Zwangsräumung in Neukölln: Die Häuser denen, die drin wohnen
Sebastian H. ist aus seiner Wohnung in der Hermannstraße in Neukölln zwangsgeräumt worden. Der Fall ist ein Paradebeispiel für den Berliner Mietenwahnsinn.
Nachbarn und andere Leute aus der Gegend sind gekommen, um ihm beizustehen. Die Berliner Gruppe Zwangsräumungen verhindern! hatte am Morgen über die sozialen Medien mobilisiert. Nachdem einer der Unterstützer den Gerichtsvollzieher fragt, wie es sich anfühle, gerade jemanden auf die Straße gesetzt zu haben, ist die Stimmung angespannt.
Die Wohnung befindet sich in einem Haus, das im Dezember 2023 von Alexander Scheinin gekauft wurde. Er ist einer der geschäftsführenden Gesellschafter der Immobilienfima Jaas, die für Luxusbauten bekannt ist. Die Hausverwaltung übernahm nach dem Verkauf die von Rüden GmbH. Sebastian H. arbeitet als Selbstständiger in der Filmbranche. Im Winter hatte er kaum Aufträge. Er konnte keine Miete zahlen.
Lange Wartezeiten beim Bürgergeld
„Ich hatte einen sehr depressiven Winter und habe im November Bürgergeld beantragt. Das war ein Spießrutenlauf und hat ein halbes Jahr gedauert“, sagt er zur taz. Daraufhin wurde ihm fristlos gekündigt. Das, so Sebastian H., sei die perfekte Situation für die Immobilienfirma gewesen, weil diese froh sei, wenn solche Schwachstellen entstehen. Dann könnten sie die Leute rauswerfen.
Die Räumungsklage sei ihm direkt zugestellt worden. Den Termin vor dem Amtsgericht habe er verpasst. Daraufhin sei die Chance, seine Situation vor der zuständigen Richterin darzulegen, vertan worden. Sowohl vor als auch nach der fristlosen Kündigung hatte Sebastian H. den Hausverwalter über seine finanzielle Situation und seinen psychischen Zustand informiert. Auch über den positiven Bescheid vom Jobcenter, der bestätigte, dass sein Antrag bearbeitet und er das nötige Geld bekommen wird.
Letztlich habe er resigniert. Ein bisschen Zeit konnte sich Sebastian H. durch eine Rechtshelferin verschaffen – unter anderem mit einem psychologischen Attest. Zwei Räumungstermine hatte er somit abwenden können, den am 9. September nicht mehr. Die Wohnung, aus der Sebastian H. geräumt wurde, hatte er nach seinem Einzug noch selbst saniert. Jetzt kommt er vorübergehend bei Freunden unter.
Kim Mayer, Sprecherin vom Mietwahnsinn-Bündnis, ist auch dabei, als Sebastian H. zwangsgeräumt wird. Sie verweist auf die Wohnung nebenan, die seit dem Verkauf des Wohnhauses, also seit knapp einem Jahr, leer steht. Die Räumung von Sebastian H. zeige, wer am längeren Hebel sitzt. Das sei der Grund, warum die Betroffenen einknicken. Gleichzeitig würden sich die Leute mit den steigenden Mieten und der Verdrängung abfinden.
Solidarische Unterstützung
Sebastian H. ist überwältigt von der Unterstützung, die er erfährt. Herzlich klopft er den sieben Personen im Hauseingang auf die Schulter und sagt: „ich könnte wirklich heulen über die Schuffis.“ Der Gerichtsvollzieher und drei Polizeibeamte wachen noch ein wenig an der Haustür. Eine Stunde nach der Zwangsräumung sind auch sie weg und eine zweite Wohnung im Wohnhaus Hermannstraße 123 steht nun leer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe