Antisemitismus in Deutschland: „Vom Fluss bis zur See …“
Wo bleibt die Solidarität? Ein Appell an Politik, Medien und Wissenschaft: Hört endlich auf, Juden- und Israelhasser in Schutz zu nehmen.
Das Spektrum der Antisemit:innen wird breiter. Auch der Ruf nach Mord, worauf der moderne Antisemitismus hinausläuft, wird deutlicher. Links, rechts und in der Mitte ist der Judenhass identitär aufgeladen und projiziert das schlechte Gewissen oder auch Angst auf eine Wahnvorstellung vom jüdischen Volk, das angeblich eine Gefahr für die eigene Gemeinschaft darstelle.
Rechtsradikale wie der Terrorist von Halle, der Ende 2019 betende Jüdinnen und Juden töten wollte, begründen ihren Hass mit der angeblich von Juden organisierten Migration, die das deutsche Volk bedrohe. Sie sprechen von der Bundesregierung als „ZOG“, Zionist Occupied Government, also einer Regierung, die von Juden besetzt sei.
Die Rhetorik gegen Zionisten ist bei linken Antiimperialisten noch stärker verbreitet. Sie projizieren auf den Zionismus und den jüdischen Staat all das, was in ihrem Weltbild böse ist, insbesondere Kolonialismus und Imperialismus. Auf der anderen Seite sehen sie sich und die Palästinenser:innen, die sie in ihrer Überidentifikation mit ihnen als das Ursprüngliche, Rebellische und Unschuldige schlechthin sehen.
Günther Jikeli, geb. 1973 in Köln, ist Historiker und Antisemitismusforscher. Er ist Mitbegründer des International Institute for Education and Research on Antisemitism (IIBSA) in London und Berlin.
Auch Islamisten beziehen sich auf das Reine und Ursprüngliche, allerdings mit Bezug auf den Islam, nach dem es die Gesellschaft auszurichten gelte. Sie glauben nicht, dass der Islam reformiert oder demokratisiert werden sollte, sondern dass er angegriffen wird und dass wir uns in einem von Juden angeführten weltweiten Religionskrieg befinden, in dem Muslim:innen die Pflicht haben, den Islam zu verteidigen.
In der Mitte angekommen
Wenn der Antisemitismus auf einige wenige an den extremen Rändern beschränkt wäre, wäre das schlimm genug, aber wir wären in der Lage, den antisemitischen Wahn einzugrenzen und ihn weitgehend unschädlich zu machen. Die Gesellschaft könnte Jüdinnen und Juden ein Gefühl der Sicherheit geben, dass ihnen im Zweifelsfall Solidarität und Hilfe gewiss sei.
Dass dem aber nicht so ist, zeigt sich schon daran, dass Jüdinnen und Juden sich weitgehend allein gelassen fühlen, dass sie Angst haben, sich in der Öffentlichkeit oder auch in der Schule als Jüdinnen oder Juden erkennen zu geben. Es zeigt sich auch daran, dass Versatzstücke der extremen Ideologien bis weit in die Mitte verbreitet sind. So weit, dass sich die Frage stellt, ob die extremen Ränder der Gesellschaft die Mitte beeinflussen oder ob sich nicht vielmehr der weit verbreitete Judenhass einfach nur offener und mordlustiger an den Rändern äußert.
„Tod den Juden“ wollen nur wenige brüllen. Die meisten Antisemit:innen geben vor, nichts gegen Juden zu haben, und leugnen den mörderischen Hass. So auch die Mutter des Terroristen aus Halle. Ihr Sohn habe nichts gegen Juden, erklärte sie im Interview. „Er hat ein falsches Vokabular. „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“ Tatsächlich, sie steht mit dieser Meinung nicht allein. Im gleichen Monat, im Oktober 2019, meinten 24 Prozent in einer repräsentativen Umfrage, dass Juden zu viel Macht in den internationalen Finanzmärkten hätten.
Nicht nur der Antisemitismus von rechts, auch der Antisemitismus von links hat eine lange Vorgeschichte. Antizionistische Kampagnen begannen schon unter Stalin, einschließlich der Ermordung jüdischer Intellektueller. Sie intensivierten sich nach dem Sechstagekrieg 1967, als diese dann auch unter westlichen Intellektuellen Fuß fassten.
Die Rolle des Feuilletons
Bis heute sind die Auswirkungen spürbar, beispielsweise mit dem alten Slogan, Zionismus sei Rassismus, was auch im Mai 2021 auf zahlreichen antiisraelischen Demos zu sehen und zu hören war. Die auf Verdrehungen und Fälschungen basierenden Verleumdungen Israels findet sich heute aber auch in deutschen Feuilletons, in denen Israel pauschal des Rassismus, eines „Apartheid-Systems“, bis hin zum Genozid bezichtigt wird. Sie legitimieren damit den nur leicht verdeckten Ruf nach Mord, wenn zur Befreiung „ganz Palästinas“ „vom Fluss bis zur See“ aufgerufen wird.
Daran beteiligen sich auch deutsche Wissenschaftler:innen, wenn sie versuchen, umzudefinieren, was Antisemitismus ist, und die Infragestellung des Existenzrechts Israels vom Antisemitismusvorwurf per Definition auszunehmen. So geschehen mit einer auffallend großen Beteiligung von deutscher Seite an der clever titulierten „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vom März, die darüber hinaus auch antiisraelische Boykotte in Schutz nimmt.
Dschihadisten hingegen sind für fast alle antisemitischen Morde im Europa des 21. Jahrhunderts verantwortlich, insgesamt 18, die meisten davon in Frankreich. Antisemitismus ist allen islamistischen Bewegungen inhärent, von der Muslimbruderschaft über Millî Görüş und Erdoğans AKP bis zu dschihadistischen Bewegungen wie al-Qaida, Isis und Hamas.
Aber auch unter Muslim:innen zeigt sich, dass der Antisemitismus nicht nur an den Rändern unter Islamisten zu finden ist, sondern von vielen übernommen wird, die kein kohärentes islamistisches Weltbild haben. In Ländern wie Algerien, dem Irak oder der Türkei hat die Mehrheit der Bevölkerung antisemitische Einstellungen.
Islamistischer Extremismus
Eine Durchsicht aller bis zum Jahr 2015 veröffentlichten Umfragen zu Antisemitismus in verschiedenen europäischen Ländern, einschließlich Deutschlands, die unterscheiden zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Teilnehmenden, zeigt übereinstimmend, dass Antisemitismus unter Muslim:innen deutlich stärker verbreitet ist als unter denjenigen, die sich nicht muslimisch identifizieren. Alle nachfolgenden Umfragen bestätigen dies eindeutig und belegen auch, dass dies nicht mit der Einkommensschicht, dem Bildungsniveau oder Diskriminierungserfahrungen erklärt werden kann.
Das trifft auch für Berlin zu, wo in den letzten Wochen besonders viele und aggressive antisemitische Vorfälle zu verzeichnen waren. Der Berlin-Monitor 2019 untersucht auf Basis einer repräsentativen Umfrage Einflussfaktoren für antisemitische Einstellungen. Der bei Weitem größte Einflussfaktor war die Identifizierung als Muslim:in. Etwas abgeschlagen, aber immerhin auf Platz zwei kamen Sympathien für die AfD. Erst dahinter kamen Bildungs- und wirtschaftliche Faktoren.
Das heißt, der Prozentsatz der Antisemit:innen ist unter Muslim:innen sogar höher als unter AfD Anhänger:innen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Muslim:innen auch häufig unter den Täter:innen antisemitischer Vorfälle zu finden sind.
Wie groß deren Anteil an antisemitischen Vorfällen insgesamt ist, lässt sich aber nur schwer sagen, denn antisemitische Vorfälle werden noch immer nur unzureichend erfasst. Der religiöse Hintergrund wird nur erfasst, wenn die Tat eindeutig aus „religiös-ideologischer Motivation“ erfolgt.
Aus Polizeistatistiken lässt sich ein Anteil von über 90 Prozent rechtsextremer Taten an der Gesamtzahl der politisch motivierten, antisemitischen Straftaten herauslesen. Das ist jedoch irreführend, da antisemitische Straftaten, die keiner Ideologie eindeutig zugeordnet werden können, von den Beamt:innen vor Ort meist als „rechtsextrem“ eingetragen werden.
Tatsächliche Bedrohungslage
Dennoch lag der Anteil der antisemitischen Gewalttaten, die einer „ausländischen“ oder einer „religiösen Ideologie“ zugeordnet wurden, in den letzten Jahren (2017–2019) zwischen 12 und 20 Prozent. Die der rechtsextrem motivierten Gewalttaten lag zwischen 71 und 85 Prozent.
Zwei voneinander unabhängige Umfragen unter Jüdinnen und Juden (der Europäischen Union/FRA sowie der Universität Bielefeld) zeigen dagegen übereinstimmend, dass Opfer von Antisemitismus Muslime als größte Gruppe von Tätern noch weit vor Rechts- und Linksextremisten benennen.
Die Wahrheit mag irgendwo dazwischen liegen. Muslimischer Antisemitismus ist jedoch keineswegs vernachlässigbar.
Wer das immer noch kleinredet oder wer den Judenhass und die Dämonisierung Israels als „Kritik“ an Israel uminterpretiert, macht sich mitschuldig am wachsenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft.
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