Kampf gegen die Pandemie: Schwedens Strategie heißt Smittskam

Anstelle strikter Einschränkungen setzt die schwedische Regierung auf Empfehlungen und Eigenverantwortung. Kann das funktionieren?

Eine Gruppe von Schwedinnen und Schweden sitzt lachend an einem Kneipentisch

Treffen in Kneipen wie hier in Göteborg sind erlaubt, nur soll Abstand zwischen den Tischen besteht Foto: Johansson Thomas/TT/imago

Stockholm taz | Am selben Tag, als die deutsche Bundeskanzlerin einschneidende Kontaktverbote ankündigte, zeichnete ihr schwedischer Amtskollege Stefan Löfven eine „Rede an die Nation“ mit ernster Botschaft auf. „Leben, Gesundheit und Arbeitsplätze sind in Gefahr“, so Löfven. Nun müssten alle zusammenhalten. Vor allem müsse man sich um die Älteren kümmern: „Aber es wird nicht zu vermeiden sein, dass wir manchen ein letztes Lebewohl werden sagen müssen.“

Konkrete Einschränkungen verkündete Löfven dagegen nicht. Also keine Ausgangssperren oder Kontaktverbote, keine Einreisebeschränkungen für EU-MitbürgerInnen, aber der Appell, auf unnötige Reisen zu verzichten. Läden, Restaurants, Schulen, Kindergärten und Sporthallen blieben weiterhin offen. Zu Hause bleiben solle jeder, der sich irgendwie krank fühle oder Erkältungssymptome zeige. Und immer schön Abstand halten – aber das fällt SchwedInnen bekanntlich sowieso nicht allzu schwer.

Zwischenzeitlich wurde zwar die Grenze bei öffentlichen Zusammenkünften von 500 auf maximal 50 TeilnehmerInnen gesenkt und zum 1. April gelten die zuvor auf kommunaler Ebene vereinzelt schon bestehenden Besuchsverbote in Altenheimen landesweit. Doch das sind vergleichweise milde Beschränkungen.

Vor allem im Ausland wunderten sich darüber viele. Die New York Times fragte deshalb etwa: „Warum steht Schweden beim Kampf gegen den Coronavirus in Skandinavien abseits?“ Die dänische Jyllandsposten wunderte sich: Ausgerechnet dieses traditionelle „Verbotsschweden“ falle nun aus dem Rahmen und ganz im Gegensatz zu Dänemark sei dort derzeit „nahezu alles erlaubt“.

„Wir sind nicht naiv“, versichert der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell

Spinnen jetzt ausgerechnet die Schweden, die doch eigentlich den Ruf haben, die Vorsicht in Person zu sein? „Wir sind nicht naiv“, versichert der Staatsepidemiologe Anders Tegnell von der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten. Wie alle anderen Länder habe man das Ziel, die Corona-Verbreitungskurve flach zu halten. Aber es sollten auch die Belastungen für die Bevölkerung im grünen Bereich bleiben. „Viel hilft viel“ sei ein falsches Motto, so Tegnell. Da nehme man ein unnötiges Maß an negativen sozialen und gesundheitlichen Folgen in Kauf.

Manche Maßnahmen anderer europäischer Länder seien politisch motiviert und ohne fachliche Begründung, erklärt Tegnell. Tatsächlich verordneten etwa die Regierungen in Oslo, Kopenhagen und Helsinki die örtlichen Schulschließungen gegen die Empfehlung der dortigen Gesundheitsbehörden. Das gilt ebenso für das dänische Kontaktverbot für mehr als 10 Personen und die Schließung der Grenzen des Landes. Die Regierung in Kopenhagen räumt mittlerweile ein: Nein, dafür gebe es eigentlich keine fachliche Grundlage. Man vermute eben, dass das wirken könne.

Dass Stockholm dagegen von vornherein stur den Empfehlungen der Experten folgt, ist eine fest verankerte Tradition beim Umgang des Landes mit Krisen. „Schweden lässt da Experten ran“, sagt Göran von Sydow, Chef von Sieps, dem schwedischen Institut für europapolitische Studien. „Ein recht einmaliges Modell.“ Zusammen mit der Betonung der Verantwortung jedes Einzelnen seitens der Politik sei das eine Strategie, die soweit möglich auf Freiwilligkeit statt auf Zwang setze.

Die SchwedInnen honorieren das. Das Vertrauen in ihren Regierungschef schnellte von rekordniedrigen 18 Prozent im Februar auf rekordhohe 44 Prozent in dieser Woche empor.

Deutlich weniger Menschen in Stockholm

Aber wirken die Empfehlungen? Die Aufforderung zur Arbeit im Homeoffice setzten die meisten Unternehmen wie auch Behörden so gut wie umgehend um. Tagelang war in Schweden kaum noch ein leistungsfähiger Laptop aufzutreiben, weil Betriebe alle Lagerbestände für ihre MitarbeiterInnen aufgekauft hatten. Geschäfte, Restaurants oder Friseure haben deutlich weniger Kundschaft. Eine Auswertung der Verbindungsdaten der Telemasten in Stockholm erbrachte, dass sich in der vergangenen Woche in der City bis zu 73 Prozent weniger Menschen bewegten als zu Vor-Corona-Zeiten.

Das ist auch notwendig. Schwedens Gesundheitswesen ist auf diese Pandemie schlecht vorbereitet. Ein mit der Privatisierungswelle der 1990er Jahre einhergehender Abbau von vermeintlich „überflüssigen“ Kapazitäten im Krankenhausbereich hat dazu geführt, dass es vor allem in der Intensivmedizin so gut wie keine Reserven gibt. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl hat in Europa nur Portugal weniger Intensivbettenplätze als Schweden.

Da auch das Militär radikal schrumpfte, gibt es auch von dieser Seite keine großen Möglichkeiten für den Notfall. So konnte das Militär auch nur mit einem einzigen Feldlazarett dienen, das am Montag in einem Stockholmer Messezentrum in Betrieb genommen wurde.

Ob die schwedische Strategie gelingt, wird sich erst in Wochen, wenn nicht gar Monaten zeigen. Es gab mit Stand von Mittwoch 4.435 bestätigte Corona-Infektionen, ein Plus von 407 gegenüber dem Vortag, und 180 Corona-Todesfälle, ein Plus von 34 gegenüber dem Vortag. Nimmt man die mathematische Kurve der Corona-Toten seit „Tag 0“, dem jeweils ersten Todesfall als Vergleichsmaßstab, verliefen Anfang dieser Woche die Ansteckungskurven für Schweden und Deutschland mit seinen strengeren Maßnahmen nahezu deckungsgleich.

Geringe Bevölkerungsdichte

Was Schweden vermutlich helfen könnte, ist die geringe Bevölkerungsdichte, die soziale Distanzierung wesentlich einfacher macht. Ein kräftiger Anstieg von nachgewiesenen Corona-Infizierten beschränkt sich bislang auf die großen Städte, vor allem die Hauptstadt-Region. Zudem sind in Schweden mehr als die Hälfte aller Haushalte Einpersonenhaushalte – im EU-Durchschnitt sind es 33, in Spanien nur 25 Prozent. Das könnte die Verbreitung des Virus ebenfalls verlangsamen.

Auch sind in Schweden das Bewusstsein der Verantwortung auch für den anderen und das Bemühen, sich nichts zuschulden kommen zu lassen, traditionell verankert. In dem Land, das den Begriff der „Flugscham“ („flygskam“) erfunden hat, gibt es dafür schon ein Wort: „Smittskam“ – die Scham, durch vermeidbares Verhalten womöglich einen anderen Menschen zu „smitta“, anzustecken.

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