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schlaglochExperten der Schuld

Deutschland versucht, aus seiner Geschichte zu lernen. Aber dabei wird es immer überheblicher. In anderen Ländern stößt das auf Unverständnis

Vor ein paar Tagen rief mich ein Freund an, ein indischer Autor, mit dem ich lange nicht gesprochen hatte. Was ist denn in Deutschland los, wollte er wissen. Kannst du es mir erklären? Er meinte, das wusste ich, das Schweigen, selbst wenn alle redeten.

Von hier aus wirkt es, sagte er, als sei das Land komplett abgekoppelt vom globalen Diskurs. Es scheint, dass die Deutschen keine Ahnung davon haben, was die Menschen in Indien etwa denken oder in den anderen Ländern, die sie immer so gerne als Globalen Süden bezeichnen.

All die Palästinenserfahnen, die Bilder der zerbombten Städte, die Toten. Glauben die Deutschen, glaubt die deutsche Regierung wirklich, dass sie nur wegschauen müsste, und dann ist es schon okay, dann gibt es die ganzen Opfer in Gaza nicht, dann ist das alles nicht geschehen? Wie lange, glaubst du, kann das so gehen?

Ich versuchte ihm zu erklären, wie ich es dieser Tage immer wieder versuche zu erklären: Wie sehr mich die Reaktion von manchen Leuten aus der Linken verstört hat, die nicht sehen konnten oder wollten, aus Antisemitismus oder anderen Gründen, was für eine Zäsur das Massaker der Hamas war. Nicht nur, aber besonders für Israel.

Ich versuchte ihm zu sagen, dass meine jüdischen Freunde Angst haben. In diesem Land, aber auch in Schweden, in Frankreich, überall; dass der Boden sich bewegt, unter ihren Füßen mehr, aber eben auch unter unser aller Füßen; dass hier etwas geschehen ist, das so viele Dinge in Bewegung gebracht hat, dass wir erst später werden sagen können, wir hätten es wissen können, wir wussten es doch.

Mein Freund hörte mir bis zum Schluss zu; er ist einer der Menschen, die einen fast nie unterbrechen. Als ich fertig war, sagte er mit seiner ruhigen Stimme, dass er das verstehe – doch wie könne das der Grund sein, dass dieses Land sich entscheidet, das Leid der Palästinenser nicht zu sehen, das von so vielen auf dieser Welt auch als ihr Leid gesehen werde? Siehst du nicht das Leid der Israelis, fragte ich ihn, siehst du nicht die Angst der Juden? Er war kurz still, dann sagte er, ja, dass er dieses Leid sehe und dass es sehr viel mehr Leid geben werde, für alle, wenn dieser Krieg weitergehe. Es sei eine Regierung von Fanatikern, das wissen alle, aber es muss doch Nationen geben, die nicht einfach wegschauen, sagte er. Wie kann diese Nation, Deutschland, einfach wegschauen?

Natürlich ist es eine Sackgasse, in die sich dieses Land hineinmanövriert hat, sagte ich, seit Jahren schon, seit das Reden über die Shoah immer staatstragender geworden ist, immer staatsräsonierender. Es waren Formeln, die immer schlichter wurden, so lange, bis aus den leeren Worten etwas anderes wurde. Aber was?

Ich habe das Land ganz anders in Erinnerung, sagte mein Freund. Ich habe es durch die Worte der Schriftsteller kennengelernt, durch Enzensberger und Grass und Böll und all die anderen. Vielleicht war es ein anderes Land, sagte ich, vielleicht existierte es, für sie, für dich; aber existierte es wirklich?

ist Chef­redakteur beim privaten Forschungs­kolleg „The New Institute“ in Hamburg. 2020 erschien von ihm zusammen mit Philip Grözinger das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“, ­Frohmann Verlag Berlin.

Dieses Land, sagte er darauf, gab es wirklich; es war sich seiner Schuld bewusst und seiner Verantwortung, aber es fasste diese Schuld nicht in Worte, die andere verletzten, es verband die eigene Verantwortung nicht damit, dass man besserwisserisch durch die Welt ging und anderen erklärte, was sie zu sagen und zu denken hätten.

Und heute ist das so, sagte ich, halb fragend, halb erinnernd. Die Jahre, die zurücklagen, diese besserwisserischen deutschen Jahre, seit 2008, 2010, sogar 2015, dann wieder 2022, eigentlich all die Jahre, fast all die Jahre des neuen Jahrhunderts: Die Deutschen haben allen gesagt, was richtig ist und was falsch, Schulden und Schuld, wir waren die Experten.

Das ist gar nicht das Problem, sagte mein Freund, jedenfalls nicht jenes, welches ich meine. Ich sehe, dass es gefährlich ist, wenn dieses Land so wenig von der Welt weiß, so wenig versteht, so wenig verstehen will, dass es sich abwendet, dass es nicht mehr hinhört, dass es taub wird für die Welt in ihren Widersprüchen und in ihrem Wehklagen.

Ist das so, mein Freund, siehst du es so? Ist es das, was sich in den Jahren ergeben hat, den Jahren der deutschen Provinzialisierung, als auf einmal alle Bescheid wussten, die sich nie interessierten, für das 19. Jahrhundert, für das 20. Jahrhundert, für die Verbindungen, für die Wurzeln? Als sie alle laut wurden und selbstsicher und nur noch Recht haben wollten?

Deutschland hat eine besondere Rolle, sagte mein Freund, natürlich. Aber das enthebt dieses Land doch nicht von den heutigen moralischen Fragen, von den heutigen Fragen nach Leid und Tod, nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, nach Frieden, der möglich ist, möglich sein muss, wenn Israel sicher sein soll.

Deutsche Juden, sagte ich, fühlen sich nicht mehr sicher; und deutsche Muslime fühlen sich diskriminiert. Es ist ein Signum unserer reaktionären Epoche, dass die Rassismen gegeneinander ausgespielt werden. Es ist die Zwickmühle von Kälte, Kalkül und Empathielosigkeit gerade bei denen, die besonders laut sind, in all dem Schweigen.

Dieses Land war sich seiner Schuld bewusst, aber es fasste diese Schuld nicht in Worte, die andere verletzten

Stimmt es eigentlich, sagte mein Freund zum Ende, dass viele Deutsche denken, dass Robert Habeck eine großartige Rede gehalten hat – und im Rest der Welt wird es ganz anders gesehen? Im Rest der Welt staunen sie, dass Habeck sieben Minuten braucht, um über Gaza und die Palästinenser zu sprechen, sieben Minuten?

Ich weiß nicht, sagte ich, etwas zögerlich. Aber ja, diese Rede brauchten viele Menschen, so scheint es. Viele Menschen brauchten diese Rede. Wofür brauchten sie diese Rede, fragte mein Freund. Manche brauchten sie, um sich sicherer zu fühlen. Aber wurden sie sicherer?

Als wir aufgelegt hatten, lauschte ich noch ein wenig. Auf das Geräusch dieser Tage, dieses dröhnende Schweigen hinter so vielen Worten.

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