Zum Tag der Befreiung: Das Klammern an den Sieg

Mit dem Gedenken an den Tag der Befreiung 1945 kapert der Kreml die Erinnerung und instrumentalisiert sie 77 Jahre nach Kriegsende.

Russische MIG-29 fliegen in Formatiion über ein Monument in Moskau

Keine Luftnummer: Der Kreml hat die diesjährige Feier zum Tag der Befreiung noch pompöser angelegt Foto: Tatyana Makeyeva/reuters

Moskau taz | Moskau ist dieser Tage in ein tiefes Rot getaucht. Riesige Flaggen, die über zwei Etagen reichen, hängen an den Hochhäusern zentraler Straßen. An den Brücken flattern Banner im Wind, „Pobeda“ ist in Weiß auf Rot darauf gedruckt. Sieg. Es ist ein Wort und ein Wert, woran sich das Land, die Führung wie das Volk, klammern. Russland sei eine Siegesnation, brüllen die Propagandist*innen. Der Sieg sei heilig, sagt der Präsident Wladimir Putin seit Jahren. Sein Land werde immer nur Siege einfahren. So manche Kri­ti­ke­r*in­nen im Land wünschen sich in der Ukraine derweil eine russische Niederlage, um Russlands Kult des Sieges durch den Kult der Gewalt zu durchbrechen.

In der Stadt Moskau herrscht Nervosität. Gerüchte von einer Generalmobilmachung machen sich breit, auch Gerüchte, dass der Kreml womöglich ukrainische Kriegsgefangene über den Roten Platz werde treiben lassen. Das verstieße zwar gegen die Genfer Konventionen, präzedenzlos wäre allerdings auch dieser Gräuel nicht. Bereits 2014 hatten die von Moskau unterstützten „Separatistenführer“ im besetzten Donezk 50 ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Kommentator*innen, kremlloyale wie kremlkritische, fragen sich derweil, was ihr Präsident am kommenden Montag verkünden wird. Den Sieg? Doch welchen? Die Einnahme der durch die russische Armee völlig zerstörten Stadt Mariupol? Eine neue staatliche Ordnung im Donbass und in der Südukraine? Ultimaten an den Westen? Den Einsatz atomarer Waffen gar?

Längst geht es am 9. Mai nicht mehr um die Trauer um die 27 Millionen sowjetischen Gefallenen im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie die Rus­s*in­nen den Zweiten Weltkrieg bezeichnen. Es geht um Pomp und Triumph. Es geht um „Wir können es wiederholen“, die Losung, die Rotarmisten einst an die Säulen des Reichstags in Berlin geschrieben hatten und die durch den Krieg in der Ukraine, den Russland euphemistisch „militärische Spezialoperation“ nennt, keine leere Drohung mehr ist.

Der Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland, den das Land nicht am 8. Mai 1945 feiert, weil die bedingungslose Kapitulation in Berlin in der Nacht unterzeichnet wurde und in Moskau da bereits der 9. Mai angefangen hatte, er eint die Menschen in Russland – und darüber hinaus – auf eine besondere, ja eine schmerzhafte Weise. Jede Familie im Land hat ihre Vorfahren zu betrauern, als Gefallene, Kriegsversehrte, als angebliche Ver­rä­te­r*in­nen in den Gulag Gekommene. Dieser Sieg ist ein identitätsstiftendes Moment, in dem sich jeder findet, egal, welcher politischer Überzeugung er ist. Bis in die späte Sowjet­zeit hinein war der 9. Mai ein trauriger Tag. „Nie wieder“, sagten die Überlebenden zu ihren Nachfahren mit Tränen in den Augen. „Frieden“ war die Botschaft, von Kindesbeinen an. Nun singen die Kleinen in den Kindergärten quer durchs Land Kriegslieder und lassen sich in Z-Formationen aufstellen, um der Kriegslüsternheit des Staates in entwürdigender Weise zu huldigen. In diesem Jahr zelebriert Russland keinen Frieden, es zelebriert den Krieg, verkauft ihn allerdings prächtig leugnend als Frieden.

Es zählt die Inszenierung

Moskau hat die diesjährige Feier noch pompöser angelegt, auch wenn kein einziger ausländischer Staatsgast eingeladen wurde, weniger Menschen über den Roten Platz marschieren werden, weniger ­Militärtechnik über das Kopfsteinpflaster rollen wird und auch die regionalen Paraden bescheidener ausfallen. Es zählt die Inszenierung, es zählt das offizielle Narrativ vom stetigen Kampf der Rus­s*in­nen gegen fremde Mächte von außen, die ihr Land über Jahrhunderte ­hinweg zu knechten versucht hätten.

Der Kreml kapert und kontrolliert die Erinnerung, er macht mit dem vereinfachten, plakativen Wissen über den Zweiten Weltkrieg Politik. Putin hat Geschichte zur treibenden Kraft seines Handelns gemacht und legitimiert dieses damit. „1941–2022“ steht derzeit auf manchen Plakaten, so als befände sich Russland immer noch im Krieg, als hätte der Kampf gegen das absolute Böse, den Faschismus, nie aufgehört. Indem Moskau alle Ukrainer*innen, die die offizielle russische Politik in Frage stellen, zu „Nazis“ erklärt, missbraucht es das Gedenken an den Sieg 1945 als Rechtfertigung seines Krieges in der Ukraine und pflegt mit seiner neuen Swastika, dem Z, eine Ideologie der Zerstörung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.