piwik no script img

Israel nach Hamas-AnschlagStrategie für Gaza

Die israelische Regierung verzögert die angekündigte Bodenoffensive im Gazastreifen. Die USA fordern Pläne für eine künftige Regierung in dem Küstengebiet.

23. Oktober, Gaza: Palästinenser evakuieren einen verwundeten Mann nach israelischen Luftangriffen Foto: Abed Khaled/ap/dpa

Berlin taz | Die immer wieder angekündigte israelische Bodenoffensive im Gazastreifen verzögert sich weiter. Der Grund dafür ist unklar. Medienberichten zufolge hat US-Präsident Joe Biden einen Aufschub eines Einmarschs nahegelegt, um weitere Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln zu ermöglichen. Die Berichte wurden nicht von offizieller Seite bestätigt.

Israel hält sich bedeckt, doch auch in Israel sind sich nicht alle einig darüber, dass eine Bodenoffensive der richtige Weg ist, wenn 222 israelische Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Auch gibt es Zweifel daran, dass die israelische Armee für einen Bodeneinsatz ausreichend ausgerüstet ist. Angaben des israelischen Militärs zufolge drangen Sonntagabend und -nacht vereinzelte israelische Panzer- und Infanterietruppen in den Gazastreifen ein, unter anderem, um Informationen über den Verbleib von Geiseln zu gewinnen. Dabei wurde ein Soldat getötet.

US-Außenminister Antony Blinken drängte Israel am Sonntag öffentlich, eine Strategie zu entwickeln, wer den Gazastreifen regieren wird, sollte die israelische Armee ihren Auftrag, die Hamas zu stürzen, erfüllen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte zuvor erklärt, dass Israel sich derzeit auf die Zerschlagung der Hamas konzentriere und nicht darüber nachdenke, was danach komme. Die Mitglieder des jüngst gegründeten Kriegskabinetts unter Beteiligung des zentristischen Benny Gantz hatten bei ihrem Eintritt in die Regierung die Entwicklung einer ganzheitlicheren Strategie gefordert. Die Bombardierung des Gazastreifens geht derweil weiter.

In einem Telefongespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu drängte Biden auf die Ermöglichung kontinuierlicher Hilfslieferungen über die ägyptische Grenze nach Gaza. Am Montag passierte ein dritter Hilfskonvoi, bestehend aus mehr als einem Dutzend Lastkraftwagen, den Rafah-Übergang. Bereits am Samstag und Sonntag waren insgesamt 34 Lkws in den abgeriegelten Küstenstreifen gefahren. Hilfsgruppen bezeichnen dies jedoch als Tropfen auf den heißen Stein. Bereits vor Kriegsbeginn war die Mehrheit der Bevölkerung auf Hilfslieferungen angewiesen.

Selbstverteidigung im Rahmen der Menschenrechte

In einem gemeinsamen Statement bestärkten die USA und weitere westliche Nationen, unter ihnen auch Kanada, Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien, das Recht Israels auf Selbstverteidigung und riefen gleichzeitig dazu auf, dies in Übereinstimmung mit den Menschenrechten zu vollziehen.

Auf dem Treffen von EU-Außenministern in Luxemburg am Montag zeigte sich erneut die Uneinigkeit im Nahostkonflikt. Im Zentrum stand unter anderem die Frage nach einer humanitären Waffenpause oder einem humanitären Korridor. Deutschland stellte sich gegen Forderungen nach einem humanitären Waffenstillstand. Die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock verwies auf die anhaltenden Raketenangriffe auf Israel. „Es wird nur Frieden und Sicherheit für Israel und die Palästinenserinnen und Palästinenser geben, wenn der Terrorismus bekämpft wird“, so Baer­bock. Deutschland hat jedoch die Hilfe für Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen um 50 Millionen Euro erhöht, ebenso die EU.

Nicht nur unter den EU-Außenminister*innen herrscht Sorge vor einer Ausweitung des Krieges. Alle Augen richten sich dabei auf die nördliche Grenze Israels zum Libanon. Am Sonntagabend hat das israelische Militär nach eigenen Angaben zwei Zellen der Hisbollah im Libanon getroffen. Von den beiden Stellungen aus sollten Geheimdienstberichten zufolge Raketen auf Israel abgefeuert werden. Außerdem schoss die Armee am Montag eine Drohne nahe der libanesischen Grenze ab. Verteidigungsminister Joaw Galant ordnete am Sonntag die Evakuierung weiterer 14 Ortschaften im Norden an. Vor einer Woche hatte Israel bereits einen vier Kilometer breiten Streifen im Grenzgebiet zum Libanon zur Sperrzone erklärt.

Netanjahus Sprecher zufolge gibt es derzeit mehr als 200.000 israelische Binnenflüchtlinge

In Ramat Gan, einer direkt an Tel Aviv angrenzenden Stadt, wurde eine Zeltstadt für Menschen, die aufgrund des Krieges aus dem Süden oder Norden Israels geflohen sind, errichtet. Auch die Stadt Eilat am Roten Meer bereitet eine Zeltstadt für Geflüchtete vor. Netanjahus Sprecher zufolge gibt es derzeit mehr als 200.000 israelische Binnenflüchtlinge.

Der US-amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin kündigte die Bereitstellung einer weiteren Flugzeugträgerkampfgruppe im östlichen Mittelmeer sowie weiterer Raketenabwehrsysteme an. Am vergangenen Donnerstag hatte ein Kriegsschiff der US-Marine mehrere Raketen abgeschossen, die vom Jemen aus abgefeuert wurden und möglicherweise Israel zum Ziel hatten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

15 Kommentare

 / 
  • "Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte zuvor erklärt, dass Israel sich derzeit auf die Zerschlagung der Hamas konzentriere und nicht darüber nachdenke, was danach komme."



    Keinen Plan für die Zukunft haben hat ja in der Vergangenheit hervorragend funktioniert.

  • Selten so gut gelacht, Menschenrechte die von Staaten eingefordert werden die diese Menschenrechte selbst immer wieder ganz bewusst und ungestraft missachten wenn diese gerade das eigene Handeln stören.

    • @pablo:

      In der Gemeinsamen Stellungnahme dieser Staaten war von Menschenrechten gar keine Rede.

      www.gov.uk/governm...ly-22-october-2023

      Die Rede war von "international humanitarian law", was nicht Menschenrechte bedeutet, sondern humanitäres Völkerrecht - also Regelungen des Kriegsvölkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung.

      Offenbar lag hier ein Übersetzungsfehler vor.

      (Ich habe recherchiert, weil mir im Kontext von Selbstverteidigung die Erwähnung von Menschenrechten unlogisch erschien: Krieghandlungen werden rechtlich durch Kriegsvölkerrecht gerelt, und nicht durch Menschenrechte.)

  • Ich habe den Eindruck, dass der Gazastreifen nicht nur von der Hamas "frei" gemacht werden soll, sondern auch ein großteil der Bevölkerung vertrieben werden soll und letztlich der Gaza unter israelischer Verwaltung gestellt wird.



    Wohin sollen die über 1 Mio. geflohenen denn hin wenn der Süden von Gaza von Bomben verwüstet ist.

  • Ist denn abzusehen, wie der Gazastreifen aussehen wird, wenn die Hamas weg ist?

    Das wird sehr stark die Möglichkeiten bestimmen, wie das Danach gestaltet werden kann.

  • Ich bin immer wieder überrascht, dass aus der amerikanischen Präsidialbürokratie handfeste und sinnvolle Strategien quellen, während man froh ist, das der greise weiße Mann es noch lebend bis zum Mikro schafft, um sie zu verkünden.

    Eine Idee für das friedliche "danach" ist seit Jahrzehnten überfällig.

    Fehlen nur noch jene, die bereits sind dafür auch nur ein wenig zurückzustecken. Da sieht es beiderseits der Grenze zu Gaza momentan nicht so gut aus.

  • 2G
    2422 (Profil gelöscht)

    In der gegenwärtig aufgeheizten Stimmung, in der man leider auch von Journalisten immer wieder pädagogisiert wird, als hätte man nicht einen eigenen Kopf zu denken und sich zu entsetzen, tut ihre Art von Berichterstattung ausgesprochen gut. Ich finde es so schade, aber verstehe es auch sehr gut, dass sie nicht mehr von vor Ort berichten können.

  • Eine Strategie haben die nicht, hatten die auch nie. Zerstören und Chaos hinterlassen. Wie "die Partner" im Irak, in Afghanistan, in Libyen usw. Nichts neues aus dem Westen also, das ist in Israel nicht anders.

  • "Die Bombardierung des Gazastreifens geht derweil weiter."

    Meiner Meinung nach müsste es korrekt heißen, die Bombardierung des Gazastreifens und Israels gehen derweil weiter.

    • @*Sabine*:

      Soweit ich das verstanden habe, setzt die Hams ihre Luftangriffe weiter fort ?

      • @Kajakia:

        Die Hamas hat seit dem 7.10. weit über 5000 Raketen in Richtung Israel geschossen. Natürlich aus der von der Hamas bevorzugten Deckung: Zivilgebäude. Von diesen Raketen stürzen wohl auch nicht wenige über Gaza ab, wie Aufnahmen des israelischen Militärs belegen.

        Die Hamas ist alleine für das Übel in Gaza verantwortlich. Israel hat jedes Recht sich zu verteidigen. Eine friedliche Koexistenz wird erst möglich sein, wenn die Hamas und andere islamistische Terrorgruppen nachhaltig vernicht worden sind.

        »Wenn die Araber ihre Waffen heute niederlegen würden, gäbe es keine Gewalt mehr. Wenn die Juden ihre Waffen heute niederlegen würden, gäbe es kein Israel mehr.«



        Golda Meir

  • Das grundsätzliche Problem in Israel und Palästina bleibt die sich immer mehr herausbildende "One State Solution", also die Errichtung einer de-fakto Kolonialherrschaft Israels über die besetzten Gebiete. Die sich daraus ergebenden Apartheidpolitik in der Westbank und (weniger stark ausgeprägt) Ostjerusalem ist offensichtlich das zentrale Hemmnis zu einem gerechten und lang anhaltenden Frieden. Es sollte das Ziel der westlichen Wertegemeinschaft sein, dieses Abrutschen Israels in ein immer liberales und antidemokratisches System der rassistischen Vorherrschaft - mit all den gravierenden Menschenrechtsverletzungen die es mit sich bringt - zu verhindern. Nur wenn wir endlich das Existenzrecht Palästinas anerkennen kann es eine Grundlage zum Frieden geben

    • @Esperanza HOFFNUNG:

      Das Problem ist das Israel keine vernünftige alternative zu einer Besetzung hat, das letzte Mal als Israel sich aus einem besetzten Gebiet zurückgezogen, die Siedler vertrieben und freie Palästinensische Wahlen ermöglicht hat. Ist daraus der Genozidale Mörderstaat der Hamas geworden. Der sich ebenso gegen Palästinenser als auch gegen Israelis richtet. Wenn sie einen Vorschlag haben, dann nur her damit.

      • @Berglandraupe:

        Ich finde dieses Argumentationsmuster, gelinde gesagt, extrem problematisch. Sie implizieren, dass das palästinensische Volk zu einem Leben in einem unabhängigen Staat - oder nur in einem Mindestmaas an Würde - schlicht und ergreifen nicht in der Lage wäre. Dabei übersehen Sie, dass die Entwicklung der Hamas gerade als Reaktion auf die Weigerung Israels, einen unabhängigen palästinensischen Staat zuzulassen, entstanden ist. Schließlich war es die PA, die sich bereit erklärte, Israels Existenzrecht anzuerkennen. Leider wurde sie dafür mit einer brutalen Kolonialpolitik belohnt, bis sie schließlich zu einem neuen Bantustan degradiert wurde. Das hat - selbstverständlich - ihre legitimation in den Augen der Palästinenser klar untergraben und diese in die Arme der Extremisten getrieben. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass Israel die Hamas gezielt gefördert hat, um die Effektivität des gemäßigten palästinensischen Wiederstandes zu brechen. Ich halte es, um ehrlich zu sein, für extrem menschenverachtend, als "Lösung" für das Problem des radikalen Islamismus eine komplette Zerstörung Palästinas und die Entrechtung eines ganzen Volkes auf unabsehbare Zeit zu fordern. Davon mal abgesehen, ist das auch zutiefst unpraktikabel. Fragen sie sich doch einmal, wie soll das weitergehen? Werden die Palästinenser friedlich dabei zusehen, wie sie für weitere 50 Jahre zu Menschen dritter Klasse degradiert werden, während jede Aussicht ihr Heimatland zu erhalten durch gezielte Siedlungspolitik unmöglich gemacht wird? Das wäre absurd. Schließlich würden wir auch nicht von dne Israelis verlangen friedlich zu bleiben, wenn in Tel-Aviv auf einmal "Juden Verboten" Schilder an jeder 2. Straßenecke auftauchen würden. Viel eher wird eine ständige Spirale der Gewalt sich immer weiter verschlimmern, bis den Palästinensern ein Leben in Würde erlaubt werden wird. Dabei ist auch zu betonen, dass die militärische Übermacht quasi garantiert auf Israels Seite bleiben wird.

        • @Esperanza HOFFNUNG:

          Ich finde ihre Wahrnehmung, gelinde gesagt, extrem problematisch. Was Sie hier „impliziert“ sehen, lässt sich aus dem Kommentar von @Berglandraupe gar nicht herauslesen; sie scheinen es völlig missverstanden zu haben.



          M.E. bezog er sich darauf, dass Israel am 12.9.2005 den Gazastreifen einseitig geräumt hat; die jüdischen Siedlungen, welche sich auf 40% des Gazastreifens ausdehnten wurden geräumt, das Militär wurde abgezogen, man Zog sich praktisch auf die Linie von 1967 zurück. Zu einem Rückgang der Raketenangriffe aus Gaza kam es dadurch aber nicht,

          en.wikipedia.org/w..._2002%E2%80%932006

          vielmehr konnten die Terroristenorganisationen ungestörter agieren.

          Warum sollte unter solchen Umständen Israel auch noch die Besatzung des Westjordanlandes beenden? Was veranlasst Sie zur Annahme, dass es mit den Angriffen nicht unverändert weitergehen und es dann doch damit enden würde, dass Israel die Gebiete wieder besetzt, um sie nicht Terrororganisationen zu überlassen? Zurück zum Ausgangspunkt, nur mit mehr Todesopfern.

          Im übrigen war es nicht die PA welche das Existenzrecht Israels anerkannte, sondern die PLO. Und Besatzung und Siedlungspolitik bestand schon davor, von einer Belohnung in Folge kann also keine Rede sein.

          Dass Israel die Hamas gezielt gefördert habe, scheint mir auch eine arge Verzerrung der Tatsachen. Ich habe noch keinen Beleg gesehen, wonach Israel die Hamas irgendwie gefördert hätte; weder mit Ressourcen noch mit Ausbildung. Ich habe bis dato nur gelesen, dass es den Aufstieg nicht behindert hat.