Oberstes Gericht in den USA: Die Anmaßung

Dass in den USA Roe v. Wade gekippt wurde, zeigt: Der Oberste Gerichtshof agiert für eine radikale Minderheit. Abtreibungen sind wohl nur der Anfang.

Gruppenfoto der Mitglieder in schwarzen Roben des Supreme Court in Washington

Radikalisiert durch ergaunerte Rich­te­r*in­nen­no­mi­nie­run­gen: der Oberste Gerichtshof Foto: Erin Schaff/ap

Ein Begriff macht derzeit in den USA die Runde: minority rule. Unelegant, wie das Deutsche oft ist, etwa „Herrschaft der Minderheit“. Das beschreibt tatsächlich recht genau, was der konservativ besetzte Oberste Gerichtshof in Washington gerade mit den Vereinigten Staaten anstellt.

Die Entscheidung, das fast 50 Jahre alte Abtreibungsurteil Roe v. Wade zu kippen und damit allen Frauen in konservativ regierten US-Bundesstaaten ein Recht zu nehmen, das sie seit 1973 als Grundrecht ansehen konnten, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs: Trotz allen Geschreis der selbst erklärten „Lebensschützer*innen“ – sprich: des reaktionärsten Flügels der Republikanischen Partei – zeigen alle seriösen Befragungen seit vielen Jahren eine konstante Mehrheit für das Recht auf sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch.

Aber während in vielen traditionell kulturell konservativen Ländern Lateinamerikas inzwischen dieses Recht erkämpft wurde, wirft die konservative 6:3-Mehrheit im Supreme Court die USA ein halbes Jahrhundert zurück. Eine unglaubliche Anmaßung.

Rechte Talking Points

Donald Trump hat das Gericht mit seinen ergaunerten Rich­te­r*in­nen­no­mi­nie­run­gen radikalisiert. Nun verordnet eben dieses Gericht den USA eine Transformation, die weit über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch hinausgeht. Wenige Tage vor der Rücknahme von Roe v. Wade – die ja damit begründet wurde, es sei Aufgabe der Bundesstaaten, über solche Fragen zu entscheiden – hatte der Gerichtshof entschieden, der Bundesstaat New York dürfe keine Restriktionen beim Waffentragen auferlegen, das verstoße gegen den Zweiten Verfassungszusatz. Und am Donnerstag entschieden die Rich­te­r*in­nen auf eine Klage der Kohlelobby, die Bundesumweltschutzbehörde EPA habe nicht das Recht, nationale Grenzwerte für Treib­hausgasemissionen festzulegen.

Zusammengenommen wird klar: Dieser Gerichtshof folgt keinen Rechtsgrundsätzen, sondern rechten Talking Points. Die Vorlagen dazu liefern entweder republikanisch regierte Bundesstaaten oder konservative Lobbyorganisationen. Wer sich gefragt hat, was eigentlich damit gemeint war, wenn angesichts der Ernennung der Rich­te­r*in­nen Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett immer kommentiert wurde, damit bleibe der Trumpismus über Jahrzehnte an einer Schlüsselstelle der Macht, bekommt jetzt die Antwort.

Und es ist davon auszugehen, dass auch die Skandalurteile der letzten 14 Tage nur der Anfang waren. Schon jetzt suggerieren einzelne Richter, dass demnächst etwa auch LGBTQ*-Rechte bedroht sein könnten. Das ist freilich besonders heikel, weil zum Beispiel auch das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe in den USA anders als in der Bundesrepublik nicht durch Parlamentsmehrheit beschlossen, sondern 2015 durch ein Urteil des damals liberal besetzten Obersten Gerichtshof entschieden wurde.

Das Prinzip der Gültigkeit eines einmal entschiedenen Präzedenzfalls ist ein Kernstück des anglo-amerikanischen Rechtsverständnisses. Wird es einfach mal so über den Haufen geworden, wie jetzt bei Roe v. Wade, ist jede Rechtssicherheit dahin.

Der demokratische Sauhaufen

All das müsste zumindest eine Welle von Wahlsiegen der De­mo­kra­t*in­nen etwa bei den midterm elections nach sich ziehen, den Novemberwahlen zur Halbzeit von Joe Bidens Präsidentschaft. Klare Mehrheiten im Kongress könnten Bundesgesetze verabschieden und so zum Beispiel das bundesweite Recht auf Abtreibungsfreiheit endlich gesetzlich verankern – falls der Supreme Court das zuließe.

Nur: Anders als die Republikaner*innen, die seit Jahrzehnten stur, skrupellos, auf den radikalsten Teil ihrer Basis fokussiert und durchaus strategisch schlau ihre Agenda vorantreiben, agieren die De­mo­kra­t*in­nen im Kongress immer wieder als planloser Sauhaufen. Wer De­mo­kra­t*in­nen wählt, kann sich nicht darauf verlassen, dass sie umsetzen, was ihren Wäh­le­r*in­nen wichtig ist, selbst wenn sie die Chance dazu haben. Die Präsidentschaft Barack Obamas und die Belange der Schwarzen Bevölkerung waren dafür das beste und enttäuschendste Beispiel.

Und noch ein anderer Aspekt der politischen Debatte über die jüngsten Supreme-Court-Entscheidungen zeigt, welche Zeitenwende in den USA im Gange ist. Die linke Senatorin Elizabeth Warren etwa sagt, das Oberste Gericht sei nunmehr als „illegitim“ anzusehen. Das ist politisch nachvollziehbar, und sie ist nicht die Einzige, die das meint. Aber war es nicht just Donald Trump, der stets die Legitimität der Gerichte zu untergraben suchte und der ohne die Standhaftigkeit diverser Rich­te­r*in­nen womöglich seine Wahlniederlage vom November 2020 zu einem Sieg hätte erklären lassen? Auch hier wirkt seine Amtszeit zerstörerisch nach: Wenn jetzt weder Rechte noch Liberale die Rechtsprechung für legitim halten, also die Rechtmäßigkeit einer der drei Staatsgewalten in der öffentlichen Wahrnehmung massiv beschädigt ist, dann ist es um Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr gut bestellt.

Trumps Amtszeit wirkt hier zerstörerisch nach: wenn weder Rechte noch Liberale die Rechtsprechung für legitim halten

Genau diese Legitimität aber wäre nötig, um die US-Institutionalität vor der weiteren Zerstörung durch die zum Trumpkultverein transformierte Republikanische Partei zu bewahren. Wenn etwa die derzeit laufenden Anhörungen zu Trumps Rolle bei der Stürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 tatsächlich zur strafrechtlichen Verfolgung des Ex-Präsidenten führen sollten, bräuchte es die allgemeine Anerkennung einer unabhängigen Justiz. Von Trump und seinen An­hän­ge­r*in­nen ist das nicht zu erwarten: Sie werden immer von einer „politisch motivierten Hexenjagd“ sprechen. Können aber die De­mo­kra­t*in­nen politisch den einen Gerichtshof als illegitim begreifen, den anderen aber als objektive Rechtsinstanz?

Die massiven Fehler und Schwachstellen der US-Demokratie sind seit Jahren bekannt. Ein Senat, in dem die 760.000 Ein­woh­ne­r*in­nen von North Dakota exakt dasselbe Gewicht von zwei Stimmen haben wie die fast 40 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen von Kalifornien, ist zwar historisch erklärbar, führt aber keine Entscheidungen herbei, die Mehrheiten repräsentieren. Gerrymandering, also der beliebige Neuzuschnitt von Wahlkreisen, verzerrt die Mehrheiten im Repräsentantenhaus und den Staatsparlamenten. Der ungeregelte Einfluss von Lob­by­is­t*in­nen auf Wahlkämpfe und Gesetzgebung tut ein Übriges.

Ein Oberster Gerichtshof, der im Sinne der radikalen Agenda einer Minderheit agiert, könnte der letzte Sargnagel für das ohnehin angeschlagenes US-System sein.

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Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org

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