Palästinensischer Minister zu Gaza: „Alle haben die moralische Pflicht“

Wie kann der Krieg enden? Der palästinensische Außenminister Maliki hofft auf die internationale Gemeinschaft und hält an einer Zweitstaatenlösung fest.

Kinder an einer Essensausgabestelle.

Kinder im Gazastreifen an einer Essensausgabestelle am 13. Februar Foto: Ibraheem Abu Mustafa/reuters

taz: Herr al-Maliki, die Lage in Gaza ist düster. Die Menschen dort, so scheint es, haben die Wahl zu verhungern, getötet oder vertrieben zu werden. Was wird als Nächstes passieren?

Riyad al-Maliki: Den Menschen bleiben nicht viele Möglichkeiten. Eine Kollegin in Rafah schrieb mir: Dass wir noch am Leben sind, bedeutet nicht, dass wir nicht sterben. Wenn du heute nicht getötet wirst, dann womöglich morgen. In Gaza fühlt sich der Tod an, als wäre er zum Normalfall geworden. Und am Leben zu bleiben kann eine Strafe sein.

Jahrgang 1955, ist gelernter Bauingenieur, Hochschuldozent und seit 2007 Außenminister der Palästinensischen Autonomiegebiete.

Was erwarten Sie von Deutschland?

Deutschland hat politisches Gewicht und sollte vorangehen, das erfordert Mut. Meine Amtskollegin Annalena Baerbock ist mutig und engagiert: Sie hat die Gewalt der Siedler im Westjordanland deutlich verurteilt, sich klar zu den Forderungen des Internationalen Gerichtshofs vom Januar, zur Notwendigkeit einer humanitären Feuerpause und zu einer Zweistaatenlösung geäußert. Das begrüße ich, darauf können wir aufbauen.

Einen Waffenstillstand hat Deutschland bisher allerdings nicht gefordert, sondern sich klar an die Seite Israels gestellt. Viele Palästinenser fühlen sich deshalb im Stich gelassen.

Das palästinensische Volk hat allen Grund, sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen zu fühlen. Schließlich hat die israelische Armee in Gaza seit Oktober mehr als 28.000 Palästinenser getötet und über 60.000 verletzt, die meisten Opfer sind Frauen und Kinder. Die Wortwahl ist auch sehr unterschiedlich, wenn es darum geht, die Taten der Hamas zu verurteilen oder das israelische Vorgehen zur kommentieren. Alle Mitglieder der ­internationalen Gemeinschaft haben die moralische Pflicht, die Dinge beim Namen zu nennen – insbesondere die Staaten, die eine werte­basierte Außenpolitik anstreben. Die gegen­wärtige Aggression gegen das palästinensische Volk stellt diese Werte auf die Probe.

Luftbild einer Zeltstadt.

Zeltstadt für Geflüchtete in Rafah im Gazastreifen am 14. Februar Foto: Ibraheem Abu Mustafa/reuters

Benjamin Netanjahu hat als Kriegsziel ausgegeben, die Hamas zu vernichten. Warum sollte Israels Premier den Krieg beenden, bevor das erreicht ist?

Er hat es viereinhalb Monate lang versucht. Ist es ihm gelungen? Nein. Er wollte auch die Geiseln befreien. Ist ihm das gelungen? Auch nicht. Die Frage ist: Wird er es in den nächsten Monaten schaffen? Wenn er so weitermacht, dann wird in Gaza bald kein einziges Haus mehr stehen. Aber die Menschen in Israel beginnen zu erkennen, dass Netanjahu bereit ist, die Geiseln zu opfern, um seine persönliche Zukunft zu retten. Aus diesem Grund will er den Krieg so lange wie möglich fortsetzen und sogar ausweiten.

Sie glauben nicht, dass die Hamas vernichtet werden kann?

Ich will damit nur sagen, dass Netanjahu dieses Ziel nach vier Monaten des Todes und der Zerstörung noch nicht erreicht hat. Wie ich schon sagte, geht es ihm nicht um die Sicherheit seines Volkes, sondern um seine Zukunft, weshalb er die Aggression so lange wie möglich fortsetzen wird, um seine Karriere zu retten.

Immerhin hat die israelische Armee in Rafah jetzt zwei Geiseln befreit. Ist es aus dieser Sicht nicht logisch, dass sie ihre Offensive dort ausweiten will?

Die Armee hat zwei Geiseln in Rafah befreit, ja. Aber mussten dafür über 100 Menschen sterben und doppelt so viele verletzt werden? Mussten dafür 50 Häuser zerstört werden, einschließlich zwei Moscheen? Denn das ist passiert. Die israelische Armee hat auch schon mehrere Geiseln getötet. Und die übrigen Geiseln könnten sich überall befinden, sie wurden vermutlich über verschiedene Orte verteilt.

Worum geht es Ihrer Meinung nach dann?

Die Ziele dieses Kriegs sind aus meiner Sicht sehr klar. Erstens, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen und zumindest den nördlichen Teil in eine Pufferzone umzuwandeln. Zweitens, die Bevölkerung aus Gaza zu vertreiben. Gleich am ersten Tag des Krieges hat Netanjahu allen Bewohnern geraten, den Gazastreifen in Richtung Ägypten zu verlassen. Seitdem sind die Menschen aus dem Norden bis nach Rafah vertrieben worden. Sie müssen jetzt nur noch über die Grenze gedrängt werden. Durch die Beschränkung der Einfuhr von Lebensmitteln und Wasser, Strom, Treibstoff und Medikamenten hofft man, dass sie den Gazastreifen aus Verzweiflung verlassen. Dieser so genannte „freiwillige“ Transfer ist das Hauptziel dieses Angriffs.

Falls das so ist: Wie ließe es sich verhindern?

Die Anführer der internationalen Gemeinschaft sollten sagen, dass das, was Netanjahu vom ersten Tag an bis heute getan hat, ein Verbrechen ist und im Moment einem Völkermord gleichkommt. Netanjahu schert sich nicht um das Leben von Palästinensern. Ihm ist es egal, ob Hunderttausende getötet werden oder die Hälfte der Bevölkerung vertrieben wird. Auch das Leben von Israelis ist ihm egal. Aber wenn Israel so weitermacht, wird der Internationale Strafgerichtshof verlangen, dass einige seiner politischen oder militärischen Führer verhaftet werden. Das wird geschehen – wenn nicht morgen, dann in absehbarer Zeit. Schließlich wurden solche Gerichte genau für solche Situationen geschaffen. Und nach der Konvention zur Verhinderung von Völkermord macht sich ein Land, das Waffen an ein anderes Land verkauft, das diese einsetzt, um einen Völkermord zu begehen, zum Komplizen. Dessen muss man sich bewusst sein.

Südafrikas Völkermord-Klage gegen Israel hat bisher keine direkten Konsequenzen. Israel geht in Gaza weiter mit unverminderter Härte vor, der Westen liefert immer noch Waffen. Sehen Sie Anzeichen für ein Umdenken?

Haben Sie gesehen, dass ein Gericht in den Niederlanden geurteilt hat, dass die Niederlande den Verkauf von Teilen des F-35-Kampfjets stoppen müssen? Und dass Nicaragua Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt, weil es durch den Verkauf von Waffen an Israel zum Komplizen geworden ist? Sollten Gerichte zu dem Schluss kommen, dass sich Deutschland oder die Niederlande zu Komplizen eines Völkermordes gemacht haben, wird sich das auf deren Position auswirken. Man kann nicht vor seiner Verantwortung weglaufen.

Rechte in Israel wollen den Gazastreifen wieder ganz unter Israels Kontrolle bringen und dort wieder Siedlungen errichten. Wie ließe sich das verhindern?

Was die Welt 1967 akzeptiert hat, wird sie heute nicht mehr akzeptieren. Diese Regierung denkt, dass sie allein mit ihrer militärischen Macht für immer über das Schicksal des palästinensischen Volkes bestimmen kann. Aber militärische Macht hält nicht ewig. Militärisch ist uns Israel in jeder Hinsicht überlegen. Aber juristisch stehen wir besser da, und ich bin überzeugt, dass wir auf diesem Feld gewinnen können. Am 19. Februar wird der Internationale Gerichtshof wieder zusammentreten, um zu entscheiden, ob es sich bei dem Regime, das Israel seit 1956 in den besetzten palästinensischen Gebieten aufrechterhält, noch um ein Besatzungsregime handelt. Denn eine Besatzung ist per Definition vorläufig und nicht auf Dauer angelegt. Oder handelt es sich bereits um ein Apartheid-Regime? Die Frage ist, wie Israel und wie die Länder, die mit Israel befreundet sind, darauf reagieren werden.

Dem israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant schwebt für den Gazastreifen ein ähnliches Modell wie im Westjordanland vor: Israels Armee behält die militärische Kontrolle und eine lokale Behörde leitet die zivile Verwaltung. Würde die Autonomiebehörde das übernehmen?

Galant ist für mich kein Maßstab. Gaza ist ein integraler Bestandteil des Staates Palästina. Wir wollen, dass die Zukunft des Gazastreifens vom palästinensischen Volk bestimmt wird und nicht von der israelischen Besatzungsarmee.

Israel kontrolliert das Westjordanland seit 1967. Es kann Gelder zurückhalten, Checkpoints errichten und mit seiner Armee ein- und ausgehen. Seit dem 7. Oktober wurden dort mehr als 360 Menschen durch Siedler oder Soldaten getötet. Ihre Autonomiebehörde hat auch deshalb stark an Autorität verloren. Warum geben Sie die Verantwortung nicht ab?

Wir sind keine Behörde oder einzelne Personen, die die Macht an sich reißen wollen. Wir glauben an faire Wahlen und haben in den vergangenen Jahren viele Male versucht, Wahlen abzuhalten, die dann von Israel gewaltsam verhindert wurden. Wenn es im gesamten Nahen Osten ein Volk gibt, das an demokratische Werte glaubt, dann sind es die Palästinenser. In Palästina gibt es mehr als ein Dutzend politischer Parteien, von denen die meisten schon seit 50 Jahren bestehen, eine solche politische Vielfalt ist selten. Wir sind für viele Länder ein Beispiel, dem sie folgen können.

Netanjahu lehnt eine Zweistaatenlösung ab. Wo sehen Sie auf israelischer Seite derzeit einen Partner für den Frieden?

Im Moment sehe ich leider keinen mutigen Anführer, der Israel zum Frieden führen könnte. Es würde bedeuten, die israelische Besetzung der Gebiete des Staates Palästina entsprechend des Völkerrechts zu beenden und ein Abkommen abzuschließen, das den Konflikt endgültigen beendet. Wir hoffen, dass eine solche Person irgendwann auftauchen wird.

Würde die Hamas eine Zweistaatenlösung akzeptieren?

Ich spreche nicht für die Hamas. Das müssen Sie diese schon selbst fragen. Vor ein paar Monaten hat sie öffentlich erklärt, dass sie einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 akzeptiert. Aber was zählt, ist die Position der PLO als einzige und legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes. Und die PLO setzt sich weiterhin für diese Lösung ein. Ich muss Sie daran erinnern, dass alle regierenden israelischen Parteien die Zweistaatenlösung und die mit der PLO unterzeichneten Abkommen aktiv ablehnen. Tatsächlich hat Netanjahu seine gesamte politische Karriere darauf aufgebaut, eine Zweistaatenlösung zu verhindern.

Mehr als eine halbe Million Siedler leben heute in der Westbank unter dem Schutz der israelischen Armee, ihre Zahl steigt. Wie realistisch ist eine Zweistaatenlösung noch?

Seit 50 Jahren streben wir einen unabhängigen palästinensischen Staat an. Viele Palästinenser haben dafür ihr Leben verloren. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Welt einen Konsens über die Zweistaatenlösung gefunden hat. Es hat Zeit gebraucht, diesen Konsens zu erreichen. Es ist nicht fair zu sagen, lasst uns dieses Ziel aufgeben. Denn das würde bedeuten, dass wir die Möglichkeit aufgeben, echten Frieden für viele kommende Generationen zu erreichen.

Fair nicht, aber realistisch?

Wenn 193 Länder dieser Welt für die Zweistaatenlösung sind und Israel nicht, dann gibt es nicht so viele Möglichkeiten: Entweder zählen die 193 Länder nicht. Oder die 193 Länder können Israel dazu bringen, das Völkerrecht zu respektieren. Oder aber Israel wäre weiterhin ein Staat, der außerhalb des Völkerrechts agiert. Mit der Zweistaatenlösung wird dem palästinensischen Volk keine volle Gerechtigkeit zuteil. Sie ist ein Kompromiss, den das palästinensische Volk, vertreten durch die PLO, mutig akzeptiert hat – einen Kompromiss, der ein Ende der israelischen Besatzung und die Verwirklichung eines kleinen, aber unabhängigen Staates in den Grenzen von 1967 sichern würde. Und glauben Sie mir, einen palästinensischen Staat auf einem Gebiet von 22 Prozent des historischen Palästinas zu akzeptieren war wirklich ein schmerzhafter und großer Kompromiss, um den Frieden zu erreichen, den unsere Völker verdienen. Aber wenn Israel diese Lösung weiterhin ablehnt, wird man auf andere Alternativen zurückgreifen müssen – etwa den ursprünglichen UN-Teilungsplan von 1947, der dem palästinensischen Volk 46 Prozent des Gebiets zuweist.

Wäre eine Einstaatenlösung eine Alternative?

Wenn Israel die Zweistaatenlösung unmöglich macht, dann wird der Einstaat de facto zu einer Alternative. Dies müsste entweder ein demokratischer Staat sein, in dem jede Person in dem Gebiet vom Mittelmeer bis zum Jordan eine Stimme hat. Oder es wäre ein repressiver Staat, in dem eine Gruppe über eine andere herrscht – so, wie es derzeit in den besetzten palästinensischen Gebieten der Fall ist, dessen Realität angesichts einer dauerhaften illegalen Besetzung zu Recht weithin als Apartheid-System beschrieben wird. Die internationale Gemeinschaft wird das Verbrechen der Apartheid nicht tolerieren, und wir würden dies auch nicht tun.

Bei all dem Hass, Schmerz und Fanatismus auf beiden Seiten ist eine Lösung des Konflikts nur schwer vorstellbar. Woher nehmen Sie Ihre Hoffnung darauf?

Deutschland und Frankreich waren Erbfeinde, bis sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Koexistenz entschlossen haben. Manchmal muss man Kompromisse eingehen, um der Zukunft und der nächsten Generationen willen. Wir müssen uns aus diesem Kreislauf von Krieg und Rache befreien. Solange es – mit Ausnahme Israels – einen Konsens über eine Zweistaatenlösung gibt, glaube ich, dass sie möglich ist. Wir sind bereit, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen, das den Konflikt beenden würde. Ich hoffe, Israel wird das erkennen, bevor es zu spät ist.

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