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Ausgewählt und angezählt

Der Supersonntag ist gelaufen, gleich sechs Kreuze durften die Ber­li­ne­r*in­nen machen. Natürlich waren nicht alle glücklich über das Ergebnis, manche nicht mal über den Verlauf der Abstimmung. Die taz kürt die Sieger und Verlierer

Von Bert Schulz und Anna Klöpper

Ge­win­ne­r*in­nen

1 Es ist nicht einfach, klare Sie­ge­r*in­nen des 26. September 2021 auszumachen, denn viele Ergebnisse sind in dieser Hinsicht durchaus interpretationswürdig. Nicht jedoch bei der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen: Sie hat den von ihr initiierten Volksentscheid mit 56,4 Prozent voluminös gewonnen. Noch deutlicher wird das, wenn man die Zahl der Geg­ne­r*in­nen sieht: Lediglich 39,0 Prozent der Ber­li­ne­r*in­nen stimmten dagegen, nur in zwei Bezirken war die Zahl der Ablehnenden größer als die der Unterstützer*innen.

Aber auch hier bleibt ein Wermutstropfen. Zur Abstimmung stand kein Gesetzentwurf, laut dem Wohnungsbestände großer Unternehmen vergesellschaftet werden sollen, sondern ein Appell an den Senat, einen solchen Gesetzentwurf zu verfassen. Das heißt, die Initiative und die Mietenbewegung insgesamt muss den Druck auf die Politik und die Immobilienunternehmen weiter hoch halten, damit das Thema nicht wieder verschwindet.

2 Ein bisschen komplizierter wird es schon bei der SPD und ihrer Spitzenkandidatin Franziska Giffey. Die Sozialdemokraten haben mit 21,4 Prozent die meisten Zweitstimmen aller Parteien erhalten und sind damit wieder fast genau auf dem – schon damals nicht berauschenden – Ergebnis von 2016 unter Michael Müller gelandet. Sieg: Ja, und deutlich besser als in Umfragen vor einem Jahr auch. Aber berauschend sieht anders aus.

Zudem ist reine Ansichtssache, ob der späte Höhenflug von Giffey auf deren rigide Abgrenzung von Rot-Rot-Grün zurückzuführen ist, sprich auf eine deutlich konservativere Ausrichtung, oder schlicht dem Scholz-Boom im Bund zu verdanken ist. Und schließlich ist da die Schmach, dass sich die Grünen am Wahlabend zwei Stunden lang als Sie­ge­r*in feiern lassen durften, weil die Prognose der ARD sie überraschend vorne sah – und am Ende überraschend deutlich daneben lag. Aber so landeten einige euphorische grüne Frauen auf der Wahlparty im Foto auf der ersten Seite der New York Times – und nicht etwa Franziska Giffey.

3 In den meisten Ergebnistabellen an diesem Abend tauchten sie nicht auf, aber die Kleinstparteien waren – zumindest als Masse – klare Sie­ge­r*in­nen des Abends. Auf 12,4 Prozent kamen sie insgesamt und befeuerten damit die Debatte, ob die Fünfprozenthürde nicht zumindest auf drei Prozent abgesenkt werden müsste, um bisherigen Splitterparteien eine realistischere Chance auf einen Einzug ins Parlament zu ermöglichen. Die Idee dahinter: Wenn Wäh­le­r*in­nen weniger Angst haben müssen, dass ihre Stimme „verschenkt“ ist, dann stimmen sie auch häufiger für die Kleinen, die offenbar verstärkt Positionen transportieren, die die großen Parteien übergehen.

Als Größte unter den Kleinen stellte sich diesmal keine rechtsextreme Truppe heraus und auch keine Trotzkistengang, sondern die Tierschutzpartei, die sonst vor allem bei den Kinder- und Jugend-U-18-Wahlen absahnt. 3,4 Prozent der Erststimmen erhielt sie und 2,2 Prozent der Zweitstimmen. Das reichte zwar nicht fürs Abgeordnetenhaus, aber für vier Bezirks­parlamente, wo die Hürde nur 3 Prozent beträgt. Womit ihre insgesamt neun Abgeordneten dort auffallen werden? Man darf gespannt sein.

Verlierer*innen

1 Der größte Verlierer am Wahlsonntag war der Wähler selbst. Und natürlich auch die Wählerin. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Ausgabe ist das Ausmaß des Berliner Wahlchaos noch schwer zu überblicken. Klar ist: Es gab krasse Unregelmäßigkeiten und Pannen. Wahlzettel wurden falschen Stimmbezirken zugeordnet oder fehlten ganz, WählerInnen erhielten Stimmzettel für die Abgeordnetenhauswahl, obwohl sie nur für den Bezirk stimmberechtigt waren, Charlottenburg-Wilmersdorf veröffentlichte Schätzungen statt Ergebnisse. In einigen Wahllokalen lag die Zahl der gezählten Stimmen höher als die Zahl der Stimmberechtigten.

In Tempelhof-Schöneberg und Pankow werden einige Stimmbezirke bereits neu ausgezählt. Die Landeswahlleiterin konnte sich nach der Wahl noch drei Tage im Amt halten, dann musste sie am Mittwoch zurücktreten.

Werden in einigen Stimmbezirken einzelne Wahlen oder der Volksentscheid wiederholt werden müssen? Die Frage, die dafür noch geklärt werden muss, auch durch die Nachzählungen: Waren die potenziellen Fehler relevant für die Verteilung der Mandate? Was jetzt schon feststeht: Es wurde, wenn auch aus purer Überforderung, unglaublich lax mit dem wertvollen Gut des WählerInnenwillens umgegangen.

2 Die AfD hat es geschafft, sich im Vergleich zum Wahlergebnis 2016 (beinahe) zu halbieren. Statt auf 14 Prozent kamen die Rechten nur noch auf 8 Prozent. Lediglich zwei Direktmandate im äußersten Osten der Stadt, in Marzahn-Hellersdorf, konnte die Partei noch erringen. Außer für die Partei selbst ist das kein Verlust. Ihre Klientel verlor die Partei an Kleinstparteien und die CDU: Die Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin Kristin Brinker hat die Partei weiter auf einen radikalen Kurs geführt, auch wenn sie sich im Wahlkampf erstaunlich zahm im Ton gab. Doch während für die einen die Partei offenbar nicht mehr genug Protestwählen ist, wandern die anderen verschreckt in Richtung CDU.

3 Sind die Grünen nun Gewinner oder Verlierer dieser Wahl? Immerhin hat ihre Spitzenfrau Bettina Jarasch mit 18,9 Prozent ein Ergebnis eingefahren, das 3,7 Prozentpunkte über dem von 2016 lag. Und der Abstand zur SPD war am Ende weit knapper als gedacht – nur 2,5 Prozent trennten Jarasch am Ende vom Wahlsieg. Das ist beachtlich, weil die Grünen in den Umfragen zuvor weiter abgeschlagen waren. Es sei ein Fehler gewesen, auf die weithin unbekannte Jarasch zu setzen, hieß es.

Nun geht man statt bedröppelt zum Wunden lecken durchaus mit einem gewissen Selbstbewusstsein in die Sondierungsgespräche mit der SPD. Als Rückenwind wirkt da auch, dass eine rot-rot-grüne Koalition die satteste Mehrheit von allen möglichen Bündnissen hätte und die Grünen eine Fortsetzung von R2G klar präferieren. Die SPD ist sich da intern und mit ihrer Spitzenkandidatin weitaus weniger einig. So aber können die Grünen dank ihres relativ starken Abschneidens die SPD doch etwas mehr vor sich hertreiben als gedacht.

Und dennoch: Angesichts der Umfragehöhenflüge in den Monaten vor der Wahl – im Frühjahr lagen die Grünen bei 27 Prozent – war der Wahlsonntag eine Niederlage. Auch das omnipräsente Klimathema und eine starke Klimabewegung auf der Straße konnten die Grünen nicht für sich nutzen. Und auch das mag ein Fehler gewesen sein: Beim Enteignen-Volksentscheid positionierten sie sich nicht eindeutig. Letztlich waren sie dafür, aber griffig rüber kam das nicht.

Schwerpunkt 43–45

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