Umfragehoch für die SPD und Scholz: Genies, Deppen, Strategien

Ausgeklügelte Taktik oder Zufall? Der überraschende Umfrageerfolg der SPD und ihres Kandidaten Olaf Scholz beruht vermutlich auf beidem.

Eine ausgestreckte Frauenhand zeigt auf Olaf Scholz

Umfragehoch: Für SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz läuft es gerade prima Foto: Friso Gentsch/dpa

Olaf Scholz’ Aufstieg in den Umfragen ist vielleicht nicht die spektakulärste Auferstehung seit Lazarus, aber schon nahe dran. Dabei war alles so geplant. Denn bei den Leuten rund um Olaf Scholz hat man sich das schon vor etwas mehr als einem Jahr in etwa so ausgedacht: Angesichts der tiefen Krisen und Erschütterungen – jetzt auch noch durch Corona und die daraus folgende Wirtschaftskrise – werden die Bürgerinnen und Bürger bei den Bundestagswahlen ein immenses Sicherheitsbedürfnis haben, ein Bedürfnis nach Stabilität und Solidität.

Da die Bundeskanzlerin kein weiteres Mal antritt, werden diesmal auch Millionen „Merkel“-Wähler und -Wählerinnen am Markt sein. Wähler_innen der Mitte mit leicht progressivem Einschlag, was Modernität, Feminismus, Gerechtigkeit, Humanität und Weltoffenheit anlangt. Die werden sich erst in den letzten Wochen vor der Wahl entscheiden, wenn ihnen dämmert, dass „CDU“ nicht mehr „Merkel“ heißt.

Dies wäre dann die Stunde des Mannes, der als einziger Kanzlerkandidat wenigstens mit einem „Vizekanzler“-Bonus in die Wahl geht, der wie kein anderer die Sicherheitsbedürfnisse der Leute repräsentiert und zugleich als der perfekte Merkel-Nachfolger erscheint. Dieser Gedankengang scheint, Stand heute, bemerkenswert gut aufzugehen. Man könnte meinen: Da müssen Genies am Werke sein.

Nun ist eine Strategie dann perfekt, wenn sie aufgeht. Es wäre aber natürlich auch möglich gewesen, dass sie nicht aufgeht. Dann wären die genialen Strategen vielleicht wie Deppen dagestanden. Wir sehen also: Strategie ist von Glück nie ganz leicht zu unterscheiden. Natürlich gibt es auch Pläne, die so aberwitzig sind, dass sie niemals funktionieren können. Eine Strategie ist also nicht viel mehr als ein Planspiel, das eintreten kann, und eine geniale Strategie ist ein Plan, der zufälligerweise aufgegangen ist.

Neben dem Glück spielt auch die Hoffnung hinein. Unsere Annahmen, was sich in Zukunft ereignen könnte, sind nicht nur von der Ratio modelliert, sondern auch von Gefühlen. „Dass meine Gefühle mein Denken verfälschen könnten, ist mir eine so beängstigende und widerwärtige Vorstellung …“, notierte schon der legendäre André Gide in sein Tagebuch.

„Bitte, wie?“

Gerade wenn man sich selbst als rationales Subjekt sieht und die Überlegungen und Einschätzungen, zu denen man gelangt, als Ergebnis vernünftigen Abwägens ansieht, stellt die Erkenntnis von Gide ja das eigene Selbstbild infrage. Von der Art: „Bitte, wie? Das, was ich für meine rationale Einschätzung halte, halte ich nur für eine solche, weil ich wünsche, dass es so eintritt?“

Unsere SPD-Strategen haben sich obige Strategie so zurechtgelegt, weil sie wünschten, dass sie eintritt und weil sie sich emotional innerlich dazu überredeten, sie für eine äußerst wahrscheinliche Variante zu halten.

In komplexen Gesellschaften ist es sowieso verdammt schwierig, Pläne zu verfolgen, oder besser: Oft wird den gut ausgedachten Plänen durch die Realität ein Strich durch die Rechnung gemacht. „Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht! / Und mach noch einen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht“, sang der alte Brecht über „die Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“.

Schon Friedrich Engels hat auf seine alten Tage die vulgärmarxistische Kindischkeit zurückgewiesen, die herrschenden Klassen würden alles wunderbar manipulieren können. Die materielle Welt, meinte er, ergebe sich als „Wechselwirkung“, als eine „unendliche Menge von Zufälligkeiten“. Verschiedene Akteure verfolgten ihre Interessen, widerstreitende „Einzelwillen“, worauf etwas herauskommt, „das keiner gewollt hat“.

Das erinnert ein wenig an die kühle, systemtheoretische Sprache von Niklas Luhmann, der darauf hinwies, dass das „System Politik“ über viel mehr Informationen verfügt, als es verarbeiten kann. Man muss Entscheidungen treffen, obwohl man eigentlich viel zu wenig über die aktuell wirkenden Kräfte weiß – ganz zu schweigen von den zukünftigen. Luhmann: „Jeder Entscheider muss Schemata verwenden, um das, was er nicht weiß, ignorieren zu können …“ Nachdenkliche Intellektuelle sind daher nicht immer die besten Staatsmänner und -frauen, einfach, weil sie oft dazu neigen, so lange alle Für und Wider in ihre Kalkulation einzubauen, bis sie völlig handlungsunfähig sind.

Aus persönlicher Anschauung darf ich Ihnen verraten: Planlosigkeit ist natürlich auch keine Lösung. Persönlich bin ich ja ganz schlecht in der Planerei, werde dann vom Leben durchgebeutelt und dort hingewirbelt, wo der Zufall mich haben will. Den Unfug, der dabei rauskommt, rede ich mir dann einfach schön. Hat ganz passabel geklappt bisher, und mit bald Sechsundfuffzig wird sich an diesem Charakterfehler wohl auch nicht mehr so viel ändern lassen.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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