Rechtsextreme Aufmärsche in England: Bristol trotzt dem rechten Mob
In der Hafenstadt randalierten Rechtsextreme und Wutbürger. Ob Polizeiknüppel die Antwort darauf sind, zweifelt auch die Antifa an.
A llein mit dem Kind vor die Tür – das will Rahima erst mal nicht mehr. Sie hat Angst. Dabei sollte es hier in England doch eigentlich sicherer werden als daheim in Bangladesch.
„Bis zwei Uhr nachts haben die Männer randaliert“, sagt Rahima und deutet auf den Streifen Gras vor dem Mercury Hotel in Bristol, im Südwesten Großbritanniens. Die Haufen der Polizeipferde riechen noch, während die zwölf Steinapostel der Fassade der St. Mary Church herüberschauen, als sei hier am Samstag nichts geschehen.
Nach vier Monaten hatte Rahima in diesem neuen Land, dieser neuen Stadt etwas Selbstvertrauen gewonnen. Ein rechter Mob, der vor ihrer Asylunterkunft auflief, aufgeputscht von Bier und Kokain Steine und Flaschen warf, zerstörte es wieder.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es ist der Dienstag danach. Für den kommenden Abend sind schon die nächsten rechtsextremen Aktionen angekündigt, in dreißig englischen Städten, auch hier in Bristol. Nicht nur Neuangekommene wie Rahima haben Angst vor dem Mittwochabend. Auch Eingessene aller Hautfarben sorgen sich: Haben die Rechten jetzt nicht nur Sunderland und Hartlepool im Griff, sondern auch das linke Bristol?
Rechte Influencer und Politiker:innen verbreiteten Desinformation
Rahima ist Ende Zwanzig, zierlich, ganz locker hat sie ein Tuch aus rosafarbener Baumwolle über den Hinterkopf geworfen. Ein ähnlicher Stoff liegt über dem Buggy, das Kind schläft. „Es geht gegen die Muslime“, sagt Rahima.
Ihr Mann, der ebenso zierliche Sunni, begleitet sie seit Samstag wann immer es möglich ist. Er muss in einer anderen Unterkunft schlafen. So will es die Verwaltung. Ihren Nachnamen wollen Rahima und Sunni nicht veröffentlicht sehen. Zu groß die Sorge um ihre Asylanträge – und um die Unversehrtheit ihres Kindes.
Möwen schreien, die Glocken von St. Mary schlagen nach der Westminstermelodie. Vor dem Mercury Hotel flattert ein zerfetzter Union Jack im Seewind. Es fällt schwer, ihn nicht als Sinnbild zu verstehen für die Zerrissenheit Großbritanniens.
Vor zwei Wochen ging der Alltagsrassismus über in gewaltsame Ausschreitungen. Nach einer Messerattacke auf einen Tanzkurs in Southport. Drei Mädchen, Bebe King, Elsie Dot Stancombe und Alice da Silva Aguiar, hatte ein 17 Jahre alter Angreifer dort getötet, acht weitere Mädchen und zwei Erwachsene zum Teil schwer verletzt.
Die Webseite Channel3Now, rechte Influencer und Politiker:innen griffen den grausamen Fall auf und verbreiteten die Desinformation, dass der Täter ein übers Meer angekommener Asylbewerber sei und einen muslimischen Namen trage. Das ist widerlegt. Die Polizei spricht von einem in Großbritannien geborenen Mann. Seine Eltern waren aus Ruanda eingewandert, einem überwiegend christlichen Land.
Angesichts der „idiotischen Krawalle“ und da der Angreifer in Kürze 18 Jahre alt werde, hob das Gericht dessen Anonymität auf – wegen des großen öffentlichen Interesses und um weiterer Desinformation einen Riegel vorzuschieben. Das Motiv für die Tat ist unklar, die Folgen der rechten Mobilisierung aber sind dramatisch. In England und Nordirland flogen Flaschen, Ziegelsteine und Zaunlatten auf Moscheen und die Unterkünfte von Asylbewerber:innen. Autos und Gebäude brannten. Dutzende Menschen, darunter Polizist:innen, wurden verletzt. Eine Spezialeinheit der Polizei ermittelt – wegen Verdachtsfällen von Terrorismus.
Organisierte Rechtsradikale neben Wutbürger:innen
Wie in Bristol liefen auch in Rotherham in der nördlichen Grafschaft Yorkshire am Samstag vermummte Rechtsradikale vor einem Hotel auf, in dem Asylbewerber:innen untergebracht waren. Sie zündeten einen Müllcontainer an und schoben ihn ins Fenster der Unterkunft. Randalierer zogen durch das Haus und verwüsteten die Einrichtung.
Indien, Australien, Indonesien, Malaysia und Nigeria warnten Anfang der Woche ihre Bürger:innen davor, in die betroffenen Regionen des Vereinigten Königreiches zu reisen. Premierminister Keir Starmer von der sozialdemokratischen Labour-Partei will mit einem „stehenden Heer von spezialisierten Beamten“ der Gewalt beikommen. Starmer hat sich in früheren Jahren einen Ruf als besonders strenger Generalstaatsanwalt erarbeitet.
In Bristol begann die Eskalation am frühen Samstagabend im zentralen Castle Park. Hunderte Menschen sammelten sich, organisierte Rechtsradikale neben Wutbürger:innen, einige kamen angetrunken von einem Fußballspiel. Sie warfen, was immer sie zu greifen bekamen, auf Polizei und Gegendemonstrant:innen. „Wir wollen unser Land zurück“, riefen sie und „Stop the boats“ – ein Spruch, den auch konservative Politiker:innen in den vergangenen Jahren immer wieder nutzten.
„Die Polizei muss aktiver dagegen vorgehen“
Sunni konnte nicht bei seiner Familie sein, als eine Gruppe Rechtsradikaler vom Park unten in der Stadt hinauf zum Mercury Hotel zog. Seine eigene Unterkunft war da schon belagert.
„Die Polizei muss aktiver dagegen vorgehen“, sagt Sunni und schaut auf die Füßchen seines Kindes, die aus dem Buggy herausragen. Darin ist er sich mit der neuen Regierung einig. Was deren Migrationspolitik angeht, will er abwarten. „Ich habe mit Labour noch keine Erfahrungswerte“, sagt Sunni. Er ist schon eineinhalb Jahre länger in England als seine Frau. Bislang kennt er nur die harte Rhetorik der Konservativen.
Verlassen wollen Sunni und Rahima das Land vorerst nicht. Bristol mit seinen knapp 460.000 Einwohner:innen ist eben doch anders als viele andere englische Städte. Die grüne Partei ist hier so stark wie fast nirgends in Großbritannien. 2016 wählte Bristol den Labour-Mann Marvin Rees an die Spitze der Stadtverwaltung, er galt als der erste Schwarze Bürgermeister einer europäischen Großstadt. Die linke und linksautonome Szene der Stadt ist relativ groß.
Reich und bedeutend wurde die Hafenstadt im 18. Jahrhundert als eine der Zentralen des britischen Sklavenhandels. Im 20. Jahrhundert kamen viele Menschen aus den früheren britischen Kolonien nach Bristol, um ein besseres Leben zu suchen.
Doch der heruntergekommene Stadtteil St. Pauls war lange der einzige, in dem an nichtweiße Menschen vermietet wurde. Als das Bristoler Nahverkehrsunternehmen in den 1960er Jahren die Anstellung nichtweißer Menschen untersagte, organisierten Schwarze Bürger:innen um den Sozialarbeiter Paul Stephenson erfolgreich einen Busboykott. Als Reaktion darauf beschloss England 1965 und 1968 die ersten Gleichstellungsgesetze. 1968 begannen Schwarze Aktivist:innen mit dem St. Pauls Carnival, der das gegenseitige Verständnis in der Stadt fördern sollte.
1980 aber kam es zu Race Riots, eine Reaktion darauf, dass Polizisten unverhältnismäßig oft Schwarze Menschen kontrollierten. Anfang Juni 2020 warfen Demonstrant:innen bei den Black-Lives-Matter-Protesten die Statue eines Sklavenhändlers ins Hafenbecken.
Antirassistisches Selbstverständnis der Stadt
Durch den rechten Aufmarsch am Samstag wurde das antirassistische Selbstverständnis der Stadt empfindlich verletzt. Viele Nichtweiße fühlten sich in den Tagen danach im Stich gelassen. Aber anders als etwa in Rotherham gelang es dem Mob am Samstag in Bristol nicht, die Asylunterkunft zu stürmen.
Denn als die Rechten vor dem Mercury Hotel ankamen, fanden sie zwar kaum Polizei, dafür Hunderte Linke vor, die sich Arm in Arm schützend vor dem Eingang aufgebaut hatten. Anwohner:innen, Antifa, Gewerkschafter:innen. „We are many, you are few. We are Bristol, who are you?“, riefen sie und sicherten den Eingang mit Tritten und Fäusten.
Rae Deer kommt mit einer Manschette am Unterarm zum Mercury Hotel. Den Arm hat der 33-Jährige sich am Samstag gebrochen: „Wenn das der Preis dafür ist, einen Faschisten aufzuhalten, ist es das wert“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschafter.
Bristols linke Szene sei in England ziemlich einzigartig, trotz der Streitereien innerhalb der Szene um die richtige Strategie und Politik. „Viele von den rechten Aktivisten kamen von außerhalb“, sagt Deer, während er auf dem Mäuerchen vor dem Hotel sitzt. „Wir kennen die Stadt besser und haben eine Abkürzung genommen, als wir mitbekamen, dass sie sich vom Castle Park auf den Weg hierher machen.“
Auch Deer – bunte Tattoos, schwarze Kappe, weiße Shorts – will seinen richtigen Namen nicht in der Öffentlichkeit haben. Sein Arbeitgeber sehe schon sein gewerkschaftliches Engagement kritisch, handfesten Antifaschismus noch mehr.
„Es gibt einen harten Kern an Quasi-Faschisten bei den Aufmärschen, einer hatte sogar ein Hakenkreuztattoo“, sagt Deer. Die meisten Randalierer aber seien schlicht wütend, dass der Sozialstaat nicht funktioniere.
Soziale Gerechtigkeit, sonst wird es noch schlimmer
Es war die berittene Polizei, die am Samstag – wenn auch verspätet – den Mob vor dem Mercury Hotel zerstreute. Doch von der Law-and-Order-Reaktion der Labour-Regierung hält Deer nichts. „Mehr Befugnisse für die Polizei werden das Feuer noch mehr anheizen.“ In der Tat behaupten viele Rechte in den letzten Tagen, Opfer einer parteiischen Polizei und Justiz zu sein.
„Und es ist fraglich, ob die Polizei überhaupt die Ressourcen hat, diese Befugnisse zu nutzen“, sagt Deer. Denn auch die Sicherheitsbehörden seien unter den letzten Tory-Regierungen kaputt gespart worden. „Wenn die Labour-Regierung jetzt nicht die Steuern erhöht und in die öffentliche Daseinsvorsorge investiert, werden die Rechtsradikalen weiter profitieren und breitere Kreise mobilisieren können.“
Soziale Gerechtigkeit, sonst wird es noch schlimmer. Als linker Gewerkschafter muss Deer das sagen. Aber ist das nicht ein bisschen mechanistisch gedacht? In Ländern mit starkem Sozialstaat geht der Rassismus trotzdem nicht weg. „Der harte Kern von Rechtsradikalen bleibt auch bei einem funktionierenden Sozialsystem, aber die Mobilisierung von breiteren Bevölkerungsgruppen fällt den Rechtsextremisten dann schwerer“, antwortet Deer.
Dass die nichtweißen Bristolians mit dem Schlimmsten rechnen, zeigt sich am Mittwochmorgen. Auf der West Street im migrantisch geprägten Stadtteil Old Market sind die Läden geschlossen und mit Brettern vernagelt. Eine Asylberatungsstelle im Viertel soll das Ziel eines rechten Aufmarschs am Abend sein, heißt es. Aber auch die Ladenbesitzer:innen fürchten um sich und ihre Schaufenster. Immer wieder war es am Rand der Ausschreitungen zu Plünderungen gekommen.
„Bristol wurde auf einem multikulturellem Fundament gebaut“
Der Schönheitssalon The Gossip Nail Bar hat einen rosafarbenen Zettel an die Pressspanplatten vor den Fenstern geklebt: „Es ist eine traurige Welt, in der wir leben, wenn wir schließen und uns verbarrikadieren müssen weil ein paar dumme weiße Schläger sich für Hass statt für Liebe und Akzeptanz entscheiden.“ Ein einziger arabischer Kiosk hat die Tür noch halb geöffnet, der Verkäufer sagt einem Freund am Telefon: „Die kommen, um Leute wie dich und mich zu holen – lach nicht, this is serious.“
Der Moscheeverband Bristols rief dazu auf, zu Hause zu bleiben. Wer als Muslim:in zum Gegenprotest am Abend wolle, solle dies ohne Gesichtsmaske tun, friedlich bleiben und „auf sich aufpassen“.
„Pass auf dich auf“, das hört man dieser Tage häufig auf den Straßen der Stadt. Doch wird über den harten Aktivistenkern hinaus überhaupt jemand zum Gegenprotest kommen? Werden es nur die betroffenen Gruppen sein, oder auch weiße Bristolians?
Noch vor der berittenen und behelmten Polizei tauchen um sieben Uhr zwei ältere Damen – weiß und lila das Haar – auf der West Street auf, öffnen ihre Klappstühle und packen selbst gemalte Schilder aus. „Grannies against fascism“ – Omas gegen Faschismus – steht auf dem einen, auf dem anderen: „Ich liebe unsere Stadt der Zuflucht.“ Immer mehr Menschen stellen sich vor die vernagelten Läden wie zum Schutz, von 7.000 spricht am Ende das Bündnis Stand Up To Racism, von 2.000 die Polizei.
Rae Deers Gewerkschaft hat einen Lautsprecher mitgebracht, das Dach einer Bushaltestelle wird zur Bühne. „Wem gehört die Straße?“, ruft eine Gewerkschafterin ins Mikrophon. „Uns gehört die Straße“, antwortet die Menge aus Nachbar:innen, Student:innen und Bürger:innen in Hemd und Bluse. Daneben vermummte Antifaaktivisten.
„Bristol wurde auf einem multikulturellem Fundament gebaut. Großbritannien wurde auf einem multikulturellen Fundament gebaut. Ohne Einwanderung läuft hier gar nichts“, ruft eine Rednerin aus der schwarzen Community – und erntet tosenden Applaus. „Free Palestine“-Rufe branden auf, gleich gefolgt von der Melodie eines Kinderlieds, auf das die Menge singt: „We are black, white, Muslim and the Jew. We are many, many more than you.“
Die Schilder reichen vom derben „Smash the fash“ über das versöhnliche „We came all by boat“ bis zum konservativen „Racism is not patriotism“.
Der Gegenprotest wird zum Demokratiefest
Deutsche Bomben vernichteten im Zweiten Weltkrieg weite Teile Bristols. Darauf bezieht sich eine Rednerin, die davon spricht, dass ältere Menschen hier „noch die hässlichste Form von Faschismus erlebt haben“. Nun sei es Zeit, den jüngeren Generationen deutlich zu machen, wie so etwas anfängt.
Rechtsextremisten sind nicht auszumachen auf der West Street, der Gegenprotest wandelt sich in ein Demokratiefest. Selbst die Polizei spricht von einer „friedlichen Zusammenkunft“ und bedankt sich für die „Unterstützung der Öffentlichkeit“. Bristol feiert, dass es an diesem Abend seinen progressiven Ruf verteidigt hat.
Die Menge zerläuft sich nur langsam, die Leute bleiben, trinken Cider auf dem Bürgersteig, tanzen zur Musik aus ihren Handys und diskutieren, wie es weitergeht. Am Samstag steht die nächste Demo an. Mitte August planen die Gewerkschaften, Stand Up To Racism, die Moscheegemeinden und Autonome ein Strategietreffen. Mit Whatsapp-Gruppen wollen sie gegen die rechte Mobilisierung in den sozialen Medien ankommen.
Oben am Mercury Hotel steht später am Abend wieder keine Polizei. Dafür zwei junge Männer und eine Frau mit grauem Haar. Am Nachmittag hatte die Unison-Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes Spielsachen und Süßes für die Kinder in der Asylunterkunft gebracht.
Die drei, die jetzt hier stehen, sind Nachbar:innen, die den Samstag miterlebt haben. „Der Abend blieb hier oben ruhig “, sagt die Frau. Sie und die beiden jungen Männer halten Wache, damit Rahima, ihr Kind und die anderen Geflüchteten im Mercury Hotel nicht alleine sind. Zumindest nicht in dieser Nacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu