Einbecker erschießt schlafende Ehefrau: Femizid oder Versehen?
In Göttingen steht ein Mann vor Gericht, der seine Frau erschossen hat. Die Verteidigung sagt, es sei ein Unfall gewesen.
Beim Reinigen seiner halbautomatischen Waffe soll sich ein Schuss gelöst haben, der seine Frau mit einem Kopfschuss getötet habe. Ermittler*innen stellten in der Tatnacht fest, dass er alkoholisiert war. Vor Gericht schweigt er. Seine Verteidiger*innen sprechen von einem Unfall. Seit fast zwei Jahren verhandelt das Landgericht Göttingen den Fall.
Über WhatsApp pflegte Besma A. Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Schwester, die in den Niederlanden leben. In Chatnachrichten, Audioaufnahmen und Fotos, die zum Verhandlungsgegenstand wurden, soll sie sich ihnen anvertraut haben. Im Gericht war zu hören, wie die junge Frau berichtet: „Wenn er nicht immer bei der Arbeit wäre, hätte er einen von uns schon getötet.“ Und: „Er sagt 'Sei still du schmutzige Hündin’.“ Bei Auseinandersetzungen soll ihre Lippe geplatzt, sie soll getreten und mit Essen beworfen worden sein.
Die Verteidigung von Cemal A. zweifelt teilweise an der Echtheit der Aufnahmen. Auf Fotos sei sie nicht eindeutig zu identifizieren.
Verteidigung argumentiert mit Trunkenheit
Seit Mai 2021 begleitet die Initiative „Prozessbeobachtung Besma A.“ den Fall. Die Beobachter*innen verstehen sich als Beistand für die Familie, solidarisieren sich in Form von Mahnwachen und fordern Fälle wie diesen als das zu benennen, was sie seien: Femizide. Tötungsdelikte an Frauen, die passieren, weil sie Frauen sind.
Eine der Aktivist*innen sagt: „Besma ist so weit entmenschlicht worden, dass selbst ihre Stimme in Frage gestellt wird.“ Die Verteidigung habe daran gezweifelt, dass es Besma war, die die Sprachnachrichten von ihrem eigenen Handy verschickte.
Manfred Koch vertritt als Anwalt der Nebenklage die Angehörigen von Besma. Er fällt mit emotionalen, manchmal flapsigen Aussagen auf. Die Argumente der Anwälte Gabriele Heinecke und Florian Melloh findet er „weltfremd“. Diese werfen der Nebenklage Polemik und Stimmungsmache vor.
Mehrfach kündigte Richter Jakubetz an, die Beweisaufnahme zu schließen. Im Interesse der Verteidigung schien das aber nicht zu sein: Sie wollte beweisen, dass der Beschuldigte schon vor der Tat betrunken gewesen war. Der Schuss könne aufgrund des Alkohols abgegeben worden sein.
Am Tatort fand sich eine leere Glühweinflasche und eine halbleere Flasche Rakı. Zum Zeitpunkt des Notrufs konnte sich Cemal A. aber klar verständigen. Später erbrach er sich mehrfach. Die Verteidigung hält eine kurzfristige „Ernüchterung durch die Tat“ für realistisch; durch den Schock, weshalb er zu diesem nüchtern klingenden Anruf in der Lage gewesen sein soll.
Cemal A. zeigte sich zu keinem Zeitpunkt betroffen. Familienangehörige unterstützten ihn von der Besucher*innentribüne aus. Zu Beginn jedes Verhandlungstages nickte er zurückhaltend in ihre Richtung, deutete manchmal Luftküsse an.
Es bleiben die wohl einzigen Gefühlsregungen bei 45 Prozessterminen. Anwalt Koch wirft ihm vor, sich auffallend empathielos zu verhalten. Dafür, dass er „seine geliebte Frau versehentlich getötet haben soll“. Seine Verteidigung hält dagegen. Vom „Monster-Narrativ“ halte man nichts.
Heinecke und Melloh wollten beweisen, dass die Eheleute einen harmonischen Umgang pflegten, einen Grund für Mord habe es sichtbar nicht gegeben. Private Foto- und Videoaufnahmen, die zu Anlässen wie Familienfeiern entstanden sind, sollten zeigen, dass Besma eine „moderne, gut gekleidete“ und keine „entrechtete Frau“ gewesen sei. In den Clips ist die Getötete in ausgelassener Stimmung, lächelnd, mit ihren drei Kindern und Familienangehörigen zu sehen.
Mithilfe einer Übersetzerin sagt Suad Ismail, Besmas Schwester, der taz per Videoanruf, dass die Aufnahme das einzige Material dieser Art sei und die Realität verzerre. Es sei üblich, dass eheliche Probleme nicht nach außen getragen würden – vor allem nicht, wenn ältere Personen und Kinder dabei seien. Weiter sagt sie: „Man konnte in diesen Szenen sehen, dass er nicht ein einziges Mal Besma angeguckt hat.“
In einer Sprachnachricht sagt die Getötete: „Es gibt nichts, was er mir nicht angetan hat.“ Ismail berichtet, dass Besma wusste, dass eine Waffe im Haus war. Aus Angst vor ihrem Mann habe sie sich nicht getraut, Hilfe zu suchen. Mit einer Petition fordert sie die Anerkennung des Todes ihrer Schwester als Femizid.
Staatsanwaltschaft plädiert auf vorsätzliche Tötung
Mitte November hat das Gericht die Beweisaufnahme geschlossen. Die Staatsanwaltschaft plädiert auf vorsätzliche Tötung. Zweifellos sei die Ehe konfliktreich gewesen. Möglicherweise wegen einer befürchteten Trennung habe Cemal A. die Situation genutzt, in der seine Frau wehrlos auf der Couch gelegen habe. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft habe er den Großteil des Alkohols nach der Tat getrunken, um den Unfall vorzutäuschen. Für Mord und illegalen Waffenbesitz beantragte die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft.
Koch stellte in seinem Plädoyer heraus: „Wir haben das Opfer als Zeuge.“ Die von Besma berichteten Erniedrigungen zu relativieren, sei fragwürdig. Er habe den Eindruck, dass die Verteidigung des Angeklagten so tue, als ob Besma die Vorwürfe gegen ihren Ehemann selbst konstruiert habe. Er sei der Auffassung, dass die junge Frau aus Şengal im Irak einem Femizid zum Opfer gefallen sei. Es war das erste Mal, dass der Begriff im Gerichtssaal fiel.
Die abschließenden Plädoyers werden am kommenden 12. Dezember gehalten. Wenn es in Deutschland Frauenrechte gebe, sagt Ismail, dann werde das Recht im Fall ihrer Schwester auf ihrer Seite stehen. Gerechtigkeit sei ohnehin nicht durch die Verurteilung von Cemal A. erreicht. Sie sagt: „Gerechtigkeit für Besma bedeutet, dass nie wieder eine Frau durch ihren Mann sterben muss.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste