „Und dann habe ich überlegt: Was ist das, was du eigentlich machen willst?“

Hat sie nicht schon mehrere Jahre mit ihrem Orgelspiel, das sie eher zufällig erlernt hatte, Gottesdienste, Trauungen, Taufen und jede Menge Beerdigungen erlebt? Pastorinnen und Pastoren dabei beobachtet, wie sie mit Menschen umgegangen sind, die an den Weggabelungen des ­Lebens stehen, den schönen und den beängstigenden. Und wie dankbar viele dabei waren?

Mutter im Gemeinderat

Ihre Mutter ist in der kleinen Dorfgemeinde Vorsitzende im Gemeindekirchenrat, dem Selbstverwaltungsgremium in jeder Kirchengemeinde, in dem schon zu DDR-Zeiten demokratisches Handeln eingeübt werden konnte. Überhaupt, die DDR. „Die Kirche hat sich immer nach Widerstand und Protest angefühlt. Das hat mich als Kind total fasziniert“, sagt Zellmer. „Ich selbst bin zu spät geboren für ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ und zu früh für ‚Fridays for Future‘.“ Dort der pazifistische Protest von Christen in der DDR, hier die länderübergreifende Protestbewegung für Klimaschutz – dazwischen die junge Studentin, die gerade ihr Pharmaziestudium abgebrochen hat.

Eva Hochmuth in der Michaeliskirche in Leipzig Foto: Thomas Victor

Auf die Selbstbefragung folgt ein Studium der evangelischen Theologie an der Berliner Humboldt-Universität. Ihre Examensarbeit schreibt Zellmer über eine junge, alleinstehende Frau, die im frühen 20. Jahrhundert als Missionsschwester nach China ging – zu einer Zeit, in der es in Berlin verpönt war, wenn Frauen Fahrrad fuhren, und das Geschäft der Mission von Männern betrieben wurde, die ihre Ehefrauen nur als Helferinnen in die Überseegebiete mitnahmen. Die Missionarin hatte sich damals gegen alle Widerstände durchgesetzt und eine Schule für chinesische Mädchen gegründet.

Für Zellmer ist das die Geschichte einer Emanzipation und irgendwie auch Teil ihrer eigenen Geschichte. Frisch getrennt von ihrem Mann, kam sie Anfang des Jahres an die Apostel-Paulus-Kirche ins Vikariat. Das Gemeindeumfeld passt. Mit täglich geöffneter Kirche, mit Konzertprogramm, mit Musik und Segen zum Ökomarkt und mit Sonntagsgottesdiensten, die kulturell-religiösen Events gleichen, an diesem Sonntag von einem Gitarristen begleitet.

Franziska Zellmer in der Berliner Apostel-Paulus-Kirche Foto: Piotr Pietrus

Auch die wilhelminische Bauweise passt zum Bild einer zeitgemäßen evangelischen Kirche. Eigentlich wurde sie 1894 eingeweiht, um die Berliner Untertanen des Preußenkönigs wieder auf den Herrn Christus auszurichten. Deren Köpfe hatten die Sozialdemokraten mit ihrem Messias, dem Drechslergesellen August Bebel, gehörig vernebelt. Doch heute surrt hier im Keller ein Blockheizkraftwerk, das, mit Biogas gespeist, das 2021 verabschiedete Klimaschutzgesetz der Landeskirche erfüllt. Im Winter lädt die Kirche Bedürftige ein, sich zu wärmen. Dazu zwei Theologinnen im Pfarrdienst – und die dritte ist derzeit Zellmer. Heiligabend, so viel ist sicher, wird es zur Christvesper brechend voll. Franziska Zellmer gestaltet dann den Gottesdienst mit.

Der Sprung in die Praxis ist ihr trotzdem schwergefallen, räumt Zellmer ein. „Ich kann so lange studieren, wie ich will, ohne an Gott zu glauben. Aber irgendwann muss ich bekennen, woran ich glaube.“ Und sei es mit einer Geschichte über einen Schmetterling. Doch diese Gemeinde, dieses Milieu, werde eine Zwischenstation bleiben. Ihr Vikariat, also ihr Vorbereitungsdienst, endet im Dezember 2025.

Und dann? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre erste Pfarrstelle fernab von Berlin zugewiesen bekommt, ist groß. Das Konsistorium, die oberste Kirchenverwaltung der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), schickt den Nachwuchs meist in die Brandenburger Weite. In die Prignitz oder in die Lausitz, auf Pfarrstellen mit acht, zehn oder mehr Dörfern und ebenso vielen Predigtstellen, mit kleinen Gemeinden und eher konservativen Mitgliedern. Oft Regionen, in denen die AfD die stärkste politische Kraft darstellt. Wie soll man damit umgehen? Was, wenn ein Kfz-Meister aus dem Gemeindekirchenrat plötzlich für die AfD im Kreistag sitzt? So geschehen in Zellmers märkischer Heimat. Was, wenn ein Pfarrerskollege als Vertreter der AfD zum stellvertretenden Stadtratsvorsitzenden gewählt wird, wie in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt?

In Wittenberg wappnen sie sich

Für solche Fragen ist Wittenberg womöglich ein passender Ort. Luther hat von hier aus nicht nur die Römische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert, sondern auch die mittelalterliche Gesellschaft. Die Reformation war auch ein politischer Umbruch. Es ist Ende Oktober, kurz vor dem Reformationsjubiläum. Vor der Schlosskirche, wo Luther 1517 seine Thesen veröffentlichte, verlieren sich ein paar Touristen.

Gleich dahinter hat sich in den oberen Geschossen des ehemaligen Wittenberger Schlosses das Evangelische Predigerseminar ausgebreitet. Die Kurse im Seminar, zu der die Vikarinnen und Vikare aus ihren Kirchengemeinden in Ostdeutschland zusammenkommen, gehören zur letzten Ausbildungsphase, die mit dem zweiten Theologischen Examen endet. Die anschließende Ordination, die feierliche Einsetzung ins Pfarramt, ist der Beginn des Lebens als Pastorin, als Pfarrer.

Aus Fenstern im Predigerseminar kann man weit über die Elbauen blicken. Da, in der Ferne, irgendwo zwischen Cottbus, Leipzig und Magdeburg, alles dornenreiche Äcker für den Glauben, könnte die erste Pfarrstelle warten.

Während die anderen in der Küche plaudern, hat sich Franziska Zellmer in der Pause zwischen zwei Seminarblöcken mit zwei weiteren Vikarinnen in die Bibliothek zurückgezogen. Eine davon ist Eva Hohmuth. „Die Diskussionen unter den sächsischen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern kreisen viel um das Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus“, sagt Hohmuth, Vikarin der sächsischen Landeskirche. Da gebe es einerseits die Angst und die Ohnmacht, überhaupt etwas bewirken zu können. Und andererseits das Wissen, vielleicht zu den wenigen zu gehören, die sich überhaupt noch trauen, etwas zu sagen, und die Räume öffnen können für Menschen, die einander zuhören. „Das ist eine riesengroße Aufgabe.“

Hohmuth stammt aus Werdau in Westsachsen, ihr Vikariat absolviert sie in Leipzig. Wenn sie auf die Aufgabe blickt, die vor ihr liegt, schwingt auch Unsicherheit mit. „Das ist auch bei mir mit Emotio­nen belegt“, sagt Hohmuth. „Es zieht sich ja auch durch Familien.“ Es – damit meint sie das rechte Gedankengut, die verhärteten Fronten. Letzteres kennt sie auch aus ihrem eigenen Umfeld. „Und trotzdem finde ich es aus christlicher Perspektive wichtig, Grenzen zu ziehen und zu sagen: Das stimmt nicht mit christlichem Glauben überein.“ Gleichzeitig weiterhin das Gespräch zu suchen, „das ist die große Gratwanderung. Und da bin ich auch manchmal ein wenig ratlos, ob es gelingen kann. Wenn, dann nur mit Gottes Geist.“

Kirche muss offen bleiben für AfD-Wähler, aber eben auch klare Ansagen machen, sagt Zellmer. Weil es doch zutiefst christlich sei, Menschen aufzunehmen, ihnen eine Chance zu geben und sich in ihre Lage hineinzuversetzen. „Und wenn mir jemand ganz überzeugt sagt, diese Menschen, die vor Krieg und Not geflüchtet sind, gehören nicht hierher, würde ich auch ganz ehrlich fragen, warum glaubst du denn, dass du in diese Kirche gehörst mit dieser Überzeugung? Das ist absolut nicht das, was Jesus predigt.“

„Wir haben keine einfachen Antworten“, sagt Franziska Zellmer. „Wir sind viele Menschen mit unterschiedlichen Meinungen. Und die eine Meinung liegt auf dem Spektrum eher rechts, die andere eher links. Wir müssen viel aushandeln und das ist unbequem und tut weh.“

Die Kirche muss offen bleiben für AfD-Wähler, aber eben auch klare Ansagen machen

Franziska Zellmer, Vikarin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg­-schlesische Oberlausitz

Es ist eben ein Unterschied, ob Bischöfe und Kirchengranden in Hannover, Hamburg oder Berlin erklären, dass völkischer Nationalismus nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar ist, wie im Frühjahr geschehen. Oder, ob Vikarinnen und Vikare um Positionen ringen, die sie auch in einer Pfarrstelle in der Oberlausitz oder im Erzgebirge bekennen müssen.

Was auffällt: Die männlichen Vikare sind inzwischen deutlich in der Minderheit. Pauline Wendel, die dritte Vikarin, mit der Zellmer in der Bibliothek Kaffee trinkt, kennt das von ihrer Heimat am Niederrhein noch anders. „Ich kannte nur Männer im Pfarramt und konnte mir das als Frau gar nicht vorstellen.“ Erst langsam ist ihr klar geworden, dass dieser Beruf auch für sie selbst offensteht. Mittlerweile liegen die drei Frauen im Trend. Bei den Beschäftigten in der evangelischen Kirche insgesamt steigt der Frauenanteil langsam, aber stetig, 2022 waren fast 78 Prozent Frauen. Weil die Kirche durch den Macht- und Bedeutungsverlust für Männer schlicht nicht mehr so attraktiv sei, sagt Eva Hohmuth mit spöttischem Blick. Eigentlich müsste das traditionsreiche Wittenberger Seminar, das 1817 vom Preußenkönig gegründet wurde und bis heute zuverlässig immer neuen Pfarrgenerationen den letzten Feinschliff verpasst, seinen Namen ändern – in Predigerinnenseminar.

In Pirna braucht der Pfarrdienst Mut

In Sachsen gehen die Uhren manchmal anders, an einem Tag im November etwa. Einzig im Freistaat ist der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag erhalten geblieben, für alle anderen wurde er 1994 gestrichen. In die sächsischen Kirchen drängt es die Menschen allerdings nicht. Vor dem Leipziger Hauptbahnhof ist es am Morgen noch wie ausgestorben.

Eva Hohmuth ist in der Michaeliskirche schon auf den Beinen. Sie trägt einen dicken Schal um den Hals, gibt den dreißig Konfirmandinnen und Konfirmanden, die sich eingefunden haben, letzte Anweisungen und versucht, Ruhe in die Kirchenbänke zu bringen. Ihre Stimme ist erstaunlich laut und fest. Die Rolle hier ist eine ganz andere als kürzlich in Wittenberg. Zwischen den Jugendlichen würde sie kaum auffallen, hätte sie nicht ein Mikrofon in der Hand. Eva Hohmuth, eine sportliche Frau von 27 Jahren, ist hier ganz in ihrer Welt.

Als die Orgel zu donnern beginnt, sitzen alle Jugendlichen auf den Plätzen. Es folgt ein kurzweiliger Gottesdienst mit Orgelgebraus und vielen Akteuren, statt einer Predigt gibt es ein Dialogformat, und in den Bänken sitzen stolze Eltern und Großeltern, die ihren Nachwuchs fotografieren. Zwei Wuschelköpfe spenden zum Schluss den Segen, den sie vom Smartphone ablesen. Segnend heben sie je eine Hand und strahlen. Lachen steigt aus den Bänken empor. So könnte eine Kirche der Zukunft aussehen. Wer will, kann passend via Smartphone die Kollekte entrichten.

Wenig später, die Kirche ist wieder leer, die Orgel verklungen, sitzt Hohmuth vorn in einer Bank. Das Viertel um die Michaeliskirche sei bildungsbürgerlich geprägt, erzählt sie. Das färbe auf die Gemeinde ab. Viele sind politisch engagiert. Auch die große Zahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Konfirmandenunterricht ist außergewöhnlich. Ihre Zeit hier endet im Februar 2026. Was dann folgt, weiß sie noch nicht.

Eva Hohmuth überlegt, wohin es sie dann verschlagen könnte. Ins Erzgebirge? Ins Vogtland? Zumindest sollte es ein Ort sein mit einer tragfähigen Zivilgesellschaft. Aber ebenso mit einer funktionierenden Infrastruktur. Es geht nicht nur um Herausforderungen wie die AfD, auch um elementare Dinge wie Schulen, Nahverkehr und Arztpraxen.

Das alles gibt es zum Beispiel in Pirna, im Elbsandsteingebirge. Harmlos ist es dort trotzdem nicht. Der Pfarrer hat zum CSD in diesem Jahr die Regenbogenfahne gehisst, erzählt Hohmuth. Der Oberbürgermeister, als Kandidat der AfD Anfang des Jahres ins Amt gekommen, hatte die Fahne vor dem Rathaus untersagt. Stattdessen wehte sie vorm Kirchturm. „Ich möchte mir nicht vorstellen, was der Kollege aushalten musste. Auch der Kirchenvorstand hat das mitgetragen. Diesen Mut hat nicht jeder.“ Gleich drei Buttons in Regenbogenfarben heften an Hohmuths Jackenkragen. Es ist auch ein altes biblisches Hoffnungszeichen, es fehlt nur noch ein Schmetterling.

Apropos Schmetterling – Franziska Zellmer überlegt inzwischen, vorerst in Berlin zu bleiben. Sie will gerne über die Frau promovieren, die einst als Missionsschwester nach China aufgebrochen war. Bis sie ihre erste Pfarrstelle übernimmt, wird es also noch dauern.

Die Leipziger Michaeliskirche, von der aus Eva Hohmuth in einem Jahr in die erste eigene Gemeinde geschickt wird, erzählt selbst vom Aufbruch. Vor 35 Jahren war sie eine der vier Innenstadtkirchen, die beim Friedensgebet am 9. Oktober 1989 die Menschenmassen aufnahmen, die gegen die SED-Herrschaft protestierten. Da standen in der Michaeliskirche dicht gedrängt Gemeindemitglieder neben Arbeitern im Blaumann, die schon lange keine Kirche mehr betreten hatten. Der sächsische Bischof platzte herein und verkündete das Wunder: Polizei und Armee hatten sich zurückgezogen. Kein Blutbad in Leipzig!

Es war der Beginn der Friedlichen Revolution. Beim Hinausströmen bekam damals jeder ein Weizenkorn in die Hand gedrückt – ein Hinweis, dass Menschen zu Großem fähig sind. Gerade wenn sie daran zweifeln.

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23 Kommentare

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  • Bei den Nazis waren die alle in der bekennenden Kirche, in der DDR haben sie alle Demokratie geübt, waren im Widerstand und heute ist die Kirche ein Bollwerk gegen die AfD! Aber sicher doch.

  • Die Vikarin Frau Zellmer ist sich sicher, dass „Gott bei der Sache mit dem Schmetterling (…) nicht die Hand mit im Spiel hatte. Jedenfalls nicht direkt“ und sucht nach „Narrativen“.



    Mein ‘Narrativ‘: “Guf“ ist die Halle der Seelen, lehrt uns der Talmud, aus der jeder Mensch die seine erhält. Ist sie leer geworden, steht die Ankunft (jüdisch) bzw. Wiederkunft (christlich) des Messias bevor. Mit ihr zögert Gott, er hat seine Gründe.



    Nun hat das Töten wie die Bevölkerungsexplosion die Halle der Seelen längst ausgeplündert.



    Was tut also Gott? Er recycelt die ein oder andere, das hat er sich von den grünen Protestanten und den Buddhisten abgeschaut. Und hier kommt der Schmetterling ins Spiel. Denn der tat nichts anderes als die Seele des Verstorbenen zurück nach Guf zu verbringen.



    Könnten die Spatzen sprechen, würden sie uns von dieser List berichten.

    • @Torben Jakowski:

      Wen interessiert was Talmud und die (christliche) Bibel behaupten solange es das Spaghetti-Monster gibt.

      • @Manfred Peter:

        Zum Beispiel Sie, weil sonst wären‘s ja weitergegangen, gell.



        Zum Spaghetti-Monster: Lange nix mehr von gehört, wer interessiert sich dafür eigentlich noch, außer Sie natürlich?

  • Das große Problem der EKD an sich ist, dass sie kaum noch etwas bietet, was man nicht auch woanders haben kann, und dass das Personal das einfach nicht zu merken scheint.

    Als zu Beginn der Pandemie darüber diskutiert wurde, Alte und Vorerkrankte für die erhoffte Herdenimmunität über die Klinge springen zu lassen, kam von der Kirche nichts. Wann, wenn nicht zu solchen Angelegenheiten, könnte die EKD eine klare Ansage machen?



    Stattdessen ist alles nur noch beliebig. Kaum ein Pastor würde es wagen, bestimmte Dinge als unchristlich oder - shocking! - als Sünde zu bezeichnen, oder bestimmte Dinge als Pflicht. Es gibt kein Profil mehr, zumindest keines, was irgendwer als spezifisch religiös wahrnehmen kann. Was ist eindeutig und exklusiv evangelisch oder auch nur christlich? Die EKD scheint das selbst nicht mehr sagen zu können und selbst die Frage sehr unangenehm zu finden.

    Die anglikanische Kirche wird in GB manchmal spöttisch als „Die Tory-Partei beim Gebet“ charakterisiert. Die evangelische Kirche in Deutschland ist dagegen „Bündnis 90/Die Grünen beim Gebet.“

    • @Suryo:

      In Berlin hing letztes Jahr an einer Kirche ein großes Transparent:

      „Liebe tut der Seele gut.“

      Das soll nach 2000 Jahren christlicher Theologie und weltweiter Tätigkeit die Botschaft der Kirche sein?

      Dieser banale Quatsch, den man in ähnlicher Form („Live, laugh, love“) als Deko in jedem Baumarkt erwerben kann?

  • Gute Werke tun kann man auch ohne Gott. Vorteil: Man baut sein Leben nicht auf einer Lüge auf.

    Ja, und irgendwann ist es vorbei. Danach wartet höchstwahrscheinlich: gar nichts. Dieses Leben ist das einzige, das wir haben.

    Also los, carpe diem!

    • @fhirsch:

      Ostdeutschland, die unreligiöseste Gegend der Welt, ist der Beweis, dass es ohne Religion auch nicht viel besser ist. Oder sogar gar nicht besser.

    • @fhirsch:

      Laut protestantischer Lehre soll der Mensch gute Werke ja gerade ohne den Gedanken an Gott tun. Bzw. ist der Mensch gar nicht dazu in der Lage, ein wirklich gutes Werk zu tun, das heißt, eines, das vollkommen frei von jedem Eigennutz ist. Luther prangerte ja gerade an, dass die katholische Kirche lehrt, dass der Mensch wahrhaft gute Werke tun und damit mit Gott um sein Seelenheil handeln kann: Ich tue meinem Mitmenschen etwas gutes, damit Gott mich belohnt. Aber der Mensch kann erstens gar nichts wahrhaftig gutes tun, und zweitens kann der Mensch Gott nichts geben, was Er sowieso nicht schon hat, also auch nicht mit ihm handeln.



      Die reformatorische Lehre sagt, dass der Mensch anderen Menschen das tun soll, was er als nach menschlichem Maße gut betrachtet (in Wirklichkeit wäre das gemessen am Maßstab Gottes, des einzigen wahrhaftig guten und vollkommenen, immer noch mangelhaft), und dass die Werke eben gerade keinen Einfluss auf das Seelenheil haben. Gerade durch die Erkenntnis, dass die eigenen Werke einem nichts bei Gott kaufen können, wird der Mensch frei, das Gute ohne Hoffnung auf Belohnung zu tun. Ablass und all der andere Tand der kath. Kirche werden so unnötig.

    • @fhirsch:

      Die Behauptung, alle Religion sei eine Lüge, ist selbstverständlich infantil. Wenn Sie nicht zufällig selbst eine Gottheit sind, können Sie das ja gar nicht wissen.

      Ich muss (als selbst Atheist) zugeben, dass mir Leute, die glauben, sie seien im Besitz der Wahrheit, gehörig auf den Senkel gehen. Egal, ob diese Wahrheit den Glauben an Gott, an Allah, an Buddha oder an die Nichtexistenz all dieser beinhaltet. Man kann alles glauben oder annehmen, was man möchte - oder auch nicht.

      • @Agarack:

        Wenn man ein bisschen Selbstrespekt hat, glaubt man natürlich nicht, "was man möchte", sondern wofür man Evidenz hat, und Gott gehört nicht dazu.

        Frei nach Philomena Cunk:

        - Können wir die Existenz Gottes beweisen?



        - Nein.



        - Können wir beweisen, dass Gott einen Bruder namens Simon hatte?



        - Nein.



        - Dann könnten wir ja genauso gut an einen Simon glauben.

        • @fhirsch:

          Sie gehen mit einer äußerst schlichten Geisteshaltung an diese Frage heran. Dabei umreißen Sie eher zufällig die Tatsache, dass wir tatsächlich nicht wissen, ob am Ende "Gott", "Allah" oder keiner von beiden bzw. niemand auf uns wartet. Einfach zu sagen: "Ich sehe keine Evidenz für die Existenz Gottes, also existiert Gott nicht" ist nur dann zufriedenstellend, wenn man die evidenzbasierte Wissenschaft für die einzig legitime Erkenntnisquelle für fundamentale weltanschauliche Fragen hält. Das kann man so sehen, dafür wurde aber evidenzbasierte Wissenschaft nicht entwickelt, und dafür ist sie auch nicht geeignet. Konzepte wie "Menschenrechte" oder "Demokratie" sind ja schließlich auch keine objektiven, evidenzbasierten Kriterien, sondern höchst formbare weltanschauliche Konzepte - die man folgerichtig dementsprechend ebenso ablehnen müsste.

    • @fhirsch:

      @fhirsch:



      Natürlich kann man mit philosophischen Spekulationen auf das gleiche ethische Ergebnis kommen wie Jesus. (Viele kommen zumindest hier in Europa und in den USA damit eher auf Egoismus.) Doch ohne Gebet und Glauben verliert vieles seine Kraft.



      Deus Caritas est: Gott ist Nächstenliebe.

    • @fhirsch:

      Ich finde es anmaßend zu behaupten dass Personen mit einer religiösen Überzeugung ihr Leben mit einer Lüge aufzubauen!



      Und vielleicht sollten sie auch mal darüber nachdenken, dass ein großer Teil der sozialen Strukturen wie z. B. Behinderteneinrichtungen etc. ursprünglich von Menschen mit christlichen Überzeugungen mit viel persönlichem Einsatz aufgebaut wurden.

      • @Fridolin:

        All die "kirchlichen" sozialen Einrichtungen werden ohnehin hauptsächlich vom Staat bezahlt, von ganz normalen Steuern, nicht den Kirchensteuern. Sogar die Gehälter von Pfarrern.

        Säkular wäre billiger und genauso gut.

      • @Fridolin:

        Die Kirchen gibt es aber nicht erst seit 50 Jahren. Was die in den 2000 Jahren vorher so alles aufgebaut haben...

        • @warum_denkt_keiner_nach?:

          Die ganzen diversen Diakonischen oder Sozialwerke sind schwerpunktmässig aus kleinen Anfängen im 19. Jahrhundert entstanden. Seit wahrscheinlich Beginn des Christentums wurden Kranke und Hilfsbedürftige von christlich motivierten Menschen unterstützt. Z. B. in diversen Klöstern etc..



          Meinem Verständnis nach ging der Artikel auch um PfarrerInnen und nicht um die Kirche als Institution. Das ist schon ein Unterschied, wiewohl die aktuelle Kirche als Institution immer noch sehr wichtige Aufgaben in unserer Gesellschaft erledigt, die wir als Gesellschaft vermutlich erst schätzen lernen, wenn diese Aufgaben nicht mehr gemacht werden können, weil der Diakon, der sich z. B. um Obdachlose kümmert nicht mehr finanziert werden kann.

          • @Fridolin:

            "Meinem Verständnis nach ging der Artikel auch um PfarrerInnen und nicht um die Kirche als Institution."

            Also auch nicht um Behinderteneinrichtungen 😉

            Ist schon lustig, dass bei Kritik an Kirchen sofort die charitative Seite rausgeholt wird. Wobei viele Dinge, die vor nicht allzu langer Zeit noch als "sozial" galten, heute eher anders bewertet werden. Ich denke da nur an die Zuchtanstalten für ledige Mütter oder für Weisen. Jesus wäre schreien davongelaufen...

            • @warum_denkt_keiner_nach?:

              Meinen Sie, staatliche Waisenhäuser seien irgendwie anders oder gar besser gewesen?



              Die atheistische DDR hatte noch bis 1989 ihre berüchtigten Jugendwerkhöfe.

              Und überhaupt, Ostdeutschland: die unreligiöseste Region der Welt.

              Aber garantiert nicht die aufgeklärteste und menschlichste Gegend der Welt.

              • @Suryo:

                "Meinen Sie, staatliche Waisenhäuser seien irgendwie anders oder gar besser gewesen?"

                Hat niemand behauptet. Dort versucht aber auch niemand, einen Heiligenschein anzubringen.

                • @warum_denkt_keiner_nach?:

                  Dort hielt man sich genau so für Vertreter des sittlich Guten, die die armen Kinder auf den Pfad der Tugend führen. In der DDR sowieso, da war bekanntlich alles, was der Staat tat, segensreich und nie schlecht.

  • aha, der Frauenanteil steigt und die Zahl der Gläubigen sinkt.. ich glaue allerdings nicht dass as ein kausaler Zusammenhang darstellt. Viel eher ist die Politisierung der EKD einer,, wenn nicht der Hauptgrund. Aber das scheint den Vikaren überhault nicht klar zu sein. Mir fehlt auch die spirituelle Auseinandersetzung z.B. mit dem Islam, das scheint komplett vergessen worden zu sein. SchließlicÖ



    "Ins Erzgebirge? Ins Vogtland? Zumindest sollte es ein Ort sein mit einer tragfähigen Zivilgesellschaft. Aber ebenso mit einer funktionierenden Infrastruktur. Es geht nicht nur um Herausforderungen wie die AfD, auch um elementare Dinge wie Schulen, Nahverkehr und Arztpraxen."

    Mit der Einstellung wird man die EKD gerade nicht vornbringen, man muss dahin gehen wo den Menschen etwas fehlt. Ansonsten geht die AfD dahin. Und im 19. Jahrhundert wäre diese Vikarin wohl auch nicht nach China gegangen..

  • Selbstverständlich muss die Kirche auch für AFD Wähler und Mitglieder offen sein. Sie ist es ja sogar auch für Menschen offen, die die. Meinung vertreten, Religion sei Opium fürs Volk!