Gewalt gegen Frauen

Stück für Stück wird deutlicher, was in der Silvesternacht in Köln geschehen ist. Die Politik will diese Gewalt nicht hinnehmen

„Spießrutenlauf durch Männermassen“

Köln Der interne Bericht eines leitenden Polizeibeamten offenbart die völlige Überforderung der Polizei, die Aggressivität der Täter und gänzlich fehlenden Schutz für die weiblichen Opfer

Protest gegen sexuelle Gewalt vor dem Kölner Dom an diesem Dienstag Foto: Oliver Berg/dpa

von Pascal Beucker und Astrid Ehrenhauser

BERLIN taz | Es ist ein Dokument des Grauens. Der interne Bericht eines Polizeibeamten, der in leitender Funktion am Kölner Hauptbahnhof im Einsatz war, offenbart eine fatale Überforderung der Sicherheitskräfte in der Silvesternacht. Der „viel zu geringe Kräfteansatz, fehlende Führungsmittel und Einsatzmittel“ hätten „alle eingesetzten Kräfte ziemlich schnell an die Leistungsgrenze gebracht“, heißt es in dem Einsatzprotokoll, dessen Authentizität die Bundespolizeidirektion Sankt Augustin der taz bestätigte. Die Einsatzkräfte hätten nicht allen Übergriffen Herr werden können, „dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit“.

In drastischen Worten beschreibt der leitende Beamte die „chaotische und beschämende Situation“ in der Silvesternacht. Feuerwerkskörper jeglicher Art und Flaschen seien wahllos in die Menge gefeuert worden. „Frauen mit Begleitung oder ohne durchliefen einen im wahrsten Sinne ‚Spießroutenlauf‘ durch die stark alkoholisierten Männermassen, wie man es nicht beschreiben kann.“ Aufgewühlte Passanten seien auf die Beamten zugelaufen und hätten „über Schlägereien, Diebstähle, sexuelle Übergriffe an Frauen usw.“ berichtet.

Selbst das Erscheinen der Polizeikräfte hätte „die Massen nicht von ihrem Tun“ abgehalten. Im Gegenteil: Nahmen die Beamten „Hilferufe von Geschädigten“ wahr, seien sie „z. B. durch Verdichtung des Personenringes/Massenbildung daran gehindert“ worden, „an die Betreffenden zu gelangen“. „Geschädigte/Zeugen wurden vor Ort, bei Nennung des Täters bedroht oder im Nachgang verfolgt.“ Erteilte Platzverweise seien folgenlos geblieben: „Betreffende Personen tauchten immer wieder auf und machten sich einen Spaß aus der Situation.“ Eine Ingewahrsamnahme sei „in dieser Lage aufgrund der Kapazitätsgrenzen nicht in Betracht“ gekommen. Auffällig sei „die sehr hohe Anzahl an Migranten innerhalb der polizeilichen Maßnahmen“ gewesen.

Während es in der Darstellung der Kölner Polizei vom Dienstag heißt, nach der Räumung des Bahnhofsvorplatzes um Mitternacht habe sich die Situation zunehmend beruhigt, zeichnet der interne Bundespolizeibericht ein anderes Bild. Danach sei es im weiteren Einsatzverlauf „immer wieder zu mehrfachen körperlichen Auseinandersetzungen vereinzelter Personen wie auch Personengruppen, Diebstählen und Raubdelikten an mehreren Ereignisorten gleichzeitig“ gekommen. Außerdem seien „zahlreiche weinende und schockierte“ Frauen und Mädchen bei den eingesetzten Beamten erschienen und hätten sexuelle Übergriffe geschildert. Immerhin hätten im Bahnhof jedoch aufgrund der ständigen Präsenz der Einsatzkräfte und aufmerksamer Passanten „vollendete Vergewaltigungen verhindert werden“ können.

Die Schilderungen in dem Einsatzprotokoll decken sich mit zahlreichen Betroffenen- und Zeugenaussagen – weichen allerdings in ihrer Dramatik von der bisherigen offiziellen Version der Kölner Polizei ab. Wie ist das möglich? Am Donnerstag musste Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers zum Rapport bei NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) antreten. Am Montag beschäftigt sich der Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags auf einer Sondersitzung mit dem Kölner Silvesterdesaster. „Aus Respekt vor dem Parlament werde ich für die Öffentlichkeit zunächst bis zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Details zur Einsatzvorbereitung und zum Einsatzverlauf erläutern“, teilte Albers mit.

Laut Angaben der Kölner Polizei ist die Zahl der Strafanzeigen inzwischen auf 121 gestiegen. Bei etwa drei Vierteln, sprich gut 90, handele es sich um Sexualdelikte – in vielen Fällen in Kombination mit Diebstahl oder Raub. Zwei Vergewaltigungen wurden angezeigt. Wie viele Frauen und Männer tatsächlich zu Schaden gekommen sind, sei bisher unklar und werde noch überprüft, sagte eine Polizeisprecherin der taz. Oft bezögen sich die Anzeigen auf mehrere Opfer, sehr viele der Geschädigten stammten nicht aus Köln.

Weshalb sich die Zahl der angezeigten sexuellen Übergriffe in den letzten Tagen mehr als verdreifacht hat, erklärte die Sprecherin mit der neuen Gewichtung der Ereignisse. Manche Anzeigen hatten zunächst keine sexuelle Handlung beinhaltet. „Als Beispiel: Ein Schlag auf den Po ist vielleicht als nicht so schlimm bewertet worden“, erläuterte sie. „Das ist erst auf gezielte Nachfrage jetzt herausgekommen.“ Bei ersten Vernehmungen hätten sich die Beamten nicht auf Sexualdelikte konzentriert. „Auf der Wache war in der Nacht das Ausmaß nicht klar“, sagte die Sprecherin.

Selbst das Erscheinen der Polizei hielt „die Massen nicht von ihrem Tun“ ab

Aus dem Protokoll des Polizisten

Wie groß die Tätergruppe war, ist weiterhin unklar. Zwar hielten sich in der Silvesternacht mehr als 1.000 Menschen am Hauptbahnhof auf, wie viele davon Straftaten begingen, sei jedoch ungewiss. Es könne durchaus sein, dass es sich „nur um 10 bis 20 Täter handelt“, sagte die Sprecherin.

Konkret verdächtigt die Polizei derzeit 16 junge nordafrikanische Männer. Zwei davon sind bereits seit Sonntag in Untersuchungshaft. Sie sollen zusammen mit drei weiteren Männern am frühen Sonntagmorgen mehrere Frauen bedrängt und einen Reisenden bestohlen haben. In Zusammenhang mit den Vorfällen der Silvesternacht wollte die Sprecherin die Gruppe jedoch nicht bringen.

Das zuständige Ermittlungsteam wurde mittlerweile von 10 auf knapp 80 Beamte verstärkt. Auch in Hamburg wurde inzwischen eine Ermittlungsgruppe eingerichtet. Dort hatte es auf der Reeperbahn vergleichbare Vorfälle wie in Köln gegeben. In der Hansestadt wurden bislang 53 Strafanzeigen wegen sexueller Belästigung gestellt, in 14 Fällen zusammen mit Raub oder Diebstahl. Die Opfer seien zwischen 18 und 30 Jahre alt. Mit Blick auf die Kölner Vorfälle sagte ein Hamburger Polizeisprecher: „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass es da Verbindungen gibt.“ Auch in Berlin, Stuttgart, Düsseldorf und weiteren Städten gab es ähnliche Taten, allerdings nur vereinzelt.