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Sacharow-Preis für die UkraineEine europäische Verpflichtung

Kommentar von Barbara Oertel

Mit der Verleihung des Sacharow-Preises an die Ukrai­ne­r*in­nen ist die EU eine Verpflichtung eingegangen. Zur Unterstützung ohne Wenn und Aber.

UkrainerInnen suchen Schutz vor den Bombenangriffen in einem U-Bahntunnel Foto: Emilio Morenatti/ap

D ie Ukraine kann sich dieser Tage vor hochkarätigen internationalen Auszeichnungen kaum retten. Nach dem Friedensnobelpreis, der vollkommen zu Recht auch an das Zentrum für bürgerliche Freiheiten (CCL) in Kiew ging, hat das EU-Parlament seinen diesjährigen Sacharow-Preis dem ukrainischen Volk zuerkannt. So weit, so gut und richtig. Wem, wenn nicht den Ukrainer*innen, gebührt höchster Respekt.

Denn sie sind es, die trotz Tod, Leid und Zerstörung fest entschlossen sind, sich nicht zu beugen und dem russischen Aggressor weiter die Stirn zu bieten – um ihrer selbst, aber auch um ihres Staates willen. In Kriegszeiten, wie diesen, wo es ums nackte Überleben geht, kann auch moralische Unterstützung eine große Kraft entfalten. Doch damit diese Botschaft des Sacharow-Preises bei den Ukrai­nie­r*in­nen auch ankommt und ernst genommen wird, muss sich die EU zuallererst selbst ernst nehmen.

Hier sind Zweifel angebracht. Wer schert sich heute noch groß um die belarussische Opposition, die 2020 in Brüssel ausgezeichnet wurde? Dabei wäre Aufmerksamkeit mehr als angebracht. Viele Oppositionelle sitzen im Gefängnis. Die Zahl politischer Gefangener steigt fast täglich, was auf dem Portal der Menschenrechtsorganisation Vjasna in Echtzeit zu verfolgen ist.

Wer erinnert sich an Daria Nawalnaja, die im Dezember vergangenen Jahres anstelle ihres inhaftierten Vaters Alexei Nawalny den Sacharow-Preis entgegennahm und eindringlich vor Wladimir Putin sowie einer Eskalation im Ukraine-Konflikt warnte? Stattdessen verkaufte Bundeskanzler Olaf Scholz der Öffentlichkeit die Pipeline Nord Stream 2 damals noch als „rein privatwirtschaftliches“ Projekt.

Italiens Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi, dessen Partei Forza Italia bald der neuen rechten Regierung angehören könnte, benennt in dieser Woche den wahren Schuldigen an dem barbarischen Krieg mitten in Europa: Die Ukraine. Wie absurd. Die Ukrai­ne­r*in­nen riskierten ihr Leben, „um die Werte zu schützen, an die wir alle glauben: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, begründete EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola am Mittwoch die Entscheidung für den Sacharow-Preisträger 2022.

Wenn das so ist, heißt das nur eins: Die Ukraine, und dabei vor allem die Zivilgesellschaft, mit allen Mitteln zu unterstützen und das nachhaltig – ohne Wenn und Aber. Die EU ist mit dieser Auszeichnung eine Verpflichtung eingegangen. Auch an ihr muss sie sich künftig messen lassen.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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10 Kommentare

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  • Völlig unabhängig was die Ukraine ist oder tut, es ist schlichtweg im europäischen Interesse Russland zu schwächen solange dort Imperialismus die dominierende Stimmung ist. Außerdem weiß man nie ob nicht Trump wiedergewählt wird und die NATO verlässt und Russland dann meint das Baltikum einzugemeinden. Daher ist jeder Tag der Russland mehr schwächt gut. So hart es ist, aber jeder zerstörte Panzer, abgeschossene Kampfjet und letztlich tote russische Soldat erhöht unsere Sicherheit.

    Btw. Polen war 1939 eine Diktatur die sich kurz vor dem 2. WK einen Teil der Tschechoslowakei geholt hatte. Es ging nicht um die Demokratie oder Menschenrechte sondern einen Imperialistischen Diktator zu stoppen.

    • @Machiavelli:

      In diesem konkreten Fall (Russland zu schwächen) ist solche Herangehensweise falsch, da die EU im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen schneller als Russland schwächeln.

      Außerdem hat Russland noch Asse im Ärmel, während die EU sofort ihre „Finanz-Atombombe (SWIFT Ausschluss Russlands)“ ansetzte. Das Deck in der europäischen Hand ist schlecht.

      • @Bescheidener Kunsthandwerker:

        Also Deutschland hat bisher keine Panzer verloren Russland min. 1400. Russland wird militärisch sehr einseitig schwächer. Und Asse hat Putin jetzt auch nicht soviele im Ärmel, die Mobilisierung ist eine shitshow, Nuklearwaffen bringen ihm auch nix und je länger es geht desto unabhängiger wird Europa und Indien und China nehmen sein Zeug nr mit deutlichem Rabatt wie lange erbsich den Krieg noch leisten kann mit massivem braindrain, Mobilisierung und Aanktionennistvauch die Frage.

        • @Machiavelli:

          Macht wird nicht nur in Panzern oder Atomraketen gemessen, und es ist ziemlich kurzsichtig, dies zu tun.

          Russland hat Gas, Öl, Holz, Weizen, Mineralien, Düngemittel, Edelgase usw. und deshalb ist es so gefährlich, dieses Land zu provozieren oder ihm einen Wirtschaftskrieg zu erklären. Es ist nicht dasselbe, Kuba oder Venezuela mit Sanktionen zu brechen, als Russland.







          Russland hat noch viele Möglichkeiten, den Konflikt mit der Ukraine zu eskalieren. Das Machtverhältnis zur Ukraine ist so ungleich, dass Russland diesen Krieg gewinnen wird, auch wenn es in vielen Aspekten große Inkompetenz zeigt (und übrigens, denken Sie nicht, dass alles was über Russlands Unfähigkeit gesagt wird, stimmt).

  • Ich könnte hier bissig sein und daran erinnern, dass sich Nibelungentreue bisher nicht als erfolgreichens außenpolitisches Rezept erwiesen hat; hier aber ist auch noch die Logik seltsam: wieso sollte ein (ohnehin dubioser) Preis, den die EU selbst vergibt, eine Verpflichtung für die Zukunft implizieren? Soll Politik einmal getroffene Entscheidung nicht mehr revidieren, wenn sie sich als Irrweg erweist, sondern ohne Rücksicht auf die Folgen an ihnen festhalten? Das ist eine Vorstellung, die ich eher beängstigend finde...

    • @O.F.:

      Sie halten den Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine für einen Irrweg?

  • Es gibt hinreichend Gründe, die EU mittlerweile nur noch für eine Fassadendemokratie zu halten. Die Friedensnobelpreisträgerin EU lässt Flüchtlinge zu Tausenden vor ihren Küsten ertrinken oder brutal verprügeln an ihren Außengrenzen. Autokraten wie Orban dürfen weitgehend unsanktioniert die selbstproklamierten Werte mit Füßen treten, genauso wie es jahrelang das Europaratsmitglied Russland durfte. Die EU setzt sich für Menschenrechte und Demokratie mit Preisen und Sonntagsreden ein, im Alltag herrscht zumeist sogenannte Realpolitik. Griechische Reedereien verschiffen weiterhin russisches Öl in alle Welt, Deutschland bezahlt weiterhin Gas mit Rubel (was andere EU-Staaten nicht mehr tun) und der Kanzler des größten EU-Landes verweigert starrsinnig der Ukraine die notwendigen Panzer. Das Bekenntnis der EU und insbesondere Deutschlands ist halbgar und halbherzig. Da ist es gut, wenn sich die Gewichte in der EU nach Nordosten verschieben. Die Zukunft Europas wird hoffentlich von Sanna Marin, Kaja Kallas und Wolodimir Selenski gemacht, nicht mehr vom Scholzomaten und andern politischen Hinterwäldlern.

    • @Michael Myers:

      Dann können Gewerkschaften freiwillig schließen und die Umwelt allein einpacken. Das kann nicht ihr Ziel sein.

  • Europäische Verpflichtung? Nonsens! Alle Preise die irgendwie vergeben werden gehen derzeit an die Ukraine. Warum? Sie ist im Krieg. Aber dieses Lob der anderen Staaten verhindert Friedensgespräche. Und das tut weder der Ukraine noch Europa gut!

    • @Gerdi Franke:

      Wer soll denn da mit wem worüber verhandeln damit in der Ukraine wieder Frieden Einzug hält? Was schlagen Sie konkret vor? Soll Russland behalten dürfen was es sich widerrechtlich und mit Gewalt anzueignen versucht? Soll Putin gestärkt aus dem von ihm angezettelten Krieg hervorgehen dürfen? Sollen wir alle Staaten, die Putin braucht um seinem Expansionsbedürfnis ausliefern, damit Frieden herrscht?



      Dieser Ruf nach Friedensgesprächen ist wohlfeil und billig, wenn man keine Vorstellung über das mitbringt, was das Ergebnis solcher Gespräche denn sein soll. Diktatur kann es ja wohl nicht sein.