Erdbeben in der Türkei und Syrien: Jede Minute ist wichtig
Das verheerende Beben trifft eine ohnehin destabilisierte Region. Hinzu kommt ein türkischer Präsidenten im Wahlkampf. Folgt nun weiteres Chaos?
D ie Türkei ist schweres Leid durch Erdbeben gewöhnt. Unter dem kleinasiatischen Minikontinent stoßen die eurasische und afrikanische Platte aufeinander. Deshalb reißt der nordanatolische Graben mit seinen Verästelungen immer wieder auf. Doch diesmal sprengt das Ausmaß der Verheerung den Rahmen des Üblichen: Die betroffene Region ist enorm groß, die Schäden sind gewaltig. Tausende Familien sind von Tod und Verlust ihrer Häuser betroffen.
Was jetzt zählt, ist gute Organisation und Geschwindigkeit. Jede Minute ist wichtig, in der Verschüttete noch lebend gerettet werden können. In einer solchen Krisensituation ist der Staat gefragt: Wie schnell können Suchtrupps mobilisiert werden, wie effektiv werden sie in den zehn betroffenen Provinzen in der Türkei und in dem angrenzenden Nordsyrien eingesetzt? Wie schnell wird Hilfe für die Menschen bereitgestellt, die außer ihrem Leben nur noch die schnell übergeworfene Kleidung retten konnten? Gerade jetzt im Winter, wo Schnee, eiskalter Regen und Sturm die Situation für die Betroffenen weiter erschweren.
Das große Beben kommt direkt zu Beginn des Wahlkampfs, an dessen Ende Mitte Mai ein neuer Präsident und ein neues Parlament in Ankara gewählt werden. So tragisch die Katastrophe für die betroffene Region und das ganze Land ist, politisch kann sie alles verändern. Die Wirtschaftskrise in der Türkei hat die Beliebtheitswerte der amtierenden Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den Keller geschickt. Schafft Erdoğan es nun, eine überzeugende Katastrophenhilfe auf die Beine zu stellen, könnte er damit seine Wiederwahl sichern. In Deutschland erinnert man sich an den damaligen Kanzler Gerhard Schröder, dem sein Einsatz gegen das Hochwasser an der Elbe die überraschende Wiederwahl bescherte.
Als Erdoğan 2002 an die Macht kam, profitierte er auch davon, dass es der amtierenden Regierung nach dem ähnlich verheerenden Erdbeben 1999 nicht mehr gelungen war, den Menschen neue Hoffnung zu geben. Versinkt die Region im Südosten der Türkei, die durch Krieg und ethnische Konflikte sowieso als Krisenherd gilt, nun weiter im Chaos, wird wohl die Opposition davon profitieren.
Dennoch kann man im Sinne der Betroffenen nur hoffen, dass das Krisenmanagement gelingt. Auch außenpolitisch könnte nach dem großen Beben ein kleiner Hoffnungsschimmer aufleuchten: Wie schon nach dem ähnlich schweren Erdbeben am Marmarameer 1999 hat auch jetzt Griechenland als eines der ersten Nachbarländer Hilfe angekündigt. Wie damals, so könnte daraus auch heute ein Abbau der Spannungen resultieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
BSW-Gründungsversammlung in Bayern
Es geht um Selenskyj, nicht um Söder