Stealthing-Urteil des Amtsgerichts Kiel: Angeklagter freigesprochen

Nach einem Berliner Urteil schien klar: Es ist strafbar, wenn ein Mann anders als abgemacht das Kondom weglässt. Ein Kieler Gericht sieht das anders.

Ein Kondom wird mit zwei Fingern gehalten.

Kleines Utensil mit großer Wirkung Foto: dpa / Friso Gentsch

BREMEN taz | Ist es strafbar, wenn ein Mann beim Sex entgegen voriger Absprache das Kondom auszieht oder weglässt? Ja, sagte im Sommer das Kammergericht Berlin. Nein, sagte nun das Kieler Amtsgericht und sprach letzte Woche einen Mann frei, dem das sogenannte Stealthing vorgeworfen wurde.

Dass es zu einem ungeschützten Geschlechtsverkehr entgegen der Abmachung gekommen war, gab der Angeklagte zwar zu. Aber der zuständige Richter eröffnete gar nicht erst die Beweisaufnahme, weil er die Handlung an sich für nicht strafbar hält. Daher wurde die betroffene Frau, die als Nebenklägerin auftrat, nicht als Zeugin vernommen. Das sagen die Anwältin des Opfers und der zuständige Staatsanwalt. Beide haben inzwischen Revision eingelegt.

Der Übergriff geschah bereits im März 2018. Laut Anklage trafen sich Angeklagter und Nebenklägerin ab und an für Sex, so auch am besagten Abend. Sie hatten dann zunächst Geschlechtsverkehr mit Kondom, sagt die Sprecherin des Amtsgerichts Kiel, Myriam Wolf. Danach sei man zusammen geblieben, und „im dynamischen Verlauf hat man sich wieder angenähert“. Beim zweiten Sex habe der Angeklagte jedoch kein Kondom mehr genutzt; die Frau habe dies aber erst hinterher bemerkt. „Das hat er auch alles vor Gericht zugegeben“, sagt Wolf.

Sex ja, aber nur mit Kondom. Das sei schon immer die Absprache zwischen den beiden gewesen, sagt die Kieler Rechtsanwältin Kerstin Bartsch. Da der Angeklagte beim ersten Sex Probleme mit seiner Erektion hatte, so habe es die Mandantin gesagt, habe er gefragt, ob er das Kondom ausnahmsweise abnehmen könnte. „Nein, auf keinen Fall“, habe die Frau geantwortet. Diese Unterhaltung bestritt der Angeklagte laut Bartsch am Dienstag vor Gericht. Er habe aber bestätigt, von der generellen Vereinbarung gewusst zu haben.

Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht

„Geschlechtsverkehr ohne Kondom stellt eine weitergehende sexuelle Handlung dar als mit Kondom“

Dass beim zweiten Sex das Kondom fehlte, habe ihre Mandantin nicht bemerkt. Denn: Alles soll sich unter einer großen Decke abgespielt haben. „Ich habe das vorher abgezogen“, soll er nach Bartsch’ Angaben anschließend zu ihr gesagt haben. Einen Samenerguss habe er nicht gehabt, versicherte er ihr. Das glaubte das Opfer zwar, sagt Bartsch, aber das sei egal: „Ungeschützt ist ungeschützt.“ Ihre Mandantin sei wütend geworden und gegangen.

Das Abziehen des Kondoms, die Decke – das alles habe der Mann vor Gericht ebenso geschildert, sagt Bartsch. Trotzdem sei er fest davon ausgegangen, dass sie gespürt habe, dass er kein Kondom mehr trug, sagt die Anwältin – weil sie so „sexuell erfahren“ gewesen sei und sein Penis vorher ihr Bein berührt haben soll. Und nach der erneuten Erektion sei er „wie fremdgesteuert“ gewesen, was er im Nachhinein sehr bedauere. So sehr, dass er inzwischen psychologische Hilfe in Anspruch nehme. „Er hat sich als Opfer dargestellt.“

Der Mann wurde nach Paragraf 177 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs angeklagt, erklärt Gerichtssprecherin Wolf. Darin heißt es: „Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt (...), wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Genau so steht das da aber erst seit vier Jahren. Denn 2016 beschloss der Bundestag das neue Sexualstrafrecht, nach dem ein Nein, Weinen oder Kopfschütteln bereits ausreicht, um etwaig folgende sexuelle Handlungen strafbar zu machen.

Dass unter den neuen Paragrafen auch Sex ohne Kondom fällt, wenn eine Partei im Vorhinein deutlich gemacht hat, dass sie das nicht möchte, entschied erstmals das Amtsgericht Berlin Tiergarten im Jahr 2018. Es verurteilte einen 37-jährigen Polizisten wegen eines sexuellen Übergriffs zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Schadensersatzzahlung von 3.000 Euro. Er hatte während des Geschlechtsverkehrs das Kondom entfernt; die Frau hatte dies erst nach der Ejakulation bemerkt. Dabei hatte sie mehrfach gesagt, dass ein Kondom Bedingung ist.

In der Begründung des Kammergerichts Berlin, das schließlich im Sommer 2020 in dritter Instanz das Urteil bestätigte, heißt es: „Das sog. Stealthing erfüllt dann den Tatbestand des sexuellen Übergriffs, wenn der Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern (…) darüber hinaus in den Körper des bzw. der Geschädigten ejakuliert.“ Dies sei noch keine Entscheidung darüber, wie Stealthing zu beurteilen wäre, wenn es zu keiner Ejakulation kommt, steht in einer Mitteilung des Gerichts.

Dass es im Kieler Fall keinen Samenerguss gegeben haben soll, macht für Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Uni Leipzig, keinen Unterschied. Zwar verstärke das den Übergriff noch einmal, „aber schon das Fehlen des Kondoms und der unmittelbare Kontakt der Schleimhäute hat eine andere Qualität“. Und angesichts der vorigen Absprachen und der Bettdecke, unter der sich alles abgespielt haben soll, sei es laut Hoven auch irrelevant, ob das Kondom während des Verkehrs abgestreift, oder von vornherein weggelassen wurde. Neben der Sorge vor Krankheiten oder Schwangerschaft gehe es dabei schlichtweg darum, welcher Handlung eine Person zugestimmt hat – und welcher widersprochen wurde.

Der Kieler Richter sah das jedoch anders, wie Wolf erklärt. Er vertrete die Rechtsauffassung, dass es laut des Paragraphen 117 unter Strafe steht, ob ein Verkehr passiert – und nicht, wie. Das hieße nicht, dass er das Verhalten des Angeklagten nicht schlimm findet. Im Gegenteil: Dies sei ein schwerer Vertrauensbruch, so Wolf. Doch auch, wenn es rechtspolitisch wünschenswert wäre, dass so ein Vorfall vom Gesetz erfasst wird – nach Meinung des Richters ist dies nicht so.

Bartschs Befangenheitsantrag gegen den Richter, weil er die Zeugin am Dienstag nicht mal anhören wollte, wurde abgelehnt. Der Richter hatte schon 2019 die Anklage zunächst gar nicht zugelassen. Nur dank Bartschs Beschwerde beim Landgericht Kiel sei es schließlich zum Prozess gekommen. In der entsprechenden Begründung vom Landgericht heißt es, dass das Gericht die Auffassung des Amtsgerichts nicht teile, dass eine Kondombenutzung nur eine „unwesentliche Modalität des Geschlechtsverkehrs“ darstellt, sagt Bartsch.

Kieler Staatsanwalt hält Stealthing für strafbar

Professorin Hoven hat zwar aufgrund der unklaren Rechtslage Verständnis für die Begründung des Richters. „Ich halte sie trotzdem für falsch.“ Es sei nicht richtig zu sagen, auf das Wie komme es nicht an. Das Gesetz bestrafe, wenn eine sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers vorgenommen werde. Und der Geschlechtsverkehr ohne Kondom stelle eine andere, weitergehende sexuelle Handlung dar als der Geschlechtsverkehr mit Kondom.

Genauso sieht es auch der Kieler Oberstaatsanwalt Achim Hackethal. Er hat, ebenso wie Bartsch, Revision gegen den Freispruch eingelegt. Denn er hält Stealthing vor dem Hintergrund der Gesetzesreform 2016 für strafbar. Bis das Oberlandesgericht Schleswig, wo der Fall jetzt landet, entscheidet, werden seiner Einschätzung nach mehrere Monate vergehen.

Für eine juristische Klärung bräuchte es ein Urteil vor dem Bundesgerichtshof (BGH) oder dem Bundesverfassungsgericht, und damit einen Präzedenzfall. Der Kieler Fall würde aber nur vor dem BGH landen, wenn das Oberlandesgericht Schleswig vom Kammerbericht Berlin abweichen will – dann müsste das Urteil dem BGH vorgelegt werden.

Urteil halte „patriarchale Strukturen“ aufrecht, sagt Anwältin

Vor dem Bundesverfassungsgericht könnte so ein Sachverhalt nur geklärt werden, wenn ein verurteilter Täter sich bis dorthin klagt. Also zum Beispiel, wenn der in Kiel Freigesprochene doch noch verurteilt werden sollte und sich dann dagegen wehrt, weil er einen Eingriff in seine Grundrechte vermutet.

Den Jurist*innen Bartsch, Hoven und Hackethal ist kein dritter Fall solcher Art bekannt, der je vor einem deutschen Gericht gelandet ist. Aber von eingestellten Verfahren, weil Staatsanwaltschaften anders als die Kieler eine solche Tat für nicht strafbar halten, bekommt die Öffentlichkeit nun mal auch nicht mit.

Für Bartsch hält das Urteil „patriarchale Strukturen“ aufrecht. Das sexuelle Bedürfnis des Mannes könne nicht über das Schutzbedürfnis der Frau gestellt werden. Doch die Gerichte hätten Schwierigkeiten, Frauen zu glauben, sagt sie. „Ich kassiere viele Freisprüche bei Klagen in Bezug auf Paragraph 177. Da muss gesellschaftspolitisch etwas passieren.“ Das aktuelle Urteil sei zudem fatal, weil in Berlin nun etwas strafbar ist, was in Schleswig-Holstein okay ist. „Wir brauchen endlich Rechtsklarheit.“

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