Zukunft des urbanen Verkehrs: Die Stadt als Ort des Experiments
Autos, Räder, Roller: Lange schon wird über das Miteinander im Verkehr diskutiert. Das Ergebnis sind Verbote. Was fehlt, ist eine urbane Vision.
S tädte sind Orte der Zivilisation, der Freiheit, der Versöhnung. In Städten bildet sich ein Gefühl für Verantwortung heraus, für die anderen, das Gemeinsame – schon weil es notwendig ist, um auf engem Raum miteinander auszukommen; Städte sind aber auch Orte des Konflikts, der Gegensätze, der Zuspitzung von Entwicklungen und Bedrohungen, die an anderen Stellen der Gesellschaft nicht ganz so offen zutage treten. Berlin zum Beispiel.
Ich wohne nicht weit von dem Ort, an dem am vergangenen Freitag ein Porsche Macan mit hoher Geschwindigkeit auf den Bürgersteig raste und vier Menschen tötete, darunter ein Kleinkind. In den vergangenen Monaten sind damit in meiner nächsten Umgebung fünf Menschen von Autos getötet worden, und eine Fahrradfahrerin wurde, Minuten nachdem ich dort vorbeigefahren war, von einem Lastwagen schwer verletzt, an der Kreuzung, die meine Kinder Tag für Tag überqueren. Die Diskussionen begannen über Sinn und Unsinn von SUVs in der Stadt: Braucht es 300 PS oder mehr und wenn ja, wozu – vor allem, wenn man weiß, dass Unfälle mit SUVs doppelt so tödlich sind?
Plausible Fragen, könnte man meinen; aber plausibel oder gar vernünftig ist wenig in diesen Zeiten. Man solle diesen Unfall nicht instrumentalisieren, sagten die, die sonst jede Meinung interessant finden, vor allem, wenn sie von sehr weit rechts kommt – in ihrer Aufgeregtheit klangen sie wie Lobbyisten der amerikanischen Waffenorganisation NRA, die noch jeden Amoklauf dazu nutzen, um eine Diskussion über Waffenbesitz zu verhindern.
Aber vielleicht steckt etwas anderes hinter dieser allergischen Reaktion, vernünftige Fragen zu stellen. Viele, auch das hat sich nach dem Unfall gezeigt, sehen Autos tatsächlich als Waffen. Doch eigentlich geht es in dem Streit wohl um etwas Grundsätzliches: um eine soziale und ökonomische Gemengelage, in der Fragen von Differenz eine Rolle spielen, von Abgrenzung gegen Veränderung, gegen das Gemeinsame, ein Morgen. PS als politisches Statement. Benzinvernebelte Identitätspolitik.
Und weil wir in einem ideologischen Durcheinander leben, ist nicht immer ganz klar, wie sich das alles parteipolitisch darstellt. Die Gelbwesten in Frankreich waren ja nicht durchwegs rechts oder reaktionär, oft sogar im Gegenteil, sie waren im Widerstand gegen eine Politik der Ungleichheit, der Umverteilung von unten nach oben, der neoliberalen Ignoranz – trotzdem, der Zukunft zugewandt waren sie auch nicht, genauso wenig wie die norwegischen Wähler, die die Wahl diese Woche zu einer Abstimmung übers Autofahren gemacht und damit auch dort die politische Landschaft verändert haben.
BMW verkaufte so viele SUVs wie nie
Wenn er aber nicht klar politisch zuzuordnen ist – wofür steht dieser Konflikt dann? Woher kommt diese Wut von Autofahrern auf die Radfahrer, von Radfahrern auf Autofahrer, von Fußgängern auf alle – überhaupt von allen auf alle?
Was klar ist: Der Konflikt der Pendler ist vom Land in die Stadt gekommen – es zeigen sich hier die Bruchlinien zweier Zeiten. Auf der einen Seite das komplett entgleiste Öl- und Automobilzeitalter des 20. Jahrhunderts, vorangetrieben vor allem von den Reichen und Wohlhabenden, die viel fliegen und schwere Autos fahren; und auf der anderen Seite das Zeitalter der alternativen Energien, der Pedalkraft, der verantwortungsvollen Mobilität des 21. Jahrhunderts. Diese chronopolitische Konfliktlinie, die die Gesellschaft durchzieht, erklärt wohl auch die Angst und Aggression, mit der diese Diskussion gerade von denen geführt wird, die keine Veränderung wollen – oder das Gefühl haben, sich diese Veränderung nicht leisten zu können.
Andererseits: BMW verkaufte im vergangenen Monat so viele SUVs wie noch nie – der Verkauf von elektrischen Autos stockt dagegen. Das ist natürlich absurd. Ich habe keine Lust, auf das Ende der deutschen Automobilindustrie zu warten; ich habe aber auch keine Lust, ihnen dabei zuzusehen, wie sie die Städte und den Planeten kurz und klein fahren. Was also ist zu tun? Ich finde ja die Diskussion über Verbote nicht hilfreich. Erstens, weil es keine Verbote sind, sondern Regelungen, wie sie im Straßenverkehr oft genug vorkommen, oder wann sind Sie das letzte Mal betrunken gefahren, eine Gefahr für sich und andere? Und zweitens, weil es das Lösungsspektrum verengt; im Grunde ist Scham ja immer noch ein sehr starker menschlicher Antrieb, die Veränderung gesellschaftlicher Normen ist sehr wirkungsvoll und geht effektiver Gesetzgebung oft voraus. In Berlin zirkulieren schon Aufkleber gegen SUVs, auf denen steht: Zu Fett.
Das sind die Schlachten von gestern
Ich glaube, dass es gerade einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess gibt, die Panik der PS-Besitzstandswahrer würde das nahelegen. Aber das sind die Schlachten von gestern. Was heute in einer Stadt wie Berlin zu sehen ist, ist das Versagen einer Verwaltung, überhaupt das Richtige zu tun. Die Stadt als Ort der Zukunft zu sehen und gestalten.
Die Konfliktlinien sind also da; was fehlt, sind die Antworten. Was fehlt, ist eine Perspektive in Architektur und Städtebau, was fehlt, sind Pläne, wie man etwa Parkplätze für Urban Farming verwenden könnte. Was fehlt, ist eine urbane Vision, in der Autos einen untergeordneten Platz haben, weil es ganz andere Möglichkeiten gibt, die Stadt als gemeinsamen Ort zu sehen und zu behandeln. Die Diskussion über Verbote lenkt im Grunde nur von den eigentlichen Herausforderungen ab. Auch die Verwaltung hängt im fossilen Zeitalter fest. Das gilt in Berlin und darüber hinaus. Die Stadt als Ort des Experiments muss sich auf der Ebene des Verkehrs erst noch definieren.
Eigentlich wäre das eine ganz klare progressive Agenda. Ein Green New Deal für den Verkehr. Sucht die SPD nicht gerade nach einem Programm? Suchen nicht fast alle Parteien gerade nach Ideen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich