Politische Debattenkultur: Canceln und abkanzeln

Wenn eine Einzelne für die Widersprüche einer ganzen Gesellschaft herhalten muss: Zwischenruf im Streit über die muslimische Feministin Kübra Gümüşay.

Kübra Gümüşay - junge Frau mit Kopftuch auf einer Holzpalette mit Teppich in einem Park - neben ihr Luftballons

Die Aktivistin und politische Autorin Kübra Gümüşay 2017 in Köln Foto: /imago

Ein Wesenszug wohlwollender Menschen ist es, anderen Fehltritte nachzusehen und darauf zu bauen, dass sie aus ihnen lernen können. Was passieren kann, wenn einem das Wohlwollen abhandenkommt, führt Ronya ­Othmann in ihrer neuen FAS-Kolumne vor Augen, in der sie hart mit Kübra Gümüşay ins Gericht geht. Hier streiten sich nicht einfach nur zwei Fe­mi­nis­t*in­nen unterschiedlicher Strömungen. Der Streit steht auch für eine ungute Tendenz in der politischen Debattenkultur, inhaltliche Kon­tro­ver­sen zunehmend auf eine persönliche Ebene zu bringen.

Anlass ist die Übersetzung des Gedichts „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman. Gümüşay übersetzte es aus dem Amerikanischen gemeinsam mit Hadija Haruna-Oelker und Uda ­Strätling ins Deutsche. Doch geht es Othmann nicht um die Qualität der Übersetzung. Sie wundert sich in ihrer Kolumne mit dem Titel „Wer ist Kübra Gümüşay?“, dass in den Debatten über die Übersetzung nie gefragt worden wäre, wer diese Aktivistin und politische Autorin eigentlich sei, die sich Antirassismus und Feminismus auf die Fahnen schreibe. Othmann, Tochter einer deutschen Mutter und eines aus Syrien stammenden Vaters, der als staatenloser jesidischer Kurde nach Deutschland floh, will wissen, wofür Gümüşay „wirklich“ stehe.

Othmann, wie Gümüşay Autorin und ehemalige taz-Kolumnistin, führt dann eine Reihe eklatanter Fehltritte Gümüşays an. Darunter fällt die Verwendung des Begriffs „Haustürke“ in einer ihrer taz-Kolumnen 2013 und eine Leseempfehlung für den islamistischen Schriftsteller ­Necip Fāzıl Kısakürek in ihrem Buch „Sprache und Sein“. Weiter kritisiert sie Gümüşays weitreichende Gesprächsbereitschaft bis hin zu islamistischen Organisationen wie dem Islamischen Zentrum Hamburg, das als Europazentrale des iranischen Re­gimes gilt. Außerdem wirft sie Gümüşay mangelnde Distanz zu Erdoğan vor.

Es sind starke Beispiele, sie bieten Diskussionsstoff, gewiss. Neu sind sie aber nicht. Als Kopftuch tragende Feministin steht Gümüşay, 32, seit Jahren im Zentrum heftiger Auseinandersetzungen, immer wieder wurde sie als gläubige Muslimin, aufgewachsen in einem konservativen Elternhaus, selbst Gegenstand der Debatte.

Der Streit steht für eine ungute Tendenz, inhaltliche Kontroversen auf eine persönliche Ebene zu bringen

Was der Tonfall von Othmanns Text suggeriert: Gümüşay gebe vor, jemand zu sein, die sie nicht ist.

Dabei bietet Gümüşay keinen Grund für ­Zweifel an ihrer Lernfähigkeit: Zu den genannten Fällen hat sie sich auf ihrer Website bereits geäußert. Von dem Schriftsteller Necip Fāzıl Kısakürek habe sie nicht gewusst, dass er alevitenfeindlich und antisemitisch sei. Auf diesen Umstand hingewiesen, strich sie den Namen aus der zweiten Auflage ihres Buches. In Bezug auf den Vorwurf der Nähe zu Erdoğan und zur AKP führt Gümüşay zahlreiche ihrer kritischen Artikel und Tweets an, zum Beispiel gegen Erdoğans frauenfeindliche Rhetorik. Hinsichtlich des Auftritts im Islamischen Zentrum Hamburg verweist Gümüşay darauf, dass sie dort einmalig auf einem Podium saß, auf einer Dialogveranstaltung mehrerer islamischer Hamburger Gemeinden, genauso wie zahlreiche andere Po­li­ti­ke­r*in­nen und Wis­sen­schaft­le­r*in­nen. Auch ist die Stadt Hamburg per Staatsvertrag mit dem Islamischen Zentrum verbunden.

All diese Erklärungen standen auch schon vor Othmanns Kolumne ausführlich auf Gümüşays Website. Die Vorfälle gab es also – doch Gümüşay hat sie eingeordnet oder sich für sie öffentlich entschuldigt und sich korrigiert. Das scheint für Othmann aber keine Rolle zu spielen.

Will Othmann ihre Le­se­r*in­nen glauben machen, dass es noch mehr als diese einzelnen Beispiele gibt? Sie führt jedenfalls nicht explizit aus, welche Haltung sie aus den genannten Beispielen ableitet, die sie zum Anlass nimmt, Zweifel an der Glaubwürdigkeit Gümüşays als Feministin und Antirassistin zu säen.

„Doch es ist falsch, wenn nur nach Identität gefragt wird, nicht nach Haltung“, schreibt Othmann. Doch sie kritisiert letztlich nicht Gümüşays Haltung, sondern prangert sie als Person an. Die Geste des Textes ist die: Hier fährt jemand hinter verdunkelten Scheiben mit Sonnenbrille auf der Überholspur einer Diskursautobahn. Die Straße ist das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, eines Flaggschiffs der konservativen Presse, das offen ist für Gastbeiträge von ­Alexander Gauland und das einer vermeintlichen Cancel Culture das Handwerk legen will. Wenn Gümüşay auf dieser Bühne angegriffen wird, dann auch als Protagonistin eines intersektionalen Aktivismus, der gerne unter dem Label Identitätspolitik abgetan wird und den man mit seinem Anliegen eines Empowerments marginalisierter Guppen gar nicht erst verstehen will. Selbst wenn es Othmanns Absicht war, von links aufzuklären, bedient sie auf dieser Straße vor allem Ressentiments: Zustimmung erhält sie in den ­Kommentarspalten jedenfalls von reaktionärer Seite.

Gümüşay passt aber weder in die linke noch in die konservative Schublade. Sie ist eine Feministin mit Kopftuch. Das fordert all jene heraus, die sich an Schubladen klammern. Wer Veränderung will, sollte aber auch bereit sein, Unordnung zuzulassen. Was unter die Räder kommt, wenn man sich gegenüber Widersprüchen verschließt, ist letztlich der Fortschritt. Dann geht es nur um Selbstbestätigung.

Was spricht dagegen, Gümüşay in ihren Aussagen ernst zu nehmen, sie an ihrem Handeln wie an ihren Äußerungen, ja dem Gesamtwerk zu messen und nicht an einzelnen Beispielen, die vor allem Interpretationsspielraum lassen?

Trotz aller Kritik sollte man sich wenn schon nicht mit Wohlwollen, dann doch mindestens mit interessierter Offenheit begegnen – und ohne Pranger.

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studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Ethnologie in Potsdam, Berlin und Mexiko-Stadt und schreibt seit 2009 für die taz. Sie volontierte bei der taz in Hamburg, war dort anschließend Redakteurin, Chefin von Dienst und ab Juli 2017 Redaktionsleiterin. 2019 wechselte sie in die Produktentwicklung der taz und ist verantwortlich für die Digitalisierung der täglichen taz.

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