Machtproben der Ultra-Realos

Beim Grünen-Landesparteitag üben sich Parteilinke und Realos zwar in besserem Umgang miteinander als beim Chaos-Parteitag im Dezember. Bei den Großthemen Enteignung und Verfassungsschutz aber ziehen sich weiterhin tiefe Gräben durch die Partei

Von Rainer Rutz

Die Hauptstadt-Grünen bekennen sich weiter zur Umsetzung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co enteignen“: Das ist eine der Botschaften, die am Samstag von ihrem Landesparteitag im Estrel-Hotel in Neukölln ausgingen. Und diese Botschaft ist nicht so selbstverständlich, wie sie erst mal klingt.

Die Unterstützung für den Volksentscheid von 2021 sei ja schön und gut, aber das könne die Partei nun beenden, forderten die „Grüne Realos Mitte“, kurz „Gr@m“, bei dem Partei­treffen. Das war nicht weniger als ein Frontalangriff auf den im Berliner Landesverband traditionell starken linken und enteignungsfreudigen Parteiflügel.

„Als Partei für Mieterinnen und Mieter müssen wir die Realitäten von heute anerkennen“, begründete Tarek Massalme für das umstrittene Ultra-Netzwerk „Gr@m“ vor den rund 150 Delegierten das von ihm beantragte Großreinemachen bei „Deutsche Wohnen & Co enteignen“.

Massalme hatte sich schon in seinem dazugehörigen Parteitagsantrag auf „die finanziellen Risiken einer etwaigen Enteignung“ berufen: Es drohten „untragbare Belastungen für den Berliner Landeshaushalt“ und „drastische Einsparungen an anderer Stelle“, umso mehr, „wenn zugleich die Mieten subventioniert werden sollten“.

In seiner Parteitagsrede zauberte Massalme noch ein weiteres Argument aus dem Hut: „Vergesellschaftung dämpft keine Mieten, weil sie keine neuen Wohnungen schafft.“ In ähnlicher Weise haben sich bei vielen anderen Gelegenheiten auch Senatschef Kai Wegner (CDU) und Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) geäußert.

Für die Parteilinken konterte Katrin Schmidberger, die wohnungs- und mietenpolitische Sprecherin der Abgeordnetenhausfraktion. „Ja, die Rahmenbedingungen haben sich verändert, sie sind nämlich für die Mie­te­r:in­nen noch schlimmer geworden“, sagte sie, „das heißt, wir müssen handeln, und zwar mit allen Mitteln.“ Dazu gehöre auch die Vergesellschaftung der Wohnungsbestände profitorientierter Immobilienkonzerne.

„Wir sehen den Verfassungsschutz kritisch“

Nina Stahr, Parteichefin

Schmidberger brachte dann auch einen Gegenantrag ein, durch den sich die Grünen noch einmal klar für die Umsetzung des Volksentscheids aussprechen sollten. „Die Ber­li­ne­r:in­nen haben schon eine lasche, unzuverlässige Regierung, für die der Mieterschutz nur eine leere Worthülse ist, sie brauchen nicht auch noch so eine Opposition“, rief sie sichtlich angefressen Massalme und seinen Un­ter­stüt­ze­r:in­nen zu. Der Antrag Schmidbergers bekam schließlich eine Mehrheit von mehr als 70 Stimmen. Zugleich votierten aber auch über 50 Delegierte für den Antrag der „Gr@m“-Gruppe um Massalme. Obgleich sich die Parteilinken damit durchsetzten: Eine klare Absage an den Kurs der auf Landesparteitagen bislang weitgehend einflusslosen Ultra-Realos sieht anders aus.

Der gut achtstündige Parteitag war das erste große Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Strömungen seit der Chaoswahl einer neuen Landesspitze im Dezember. Zur Erinnerung: Die ursprüngliche Kandidatin des Realo-Flügels fiel durch – und das drei Wahlgänge hintereinander. Tanja Prinz aus Tempelhof-Schöneberg scheiterte derart krachend, dass sie unter Tränen den Saal verließ. Der Parteitag wurde danach unterbrochen.

Bei der Fortsetzung vier Tage später holte ersatzweise Nina Stahr, schon bis Ende 2021 Vorsitzende, als Realo-Kandidatin fast 90 Prozent der Delegiertenstimmen. Der Co-Vorsitzende Philmon Ghirmai wurde mit rund 74 Prozent wiedergewählt. Die Nerven lagen dennoch blank. Hier Linke und gemäßigte Realos, zu denen Stahr gehört, dort „Gr@m“ – Letztere hatten Prinz unterstützt.

Landeschef Ghirmai sagte am Samstag, er und Nina Stahr hätten seither „sehr konstruktive“ Gespräche geführt. Er sei froh, dass die Grünen in der Lage seien, „das Geschehene aufzuarbeiten“. Tatsächlich versuchten sich die Delegierten in Diszipliniertheit. Selbst die Debatte über Enteignung lief nicht aus dem Ruder, was nach den Erfahrungen beim Dezember-Parteitag möglich schien.

Die Parteitagsregie hatte freilich auch ordentlich darauf hingewirkt, indem sie beim Leitantrag schwerpunktmäßig auf ein Thema setzte, das geeignet war, große Einigkeit herzustellen: den Kampf gegen AfD, Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus und Queerfeindlichkeit, dazu konsequentes Vorgehen gegen Rechts­ex­tre­mis­t:in­nen in Polizei, Justiz und Verfassungsschutz.

Einigkeit bei der Geschäftsordnung: Abstimmung beim Landesparteitag der Grünen am Samstag im Estrel Foto: Jörg Carstensen/dpa

Trotzdem gab es im Vorfeld sogar hier Knatsch. Während die Ultra-Realos die Arbeit des Verfassungsschutzes über den grünen Klee lobten, forderten die Linken und gemäßigte Realos eine grundlegende Neuordnung der Sicherheitsarchitektur. „Es ist kein Geheimnis, dass wir den Verfassungsschutz kritisch sehen“, verdeutlichte Nina Stahr noch einmal die Sichtweise des Landesvorstands. Das Lob des „unverzichtbaren Beitrags“ der Verfassungsschützer:innen, den „Gr@m“ unbedingt in den Leitantrag schreiben wollte, sucht man hingegen vergebens.

So werben die Grünen nun für eine „effektive Alternative als Weiterentwicklung der bestehenden Verfassungsschutzarchitektur“. Mit dem Wort „Alternative“ als freundliche Umschreibung für Abschaffung des Verfassungsschutzes als Fernziel könne er leben, sagte ein Parteilinker zur taz. Konkret soll es eine Aufspaltung geben: in ein unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung und einen von polizeilichen Aufgaben klar abgegrenzten nachrichtendienstlichen Verfassungsschutz. „Gr@m“ revoltierte nicht, der Leitantrag wurde ohne Gegenstimmen bei vier Enthaltungen angenommen.

Der Ausgang der Abstimmung über den Vergesellschaftungs-Volksentscheid zeigte gleichwohl eines: Der Samstag dürfte längst nicht das Ende der Debatte sein – und in der geht es um mehr als um „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Es geht um Macht im Landesverband.