Ordnungsrecht statt Opferschutz

Nach dem Angriff auf einen jüdischen Studenten in Berlin können Studierende wieder leichter exmatrikuliert werden. Ob das den Opfern tatsächlich hilft, bleibt fraglich

Studierende an der Freien Universität in Berlin Foto: Fo­to: Stefan Boness/Ipon

Von Mengna Tan

Der Angriff löst bundesweit Entsetzen aus und führt zu einer hitzigen Debatte darüber, ob straffällige Studierende künftig zwangsexmatrikuliert werden sollen: Im Februar wird der jüdische FU-Student Lahav Shapira aus Israel von einem propalästinensischen Kommilitonen zusammengeschlagen, er wird mit Knochenbrüchen im Gesicht und anderen schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Berliner Staatsanwaltschaft stuft die Tat als antisemitisch ein und sieht einen Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und Gaza, der auch an der Freien Universität zu Protesten und Besetzungen geführt hat.

Shapira geht inzwischen wieder zur Uni. Und er macht der Freien Universität schwere Vorwürfe. Die politische Debatte über die richtigen Folgen dauert Wochen. Und die Freie Universität Berlin steht unter massivem Druck, etwas zum Schutz ihrer Studierenden zu tun.

Im Juli beschließt der Berliner Senat, dass Studierende künftig nach Straftaten an Berliner Hochschulen zwangsexmatrikuliert werden können. Ordnungsrecht heißt das beschlossene Gesetz, dabei handelt es sich um „einen differenzierteren Maßnahmenkatalog und ein geregeltes Verfahren gegen Studierende, die einen Ordnungsverstoß begangen haben, der auch den Opferschutz stärkt“, erklärt die Präsidentin der Berliner Humboldt-Universität, Julia von Blumenthal, der taz. Die Exmatrikulation sei dabei nur die letzte und schärfste Maßnahme.

Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) begrüßte das neue Gesetz als „umfangreichen Instrumentenkasten, um den Opferschutz zu stärken“. Interessant bei der Debatte ist, von wem die Idee überhaupt kam, das Ordnungsrecht wieder einzuführen: Der Vorschlag geht auf einen Antrag zur Gesetzesänderung der AfD vom 13. Februar zurück.

Doch kann es tatsächlich den Opferschutz stärken? In einem offenen Brief der Berliner Studierendenschaft gegen die Wiedereinführung des Ordnungsrechts kritisierten sie: „Dieses Gesetz bietet keinen Schutz, birgt die reelle Gefahr einer weiteren autoritären Diskursverschiebung und kriminalisiert studentischen Protest und studentische Teilhabe.“ Die Kritik kommt nicht von ungefähr, denn die Vergangenheit zeigt durchaus eine repressive Anwendung des Gesetzes bei politischer Teilhabe.

Die Zwangsexmatrikulation als Ordnungsmaßnahme ist ein Relikt des sogenannten Disziplinarrechts, das bereits im Mittelalter bestand. Damals gab es an Universitäten noch die sogenannte akademische Gerichtsbarkeit, ein universitätsinternes Gericht mit eigenen Rechtsanwälten und Aktuaren. Die Strafgewalt wurde durch den Rektor, einen Universitätsrichter und/oder den Senat ausgeübt.

Strafen konnten unter anderem Geldstrafen, Haft im Arrestzellen, auch bekannt als Karzer, oder eben die Exmatrikulation sein. „Zwar wurde die akademische Gerichtsbarkeit mit dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 abgeschafft, die Disziplinargewalt gegenüber den Studierenden aber beibehalten. So konnten Studierende weiterhin mit Karzerhaft oder dem Verweis von der Universität bestraft werden“, erzählt Historiker Martin Göllnitz im Gespräch mit der taz.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Disziplinarrecht gezielt eingesetzt, um Studierende mit unerwünschten politischen Ansichten von den Universitäten zu entfernen, insbesondere kommunistische, marxistische und „antinationale“ Studierende.

„1933/34 sind insgesamt 548 Studierende, überwiegend Kommunisten, aus politischen Gründen vom weiteren Hochschulstudium ausgeschlossen worden“, berichtet Michael Grüttner, Historiker und Experte für Wissenschafts- und Universitätspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch in der Weimarer Republik seien Studierende unterschiedlicher Couleur relegiert worden – „aber nicht aufgrund ihrer Gesinnung, sondern aufgrund ihres Verhaltens, oft als Konsequenz politisch motivierter Gewalttaten“, so Grüttner.

Erst im Zuge der 1968er-Studierendenproteste änderten sich die Hochschulen grundlegend. Das Disziplinarrecht wurde durch das Ordnungsrecht abgelöst. „Insofern handelt es sich beim Ordnungsrecht um eine liberalisierte Form des Disziplinarrechts“, sagt die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege auf taz-Anfrage. Während das Disziplinarrecht neben der Aufrechterhaltung der Ordnung des Universitätsbetriebs auch die sitten- und ehrenhafte Haltung der Studierenden zum Inhalt hatte, stehe beim Ordnungsrecht allein die Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Hochschulbetriebs im Fokus. Die Funktion sei somit, „einen störungsfreien Hochschulbetrieb dadurch zu gewährleisten, dass es Arten von Störungen normiert und sich daraus ergebende Ordnungsmaßnahmen festsetzt.“

Im Zuge einer großen Neuerung des Berliner Hochschulgesetzes wurde das Ordnungsrecht 2021 abgeschafft. Tobias Schulze, wissenschafts- und forschungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, erklärt gegenüber der taz, dass die rot-grün-rote Koalition damals keinen Nutzen im Ordnungsrecht sah, da es praktisch sehr schlecht anwendbar gewesen sei. Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege bestätigt gegenüber der taz: „Es gab in den letzten Jahren keine Anwendungsfälle an Berliner Hochschulen.“

Seit Juli ist das Ordnungsrecht unter der schwarz-roten Regierung in Berlin wieder anwendbar. Und HU-Präsidentin Julia von Blumenthal befürwortet das Gesetz: „Wirksamer Opferschutz kann insbesondere durch den im Gesetz explizit vorgesehenen Ausschluss von der Teilnahme einzelner Lehrveranstaltungen erreicht werden“, sagt sie der taz.

Wie wirksam eine Exmatrikulation beim Opferschutz ist, bleibt allerdings fraglich. „Bis es zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt, können Monate bis Jahre vergehen. Opferschutz setzt immer präventiv an“, findet Michael Plöse, Anwalt für Hochschulrecht. Ein repressives Vorgehen, das eher auf Vergeltung und Abschreckung setzt, sei selten ein geeignetes Mittel, um Opfer zu schützen.

Insbesondere bei sexualisierter Gewalt, bei der das Opfer nachweisen muss, dass eine solche Verletzung stattgefunden hat, erweist sich das Ordnungsrecht als ungeeignet, das Opfer effektiv zu schützen. „Eine viel effektivere Möglichkeit, die parallel zum Ordnungsrecht besteht und auch noch mal verlängert werden kann, ist das Hausrecht“, erzählt Michael Plöse der taz. Beim Hausrecht „können im Einzelfall Störende zeitnah rechtswirksam des Raumes, Gebäudes oder Grundstücks verwiesen werden.“

So steht es in der Hausordnung zum Hausrecht der Freien Universität in Berlin. Wenn es darum gehe, dass Opferschutz durch den Ausschluss von Lehrveranstaltungen erreicht werde, wie HU-Präsidentin Blumenthal findet, reicht da nicht das Hausrecht? „Das Ziel ist ja, dass kein Vergewaltigungs- oder Gewalt­opfer dem Täter in einem Seminar oder in einer Vorlesung gegenübersitzen sollte. Da dient das Hausrecht als Mittel der Wahl. Das ist sofort anwendbar“, findet der Linken-Politiker Tobias Schulze. Nach dem Angriff auf Shapira erhielt der Täter Hausverbot, inzwischen bis 8. August 2026 verlängert.

Mit dem neuen Ordnungsrecht befürchten manche Kritiker*innen, dass damit politische Kämpfe an Hochschulen unterbunden wird. Darauf antwortet HU-Präsidentin Blumenthal: „Universitäten sind Orte des offenen und freien Diskurses. Das Ordnungsrecht soll diese wichtigen Diskursräume schützen und nicht beschneiden.“

Seit Juli ist das Ordnungsrecht unter Schwarz-Rot wieder anwendbar

Doch so wirklich schützen tut das Ordnungsrecht Diskursräume nicht, meint Anwalt Michael Plöse. „Das führt praktisch zu einer Hemmung, auch kritische Meinungsäußerungen zu machen. Schon allein diese abstrakte Möglichkeit und das ganze Verfahren, das damit einhergeht – die Konsultation von Anwält*innen, die natürlich auch Geld kostet – zeigt, dass hier ein zusätzlicher Apparat geschaffen wird, der die Wahrnehmung von Meinungsfreiheit beeinträchtigen wird.“

Auch der Allgemeine Studierendenausschuss, der „Referent*innenRat“ der HU, sieht im Ordnungsrecht keinen Schutz von Diskursräumen: „Das Ordnungsrecht ist eine Kampfansage gegen die Berliner Studierendenschaften, politische Organisation an Universitäten und schlussendlich gegen jegliche Politisierung an Universitäten.“

Ob das neue Gesetz politische Aktionen an Universitäten einschränken wird, lässt sich derzeit noch nicht abschließend sagen. Auffällig ist jedoch das schnelle Tempo, mit dem das Ordnungsrecht nach dem Angriff im Februar gegen Shapira verabschiedet wurde – bereits im Juli trat es in Kraft.

Diese Eile sorgte auch für Kritik, etwa von TU-Präsidentin Geraldine Rauch, die bereits im März gegenüber der taz warnte: „Es gibt keinen Grund, das so überstürzt durchzusetzen.“ Es stellt sich deshalb die Frage, ob es sich bei diesem Gesetz nicht eher um Symbolpolitik handelt, die als Reaktion auf den öffentlichen Druck nach dem Angriff auf Lahav Shapira umgesetzt wurde.