Frau Lea Exit Waldorf
: Socken stricken und soziale Überforderung

Dankbar und stolz war ich, ein Waldorfkind zu sein. Ich war etwas Besonderes. Hatte die besseren Eltern, denen ich so wichtig war, dass sie mich auf die Waldorfschule schickten. Ich hatte das schönere Lernumfeld. Ich hatte die motivierteren Lehrkräfte, die für deutlich weniger Geld auch noch die Selbstverwaltung machten. Ich lernte die vermeintlich richtigeren und wichtigeren Sachen. Sowohl inhaltlich als auch praktisch. Kein sinnloses Auswendiglernen für Noten wie an den „Staatsschulen“. Wir lernten die Welt „ganzheitlich“ zu betrachten – und sprachen völlig gleichgeschaltet hunderte Gedichte im Chor. Und ich war nur mit Kindern umgeben, für die dasselbe galt. Von meinem 6. bis zu meinem 19. Lebensjahr war ich Teil einer sich isolierenden „Schulgemeinschaft“, und Waldorfkind sein wurde zu meiner Identität.

Die Erwartung an uns war hoch, wenn auch nicht explizit ausgesprochen: Wir sollten die besseren Menschen werden. Letztens las ich im ersten Waldorflehrplan von etwa 1925: „Die Waldorfschulpädagogik beruht auf einer geistgemäßen Erkenntnis des Menschen, und sie wird Menschen in die Welt hinausschicken, die ­verstehen werden, was es heißt, ­wahrhaft ‚Mensch‘ zu sein und den heiligen Angelegenheiten der Menschheit zu ­dienen.“

Ich bin mit dieser Haltung in die Welt gegangen – und konnte eigentlich nur daran scheitern. Außerhalb der ­Waldorfwelt war ich lost. Mir fehlte eine solide Allgemeinbildung – trotz ­selektivem Bingelearning für die acht Abi­fächer.

Mir fehlte pop­kulturelle ­Bildung und der gesellschaftliche Diskurs­ ­meiner Zeit. Und nichts Be­sonderes mehr zu sein war irgendwie auch ­kränkend. Ich hatte zwar gute ­Noten, aber im Sozialen war ich überfordert.

Die Waldorfwelt ist sehr kontrollierend: Vom Spielzeug über die Kleidung bis zum Gefühlsausdruck gab es „gut“ und „unerwünscht“. Mit hohen moralischen Werten und einer Weltwahrnehmung, in der es „uns“ und „die“ gab, der Staat kalt und beschränkend ist und die Wissenschaft engstirnig. Und nun wollte ich „da draußen“ mit all diesen „anderen“ Menschen weiterhin ein besonders „gutes“ Leben zustande bringen.

Als ob ich es all denen schuldig wäre, die aufopferungsvoll so viel in mich ­investiert haben. Und während ich von mir erwartete, besonders kompetent und menschlich gereift zu sein, ­schlitterte ich von einem Burn-out in den nächsten und war noch nicht mal fähig einen gesunden Umgang mit dem Fernseher zu finden, der mir ­plötzlich frei zur Verfügung stand.

Zudem fehlte mir die hohe Intensität meiner Waldorfzeit. Damals war nichts profan. Alles, was wir taten, war mit Bedeutsamkeit aufgeladen. Verglichen damit war mein Studium stumpf, und Gedanken von Sinnlosigkeit machten sich breit. Ich fühlte mich falsch und ich sehnte mich zurück „nach Hause“. Ich überlegte ernsthaft Waldorflehrerin zu werden. Ich war körperlich raus aus der Waldorfwelt, aber mental und emotional war ich noch tief drin.

Die Erwartung an uns war sehr hoch: Wir sollten die besseren Menschen werden

Ich kann Socken stricken, über hundert Kanons singen und Lemniskaten rückwärts laufen, aber ich habe als Jugendliche meine eigene Identität nicht ausreichend entwickeln können. Waldorf ist eine Weltanschauung, für die ich mich nie bewusst entschieden habe und die dennoch unbemerkt mein Sein und mein Leben über Jahrzehnte bestimmt hat.