Psychische Folgen von Corona: Generation kontaktlos
Kinder und Jugendliche leiden besonders in der Pandemie. Schüler:innen, Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen und andere Betroffene erzählen.
„Jetzt habe ich Angst, meine Jugend zu verpassen“
E ine 15-jährige Gymnasiastin aus Hamburg:
Ich lebe in einem Vorort von Hamburg und gehe in die neunte Klasse. Der Corona-Lockdown hat mich stark belastet. Seit über einem Jahr habe ich Depressionen, leide manchmal an Panikattacken und habe eine leichte Anorexie entwickelt. Im letzten Herbst habe ich mit Therapien begonnen, damit habe ich die Magersucht in den Griff bekommen. Aber schlecht ging es mir schon früher. Im Januar 2020 ist meine Großtante gestorben und dann hat jemand aus der Schule Selbstmord begangen.
Als Corona losging, bin ich erst mal zusammen mit meinem Bruder bei Freunden auf dem Land gewesen. Ich bin sehr introvertiert und fand es schwierig, dort richtig Anschluss zu finden. Ich habe mich eher zurückgezogen und isoliert. Wieder zu Hause bin ich nicht mehr aus dieser Zurückgezogenheit rausgekommen. Außerdem fing ich an, zwei Stimmen zu hören. Sie klangen wie meine Gedanken, nur dass sie mit mir geredet haben. Die eine immer gegen mich. Sie meinte, ich sei nichts wert und solle besser sterben. Die andere setzte sich für mich ein, versuchte dagegenzuhalten.
Weil Lockdown war, hatte ich nicht mehr so viel Kontakt zu meinen Freundinnen. Davor habe ich sie jeden Tag in der Schule gesehen und hätte einfach mit ihnen reden können. Irgendwann konnte ich kaum mehr einschlafen, weil es so schlimm war, und ich habe meiner Mutter eine E-Mail geschrieben, dass ich gerne eine Therapie machen würde. Meine Eltern sind geschieden, in der Woche war ich gerade bei meinem Vater. Zuvor hatte es einen Moment gegeben, da hätte ich mich beinahe umgebracht: Auf meinem Nachhauseweg komme ich an der U-Bahn vorbei. An einem Punkt ist man auf einer Höhe mit den Schienen.
Meine Mutter ist dann online auf die Beratungsstelle für Frauen und Mädchen ISIS in Poppenbüttel gestoßen, wo ich dann sehr schnell Hilfe bekommen habe. Die Therapeutin fragte mich, warum ich hier bin, und ich habe erst mal angefangen zu weinen. Danach habe ich erzählt. Die Therapeutin war super nett, aber meinte, die Beratung alleine reiche nicht. So geriet ich an einen Therapieplatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als im Winter die „gute“ Stimme immer leiser geworden ist, bin ich auch für drei Tage dort geblieben. Später hätte ich einen festen Klinikplatz für einige Monate bekommen. Das habe ich aber abgelehnt, was ich jetzt bereue.
Medikamente bekomme ich keine. Seit März mache ich eine Gruppentherapie. Alle sind ungefähr in meinem Alter und mit unterschiedlichen Problemen, aber alle leiden unter Schuldruck. Im Lockdown fing ich an, mir Vorwürfe zu machen, wenn ich mich mit etwas anderem als Schule beschäftigt habe. Obwohl die Hausaufgaben längst fertig waren.
Die Diagnose
Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf untersucht die Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche bei Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 17 Jahren. Insgesamt wurden dafür 1.000 Kinder sowie mehr als 1.600 Eltern befragt.
Demnach haben emotionale Probleme, Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität und soziale Probleme bei Kindern und Jugendlichen seit Frühjahr 2020 deutlich zugenommen. Emotionale Probleme hatten vor der Pandemie 13 Prozent der Jugendlichen, während der ersten Welle waren es 21, während der zweiten 24 Prozent. Ähnlich in den anderen Kategorien. Soziale Probleme: 11 Prozent vor der Pandemie, 22 Prozent in der ersten, 27 Prozent in der zweiten Welle. Hyperaktivität: 13/24/20 Prozent. Insgesamt ist fast jedes dritte Kind momentan psychisch auffällig, vor der Pandemie traf dies nur auf jedes fünfte Kind zu.
Therapie
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen haben im ersten Halbjahr 2021 deutlich mehr Kinder und Jugendliche behandelt als im ersten Halbjahr 2019. Sie rechneten um acht Prozent mehr Leistungen ab. Im März 2021 lag die Patientenzahl um fast ein Drittel höher als im vorpandemischen Zeitraum. „Die Politik muss Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien deutlich mehr Angebote machen, um sie psychisch zu stärken. Kita- und Schulschließungen sowie Kontaktbeschränkungen haben psychische Spuren hinterlassen“, sagte Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, am Montag. (taz, dpa)
Ein Teil von mir würde sich gerne weiter isolieren, gleichzeitig wünsche ich mir, dass alles bald wird wie vor Corona. Ich meine, ich war nicht mal 14, als alles angefangen hat. Jetzt habe ich Angst, meine Jugend zu verpassen.
Protokoll: Ruth Fuentes
„Ängste müssen bearbeitet werden“
Bettina Schötz, Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Berlin:
Tatsächlich beobachte ich, dass sich Angstsymptomatiken bei Kindern in der Pandemie stärker zeigen. Nicht so sehr die Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, wobei das vereinzelt auch vorkommt. Viel dominanter ist, dass sich bereits vorhandene Ängste, seien es Sozialphobien, Engeängste, also etwa Klaustrophobie, oder Redeängste verstärkt haben. Beispielsweise könnte ein Kind, das vorher Angst hatte, mit der U-Bahn zu fahren, diese Angst nun mit Corona begründen. Die ursächlichen ängstlichen Vorstellungen sind dann wie zugedeckt durch die realen Gefahren der Pandemie und werden nicht mehr bearbeitet.
Hinzu kommt, dass die selbst durch die Pandemie hochbelasteten Eltern mitunter nicht adäquat auf die Ängste der Kinder eingehen können. Und da Corona für Ältere lebensbedrohlicher ist, haben die Eltern womöglich reale Ängste, zu Schaden zu kommen und nicht mehr für die Kinder da sein zu können. Eventuell bekommen sie in dieser Situation dann gar nicht mit, wie belastet ihre Kinder sind. Oder sie haben wenig Verständnis, wenn die Kinder jammern, weil sie etwa zur Schule fahren müssen.
Und was Schule angeht? Mal war Schule, mal nicht. Mal war Online-Unterricht, dann wieder Präsenz. Dann gab es Quarantäneunterbrechungen. Und es kam vor, dass Kinder zur Schule fuhren, aber die Lehrer fehlten und den Kindern wurde nicht gesagt, was die hatten. Man kann sagen: Die Koordinaten, die das Leben der Kinder strukturieren, waren in der Pandemie nicht mehr verlässlich. In den Familien sollte das aufgefangen werden.
Da, wo Eltern eine Ersatzstruktur gewährleisten konnten, ging es halbwegs gut. Mitunter hat es auch die Bindungen zwischen Eltern und Kindern verbessert. Und Kindern mit sozialen Ängsten mag es gefallen haben, dass sie zu Hause bleiben konnten. Aber die sozialen Entwicklungen wurden in der Pandemie total unterbrochen. Vor allem bei Kindern mit Angststörungen, wo es wichtig ist, dass sie sich den Ängsten aussetzen.
Zur Belastung durch die Pandemie kamen in vielen Fällen berufliche Existenzängste der Eltern hinzu. Wenn Kinder mit Angststörungen aber zusätzlich deren Ängste mitbekommen, dann ist Entwicklung kaum mehr möglich. Kommen Alkohol oder Drogen mit ins Spiel, wird es noch schwieriger. Kindesmissbrauch hat in der Pandemie zugenommen, Alkoholmissbrauch auch.
Wenn Kinder in so einer Situation einen Therapieplatz gefunden haben, hat das zu Entlastung geführt. Die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen hat auf den riesigen Bedarf reagiert und Kindertherapeut:innen ohne Kassenzulassung für zwei Jahre eine Notfallzulassung gegeben, damit mehr Kinder behandelt werden können. Dieses Modell müsste bundesweit übernommen werden. Ängste bei Kindern müssen therapeutisch bearbeitet werden, damit sie sich nicht verstetigen oder ausweiten und Lebensentwicklungen blockieren.
Protokoll: Waltraud Schwab
„Kein Grund für Alarmismus“
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands:
Natürlich hat die Pandemie im sozialen Bereich die Befindlichkeiten von Kindern beeinflusst, vor allem in Familien, in denen die Schule der einzig stützende Lebensraum war. Die Effekte, die daraus entstehen, sind zwar massiv, das bedeutet aber nicht, dass sie zugleich klinische Ausmaße annehmen.
Eine Veränderung, die die Lehrkräfte vor allem beobachten, ist die drastische Zunahme des Medienkonsums. Dass Medien während der Lockdowns auch dazu benutzt wurden, um im Austausch mit Gleichaltrigen zu bleiben, ist völlig nachvollziehbar. Ich meine aber den Medienkonsum, der darüber hinausgeht. Dieser veränderte Medienkonsum zieht Änderungen im Lebensablauf mit sich und bedeutet auch oft den Verlust sozialer Kontakte. Ein regelmäßiger Tagesablauf ist bei vielen Schüler:innen verloren gegangen.
Lehrer:innen sehen ja selten den Einzelnen, der besonders leidet, aber natürlich hat das Ganze schlimmere Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die auch vorher schon eine labile Persönlichkeit hatten. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesen Auswirkungen noch lange zu tun haben werden.
Was die Situation in den Schulen betrifft: Die meisten Lehrkräfte im Verband berichten von moderaten und handhabbaren Situationen in den Klassenzimmern. Für die breite Masse der Schulen kann man nicht annehmen, dass – übertrieben gesagt – überforderte Lehrkräfte auf völlig aus den Fugen geratene Schüler:innen treffen.
Die Bundesregierung hat ja ein doppeltes Programm gefahren: Zum einen geht es darum, Bildungsstandards nachzuholen, zum anderen gibt es Zuschüsse für Freizeit und soziale Projekte. Ich halte es für sehr wichtig, die sozialen Defizite zu beseitigen.
Man sollte sich jedoch vor Übertreibungen hüten und davor, das eine gegen das andere auszuspielen: Es ist wichtig, nicht die Kinder aus dem Blick zu verlieren, die dringend Unterstützung brauchen. Gleichzeitig ist das aber noch kein Grund, in Alarmismus zu verfallen. Von einer „geschädigten Generation“ zu reden ist genauso übertrieben wie das Gegenteil. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte.
Protokoll: Annika Glunz
„Wir haben die Kinder vergessen“
Die Eltern der Achtklässlerin Karla* aus Berlin-Spandau:
Mutter: Der Lockdown hat unserer Tochter den Boden unter den Füßen weggerissen, auch für uns als Familie wurde das existenziell bedrohlich.
Vater: Jetzt läuft die Schule wieder, sie macht Sport. Und sie geht zum Psychotherapeuten, das hilft.
Mutter: Aber noch immer müssen wir ständig hinterher sein, sie motivieren, in die Schule zu gehen. Ich weiß: Wenn jetzt wieder ein Lockdown käme, das wäre hart.
Vater: Mitten im Coronajahr 2020 ist Karla aufs Gymnasium gewechselt. Sie kam in eine Klasse mit 31 anderen, sie kannte niemanden. Nach ein paar Monaten wurden die Schulen dichtgemacht, danach hatte Karla nur noch Unterricht per Video, und das sehr viel.
Mutter: Karla hat sich schon früher schwergetan mit Veränderungen. Wenn eine neue Aufgabe auf sie zukommt, glaubt sie, die nicht bewältigen zu können. Es war krass für sie, so in den Online-Unterricht geschubst zu werden. Sich zu melden war eine Riesenhürde.
Vater: Ich war im Homeoffice, meine Frau hat Vollzeit als Ärztin gearbeitet. Im Nachhinein würde ich sagen, ich habe das ziemlich schlecht gemacht mit Karla. Ich habe zwischendrin ins Zimmer geschaut, ob sie an ihren Aufgaben sitzt. Nachmittags sind wir die Sachen durchgegangen. Irgendwas fehlte immer, Karla hat das als sehr negativ erlebt.
Mutter: Schule war von morgens bis abends im Kinderzimmer präsent. Da stand immer dieses Gerät. Wir Eltern sind in dieser Zeit in die Lehrerrolle gerutscht, dabei müssten Eltern auch im Lockdown in erster Linie Eltern bleiben.
Vater: Ich war der Böse, der sie am Vormittag antreibt, am Nachmittag kontrolliert. Wir haben ja noch Glück, die Kinder haben eigene Zimmer und Computer. Aber mich hat die Situation mit Sicherheit überfordert.
Mutter: Anfangs dachten wir, sie hängt halt ein bisschen in der Schule. Dabei hatte es da psychisch schon ein anderes Level erreicht. Sie hat die Kamera nicht mehr angemacht, ist im Schlafanzug geblieben, gammelte rum. Nachts schlief sie schlecht. Sie wollte überhaupt nicht mehr raus und ist nicht ans Telefon, wenn Freundinnen anriefen. Irgendwann kam die Sinnfrage: Wozu das alles?
Es ist richtig eskaliert. Wenn ich bei der Arbeit mein Handy angemacht habe, waren da von Karla 40 Anrufe in Abwesenheit. Nervöses Geschrei, der totale Zusammenbruch.
Karla hatte auch Suizidgedanken. Sie hat gesagt, ich will nicht mehr leben, ich will nicht mehr aufwachen. Und das mit zwölf. Im Streit hat sie auch gesagt: Ich will euch töten, ihr sollt mich in Ruhe lassen. Hinterher kam sie aufgelöst an, es tat ihr leid.
Wir haben zu lange versucht, den Alltag am Laufen zu halten, erst nach mehreren Monaten haben wir die Notbremse gezogen. Wir haben über Kontakte einen Platz bei einem Kindertherapeuten bekommen, da hatten wir großes Glück, viele warten ja sehr lange auf eine Therapie.
Vater: Der Therapeut hat versucht, die Problemkreise aufzusplitten: Schule, Schlaf, Leistungsdruck, Familie. Es war dadurch nicht mehr so ein Berg. Er hat vorgeschlagen, die Noten für zwei Monate auszusetzen. Dazu kam es nie, aber für Karla war schon die Option total wichtig. Er hat ihr später auch gesagt: Geh einfach jeden Tag in die Schule, auch wenn du da nur aus dem Fenster guckst, aber geh hin. Das hat Karla annehmen können.
Mutter: Ich habe entschieden, erst mal nicht mehr zu arbeiten. Seit dem Sommer bin ich zu Hause. Wenn es Karla schlecht geht, zieht sie sich zurück, sie wird immer leiser. Ich dachte: Ich muss jetzt für sie da sein. Wenn ich das mit Karla in den Sand setze, dann habe ich mein Lebensprojekt versemmelt.
Wir haben im Frühjahr in der Praxis geimpft wie die Wilden, ich habe mich um viele Patienten gekümmert. Aber wir haben in der Zeit echt die Kinder vergessen. Eigentlich will ich ab Januar wieder arbeiten. Für mich ist klar: Sollten sie die Schulen noch mal schließen, dann bleibe ich zu Hause. Wenn das Kind sagt, es will nicht mehr leben … Es ist keine Option, dass es noch mal so weit kommt.
Vater: Ich habe keine Sorge, dass sie die Schulen schließen. Es wurde von Anfang an zu wenig bedacht, was das für Folgen hat für die Kinder. Das kann niemand mehr verantworten.
Protokoll: Antje Lang-Lendorff
*Um Karla zu schützen, wurden der Name und wenige Details geändert.
„Kinder und Jugendliche brauchen Geborgenheit“
Renate Schepker, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Vorstandsmitglied der DGKJP Ravensburg, Baden-Württemberg:
Mittlerweile gibt es wissenschaftliche Belege dazu, dass durch die Coronapandemie Depressionen, Angsterkrankungen, Gereiztheit und Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. Gleichzeitig wissen wir, dass es nicht alle gleichermaßen trifft. Rund 70 Prozent kommen mit der momentanen Situation gut zurecht. Allerdings gibt es auch die anderen 30 Prozent – darunter überdurchschnittlich viele Mädchen. Es sind oft Kinder und Jugendliche, die zu Hause wenig Platz haben und bei denen die Situation ohnehin angespannt ist, etwa durch Arbeitslosigkeit der Eltern.
Zugleich sind die Wartelisten für einen ambulanten Therapieplatz lang, wenn es auch regional sehr unterschiedlich ist: Während eine Stadt wie Heidelberg sehr gut mit Psychotherapieplätzen ausgestattet ist, gibt es in den östlichen Bundesländern ganze Landstriche, wo es kaum ambulante Therapieangebote gibt.
Ein großes Problem entstand daraus, dass Therapeuten aus Infektionsschutzgründen keine Gruppensitzungen, sondern nur Einzelgespräche anbieten konnten und ihre Kapazitäten daher schnell erschöpft waren – bei gleichzeitig steigendem Bedarf wegen Corona. Man hat versucht, den Mangel mit kürzeren Therapiezeiten und Online-Therapien zu kompensieren – was nicht vollständig gelingen konnte.
Kinder und Jugendliche brauchen Sicherheit und Geborgenheit, und die hat es während der vergangenen Monate kontinuierlich kaum gegeben. Sportvereine und Jugendtreffs waren geschlossen, es fehlte der Kontakt zu Bezugspersonen außerhalb der Familie.
Laut Kriminalstatistik haben die angezeigten Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch im vergangenen Jahr um knapp 7 Prozent zugenommen. Zwar gab es zu Beginn der Pandemie weniger Hinweise auf Kindeswohlgefährdung bei den Jugendämtern. Allerdings nur deshalb, weil außerhalb der Familien niemand mehr richtig auf die Kinder geachtet und sie gesehen hat.
Lehrer sollten nun vor allem auf die Stillen achten. Denn das sind eher die Ängstlichen und Depressiven. Aber auch als Eltern sollte man genauer hinschauen, darüber reden, was sie bedrückt. Und umgekehrt Kinder und Jugendliche daran teilhaben lassen, wenn es einem selbst nicht so gut geht – und ihnen so zeigen, dass man damit umgehen kann.
Auf keinen Fall sollten die wieder geöffneten Schulen aufgrund verpassten Unterrichts den Leistungsdruck erhöhen. Und auch wenn ich nicht fordern würde, dass Kitas und Schulen unter allen Umständen offenbleiben müssen, sollte bei einer erneuten Schließung der Kontakt besser gehalten werden als bisher. Schlimm ist, dass es immer noch Familien ohne Laptops gibt. Wenn einige den Unterricht auf dem Handy verfolgen müssen, während andere ein eigenes Zimmer mit einer super Ausstattung haben, dann ist das schreiend ungerecht.
Protokoll: Anna Fastabend
„In einer negativen Gedankenschleife“
Dorle Mesch, Schulsozialarbeiterin an einem Gymnasium in der Nähe von Köln und Vorstand der LAG Schulsozialarbeit NRW (ehrenamtlich):
Im Bereich der Schulsozialarbeit sind in der Pandemie die Anfragen nach Hilfe und Beratung stark gestiegen – und nach der Rückkehr in die Schulen aufgrund der stärkeren Sichtbarkeit der Probleme sogar noch mehr. Es haben sich vor allem die Familien gemeldet, die Kinder mit besonderen Bedarfen wie etwa psychischen oder körperlichen Belastungen oder Erkrankungen hatten. Eine große Rolle spielen Ängste: soziale Ängste, Zukunftsängste, Schulängste. Von Letzteren sind besonders leistungsstarke Menschen betroffen, sie haben Sorge, den eigenen Erwartungen nicht entsprechen zu können.
Viele Betriebe haben ihre Ausbildungsangebote eingeschränkt, auch das erzeugt Zukunftsängste bei jungen Menschen, die im Übergang von der Schule in den Beruf sind. Als belastend erweist sich zunehmend auch die Angst vor dem Klimawandel. Während der Pandemie ist auch ein erhöhter Medienkonsum festzustellen.
Viele Reaktionen auf die Krise – Trauer, Rückzug, Wut – sind dennoch völlig normal und kein zwingender Grund, einen Arzt aufzusuchen.
Aber es ist gut zu wissen, wie sich eine tatsächliche Krise manifestiert: Schlafstörungen oder auch aggressives Gegenhalten im Alltag können ein Hinweis sein. In einer solchen Krisensituation ist es hilfreich, darüber nachzudenken, was man Gutes für sich tun kann in einer Situation, die man ohnehin nicht ändern kann. Wer nur darüber nachdenkt, was er gerade nicht tun kann, etwa aufgrund von Beschränkungen, verharrt in einer negativen Gedankenschleife.
Als Schulsozialarbeiter:innen bieten wir jungen Menschen, Eltern und Kolleg:innen Einzelfallhilfe und Beratung an. Wir sind vernetzt mit Jugendämtern, Schulpsycholog:innen, Fachärzt:innen und Therapeut:innen. Es gibt digitale Sprechstunden und eine telefonische Erreichbarkeit für den Notfall.
Während des Lockdowns haben sich einige Kolleg:innen auch in Präsenz um Kinder mit besonderem Bedarf gekümmert, in sogenannten Notgruppen in der Schule. Das war ein wichtiges Angebot, denn unsere psychosoziale Gesundheit spielt eine große Rolle beim Lernen. Es hat sich auch eine Methode entwickelt, die die Kolleg:innen „Walk and Talk“ nennen: Man trifft sich auf einen Spaziergang, um miteinander zu reden. Es gibt aber auch einige Kinder, denen es in Distanzbeschulung gelungen ist, verbesserte Leistungen zu zeigen, da die Reizarmut (weniger Ablenkung) ihnen zugute kam. Dies betraf durchaus auch junge Menschen mit sozialen Ängsten, Asperger Autismus oder ADHS.
Es ist entscheidend, Menschen darin zu begleiten, gute Wege im Umgang mit Krisen zu finden. Dafür muss die Schulsozialarbeit intensiviert werden. Die Wertschätzung dieser Arbeit wird zwar politisch und gesellschaftlich bekundet, es fehlt aber an der Bereitschaft, sie ausreichend und angemessen zu finanzieren.
Wir stellen fest, dass es bundesweit nicht an allen Schulen unbefristete Stellen für Schulsozialarbeiter:innen gibt. Hilfesysteme dauerhaft zu installieren und nicht nur in einer akuten Krisensituation ist notwendig. In der Schulsozialarbeit bräuchte es eine Vollzeitstelle pro einhundertfünfzig Schüler:innen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Stattdessen arbeiten viele Kolleg:innen befristet und sind gleichzeitig für mehr als eine Schule verantwortlich. Hier benötigt es Qualitätsstandards in der Schulsozialarbeit. Protokoll: Ruth Fuentes
„Meine Generation braucht diese Zeit“
Pauline, 18 Jahre, lebt in Kaiserslautern.
Irgendwann ging es nicht mehr. Ich stand vor der Tür der Kinder- und Jugendpsychiatrie, anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen. Seit meiner Geburt habe ich ADHS, irgendwann kam noch eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hinzu, auch Depressionen. In meinen Therapien habe ich gelernt, mit der Krankheit zu leben, Strategien erarbeitet, mit der Krankheit im Alltag umzugehen. Ich habe gelernt, dass Routinen das Wichtigste für mich sind. Feste Strukturen.
Dann kam der Lockdown und nichts war mehr, wie es war. Alle Routinen fielen weg. Ich saß zu Hause vor meinem Laptop, es war ein einziger Ausnahmezustand. Ich musste mich selbst strukturieren, mir die Arbeit selbst einteilen. Ich konnte meine Freund:innen nicht mehr sehen.
Seit ich 16 bin, wohne ich allein. Meine Eltern zahlen mir Unterhalt. Das reicht gerade so für Miete und Essen. Für den Rest gehe ich eigentlich abends kellnern. Mit dem Lockdown änderte sich das: Ich konnte nicht mehr arbeiten gehen, hatte also auch kein Geld mehr. Ich hatte kaum Kontakt zu Freund:innen und meine Familie wollte ich nicht belasten, die hatte genug eigene Probleme. Meine Mutter erzieht meine kleine Schwester allein.
Ich hatte nicht mal Geld für WLAN. Und ohne Internet im Lockdown zu Hause sitzen – was will man da groß machen? Ich habe mir morgens einen Kaffee gekocht, mich – wenn die mobilen Daten gereicht haben – vor den Online-Unterricht gesetzt. Ich habe meine Aufgaben gemacht. Dann ging ich einkaufen. Dann saß ich rum.
Ich konnte nichts streamen. Oft konnte ich nicht mal den Unterricht verfolgen. Die Lehrer:innen wussten, dass ich alleine wohne. Sie kennen auch meine Diagnose. Sie wissen, dass ich nur stabil sein kann, wenn mir Struktur vorgegeben wird: Orte, an die ich gehen kann. Verabredungen, auf die ich mich freuen kann. Aber es hat sich niemand wirklich gekümmert. Auch nicht, wenn ich gesagt habe, dass ich kein Internet zu Hause habe. Oder wenn ich gesagt habe, dass ich nicht mitkomme. Und ich habe es oft gesagt. Irgendwann habe ich entschieden, die Klasse zu wiederholen. Was hätte ich auch sonst machen sollen?
Nachts lag ich oft wach. Immer öfter kamen die Gedanken: Wofür mache ich das überhaupt? Welchen Sinn hat das noch? Ich habe gemerkt, dass ich immer weiter in eine schwere Depression falle. Ich kenne das Gefühl. Wenn ich denke, den Boden zu verlieren. Die Suizidgedanken. Und irgendwann wusste ich: Es geht nicht mehr. Ich brauche Hilfe.
Insgesamt war ich acht Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich brauchte die Routine. Das gemeinsame Essen, die Therapiestunden, einen festen Tagesplan. Das hat geholfen. Und die Klinik war voll. Mehr als voll. Patient:innen haben auf dem Flur geschlafen. Oder in den Gruppenräumen. Anders konnten sie die vielen Krisenfälle nicht aufnehmen.
Nach der Klinik habe ich mich dazu entschieden, die elfte Klasse erneut zu wiederholen. Erst habe ich mich dafür geschämt. Zweimal wiederholen! Aber inzwischen denke ich: Diese zwei Jahre Pandemie waren die Hölle. Es fühlt sich an, als wäre in der ganzen Zeit nichts passiert. Wie ein leerer Raum. Als wäre ich an nichts gewachsen. Außer an mir selbst. Und das möchte ich nachholen. Ich brauche diese Zeit. Meine Generation braucht diese Zeit.
Alle wollen jetzt wieder was erleben. Aber unsere Gesellschaft ist eben nur darauf ausgelegt, schnell, produktiv und leistungsfähig zu sein. Kein Wunder, dass man daran früher oder später kaputtgeht.
Protokoll: Luisa Thomé
„Unruhe und Ungeduld im Unterricht“
Manuel Birke, Lehrer an einer reformpädagogischen Gemeinschaftsschule in Dresden:
Homeschooling und die Lockdowns haben definitiv Spuren bei den Schüler:innen hinterlassen. Zusammengefasst würde ich sagen, dass ein behäbiges, konservatives Schulbild mit den dazugehörigen Werten entlarvt worden ist. Und das so auch schon vorher nicht mehr funktioniert hat. So waren viele Schulen bereits vor der Pandemie hochgradig digitalisiert, aber völlig an den Kindern vorbei. Und schon damals hatten sich viele Kinder zurückgezogen.
In der Pandemie passierte dann zunächst wochenlang gar nichts. Schulleitungen haben ewig gebraucht, um zu reagieren, Wochen vergingen, bis die Ansagen der Kultusministerien umgesetzt wurden. Die Schulen reagierten fast mürrisch. Alles stand still, dabei wäre es gar nicht schwer gewesen, den Schüler:innen etwas anzubieten. Die technischen Möglichkeiten waren ja da, es wurde dafür gesorgt, dass jedes Kind ein Gerät mit nach Hause bekommt. Aber die meisten Lehrkräfte wollten einfach so schnell wie möglich wieder zum Altbewährten zurück und waren völlig hilflos.
Das Lehrmaterial war so unterirdisch langweilig, dass viele Kinder einfach irgendwann aufhörten, sich damit zu beschäftigen. So, wie die Aufgaben gestellt waren und in dem Maße, wie die Kinder damit förmlich zugeschüttet wurden, konnte das ohne Begleitung nicht funktionieren. Viele Kinder haben so den Anschluss verloren, von einigen habe ich monatelang nichts gehört.
Die Probleme, die während der Zeit der Schulschließungen auftauchten, spüre ich bis heute. Das Vertrauen in stabile Lernprozesse wurde erschüttert. Es fällt vielen schwer, eigene Lernprozesse anzugehen. Es gibt einige Kinder mit krisensicheren Elternhäusern, die sind vielleicht ganz okay durch die Zeit gekommen, aber ich würde sagen, dass das ein kleinerer Teil der Schüler:innen ist.
Gerade haben die Kinder das Problem, dass ihnen immer gesagt wird: „Ihr müsstet eigentlich schon weiter sein.“ Das führt natürlich zu Druck, Überforderung und Unsicherheit. Im Unterricht äußert sich das dann in Unruhe und Ungeduld. Ich finde es schwierig, in diesen Klassen Unterricht zu machen.
Und was die Kinder auf jeden Fall auch mitbekommen haben: Diese krasse Polarisierung, diese Grabenkämpfe im Umgang mit Corona. Da gab es ja brutalste Konflikte, die auch vor Schulen nicht halt gemacht haben. Der Schutzraum, den Schule ja auch bietet, hat in dieser Hinsicht nicht funktioniert. Auch da wurde Vertrauen zerstört.
Protokoll: Annika Glunz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch