Zugunglück mit Chemikalien in den USA: Profite statt Sicherheit
Vor zweieinhalb Wochen ging im US-Bundesstaat Ohio ein Güterzug mit giftigen Chemikalien in Flammen auf. Nun mehrt sich die Kritik am Betreiber.
Am Abend des 3. Februar war hier ein 141 Waggons (und damit 2,72 Kilometer) langer Güterzug mit hochgiftigen Chemikalien entgleist und in Brand geraten. Niemand im Ort ahnte etwas von den Gefahrengütern, die an dem Abend durch East Palestine transportiert wurden. Drei Tage später wurde der Ort vorübergehend evakuiert und vermummte Katastrophenhelfer verbrannten den Rest des noch nicht ausgelaufenen Vinylchlorids aus mehreren entgleisten Tankwaggons. Offiziell ging es darum, einer Explosion der volatilen Chemikalie zuvorkommen. Die schwarze Rauchsäule bei der „kontrollierten“ Verbrennung stieg mehrere Hundert Fuß hoch in die Luft.
„Ich verstehe eure Sorgen“, sagt Michael Regan am Freitag. Der Chef der Umweltbehörde EPA ist zwei Wochen nach der Katastrophe als erster Regierungsvertreter nach East Palestine gereist. Er versichert, dass Tests in rund 400 Häusern zeigen, dass die Luft darin rein und ihre Bewohner sicher seien. Auch das Leitungswasser sei okay. Von Brunnenwasser allerdings, das viele in East Palestine trinken, rät Regan ab.
Der Betreiber des Giftzuges, die Norfolk Southern, geht der Konfrontation vor Ort aus dem Weg. Der Konzern, einer der größten im profitablen Eisenbahngeschäft der USA, verteilt Almosen an die Gemeinde (eine Million Dollar) und an die Hausbesitzer und Geschäftsleute (zusammen zwei Millionen Dollar). Aber der Bürgerversammlung in der Aula des Gymnasiums, wo Anwohner auf Antworten hofften, bleibt er fern. Die Begründung von Norfolk Southern: „Zu gefährlich. Es gibt Drohungen gegen unsere Mitarbeiter.“
„Weitgehende Abwesenheit von Kontrollen“
Die Ermittlungen über die Ursache der Entgleisung können Jahre dauern. Aber Insider des Geschehens auf dem 260.000 Kilometer langen Schienennetz der USA – dem größten der Welt – sind nicht überrascht. Sie betrachten East Palestine als angekündigte Katastrophe. Dazu eine, die sich jederzeit wiederholen kann.
Die Eisenbahnergruppe Railroad Workers United (RWU), warnt seit Langem vor der ungenügenden Sicherheit. Ron Kaminkow, Lokomotivführer und Organiser bei RWU, beschreibt die Ingredienzen des Problems so: „extrem profitable Konzerne mit der Macht von Monopolen“, „Kostensenkungswut“, „massiver Personalabbau“, „weitgehende Abwesenheit von Kontrollen“, und die „Weigerung, moderne Sicherheitsmechanismen einzubauen“. „Unsere Infrastruktur“, sagt Kaminkow, „ist eine Geisel der Wall Street.“
Nach dem Drängen von Eisenbahnern und Sicherheitsfachleuten setzte die Regierung von Barack Obama zumindest eine Regel für Züge durch, um die Sicherheit zu verbessern: Sie verlangte die Umrüstung von den Bremsen aus der Bürgerkriegsära auf moderne Elektronikbremsen. Sie können den Bremsweg der Züge um bis zu 60 Prozent verringern und Entgleisungen verhindern. Im Wahlkampf 2016 spendeten Eisenbahnkonzerne sechs Millionen Dollar an republikanische Kandidaten. Wenig später strich die Regierung von Donald Trump die Bremsregel. Nach mehr als zwei Jahren im Amt hat die Biden-Regierung daran nichts geändert.
Als Eisenbahnergewerkschaften Ende letzten Jahres mit einem Streik drohten, um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu bekommen, schaltete sich Präsident Biden persönlich ein, um einen Streik zu verhindern. Im Ergebnis gab es zwar Lohnerhöhungen. Aber die bezahlten Krankentage für Eisenbahner kamen nicht in den Tarifvertrag.
Mehr Gefahrengut – weniger Personal
Alljährlich entgleisen mehr als 1.000 Züge in den USA. Das sind zwar nur halb so viele wie in den 80er Jahren. Aber das Potenzial für Katastrophen ist dramatisch gestiegen. Denn die Güterzüge sind länger und schwerer geworden. Sie transportieren mehr Gefahrengut. Und sie haben weniger Personal (gegenwärtig noch zwei Personen pro Zug, aber die Konzerne plädieren für eine Person).
In den Wochen seit der Katastrophe von East Palestine sind bereits weitere Züge mit hochgiftigen Lasten entgleist. Darunter einer, der ebenfalls der Norfolk Southern gehört, im Westen von Detroit. Ein anderer, der dem Konzern CSC gehört, in Montgomery County in Texas. So weit bekannt, traten in den beiden Fällen keine Chemikalien aus.
Die pensionierte Lehrerin Paula Rogovin mochte das Pfeifen der Güterzuge, die durch ihren Wohnort Teaneck, in New Jersey fahren. Das änderte sich schlagartig im Juli 2013, als ein mit Rohöl aus den USA beladener Zug in der Kleinstadt Lac-Mégantic im kanadischen Québec entgleiste, in Flammen aufging und 47 Anwohner tötete.
Seither nennt Rogovin die Züge, die durch ihre Nachbarschaft fahren „Bombenzüge“. Sie gründete die „Coalition to Ban Unsafe Oil Trains“, die sich für das Verbot von Gefahrentransporten einsetzt. Sie hat erlebt, wie groß der politische Einfluss der Eisenbahnkonzerne ist.
Forderungen von Anwohnern nach Transparenz über Gefahrentransporte werden regelmäßig mit dem Hinweis abgelehnt, dass Terroristen Anschläge verüben könnten. Als die Gruppe darauf hinwies, dass eine Eisenbahnbrücke in Teaneck zur Sicherheit der Anwohner repariert werden müsse, verging mehr als ein Jahr, bis der Konzern CSX die überfälligen Arbeiten erledigte.
Die Katastrophe von East Palestine hat ins Bewusstsein gerückt, dass mindestens 25 Millionen Menschen in den USA in Eisenbahnkorridoren leben, durch die Tag und Nacht gefährliche und explosive Chemikalien transportiert werden. Mehrere Eisenbahnergewerkschaften sowie die Gruppe RWU wollen diesen Moment nutzen, um radikale Konsequenzen zu verlangen. „Die Betreiber haben bewiesen, dass sie unfähig sind“, schreiben sie in einem offenen Brief. Sie plädieren dafür, das Eisenbahnsystem der USA zu nationalisieren.
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