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Wohnungslose in BerlinDie Obdachlosigkeit abschaffen

Wenige Wochen vor der Wahl präsentiert Berlins Sozialsenatorin ihren Masterplan: Sie will Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 komplett beenden.

10 Prozent der neu zu vermietenden landeseigenen Wohnungen sollen für Obdachlose sein Foto: Christophe Gateau / dpa

BERLIN taz | In gleich zwei Veranstaltungen der letzten Tage ließ sich viel über die Obdachlosigkeit in Berlin erfahren: Zunächst sprachen Ex-Obdachlose, Angehörige und Hel­fe­r*in­nen in einem Stuhlkreis über das ganze Dilemma, das Berlin in eine bürgerliche und eine Schattenwelt teilt. Am vergangenen Freitag stellte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) dann passenderweise ihren „Masterplan zur Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“ vor. Ist das der Bämm-Moment, auf den alle warten, die es nicht ertragen wollen, dass Obdachlosigkeit zum Straßenbild Berlins gehört?

„Die anderen Menschen schauen dich an, als wärst du abstoßend und irgendwann glaubst du das selbst“, erzählt ein Mann beim Trialog der Betroffenen, Hel­fe­r*in­nen und Expert*innen. Er war selbst jahrelang wohnungslos. Inzwischen arbeitet er als Peer-to-Peer-Berater – das sind Ex-Obdachlose, die vermitteln zwischen den zwei Welten: „Das hat nicht nur mich gerettet“, sagt er.

„Das heftigste Gefühl in meiner Arbeit ist Machtlosigkeit“, erzählt eine Mitarbeiterin der medizinischen Hilfe. Gerade im Winter würden Menschen mit Pflegebedarf und psychiatrischen Erkrankungen bei ihnen „abgeladen“ – ohne Perspektive.

„Im ganzen System steckt Gewalt“, sagt die Mitarbeiterin einer Wohneinrichtung. Das Verlangen nach Krankheitseinsicht, nach Abstinenz, nach Mitwirkung: „Bevor du an deine Hilfe kommst, sind deine Ressourcen schon aufgebraucht“, berichtet auch einer, den die psychische Erkrankung aus der Bahn warf.

Obdachlosenhilfe der Zukunft

Housing First Versorgung obdachloser Menschen mit Wohnraum als oberstes Prinzip: ohne Bedingungen wie etwa Mitwirkung, Krankheitseinsicht, Therapiewillen, Abstinenz.

Safe Places Orte, von denen Menschen nicht vertrieben werden. Dort können Obdachlose leben und etwa dauerhaft Zugang zu Wasser haben.

Peer-to-Peer-Konzepte Zentral in der Obdachlosenhilfe ist der Aufbau von Vertrauen. Daher setzt man auch auf Menschen, die selbst von Obdachlosigkeit betroffen waren.

24-Stunden-Unterkünfte Normalerweise müssen die Obdachlosen die Unterkunft morgens wieder verlassen. Das Konzept soll ab Oktober für zwei Jahre angeboten werden.

Obdachlosenzählung Berlins erste Obdachlosenzählung 2020 erfasste 1.900 Menschen. Sie soll im Sommer 2022 wiederholt werden. (mah)

Masterplan mit vielen Maßnahmen

Ein Masterplan, der hier Abhilfe schaffen will, der nicht weniger verspricht, als Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden, weckt große Erwartungen. Die Sozialsenatorin schöpft bei der Vorstellung nicht aus dem Leeren, sie hat die Maßnahmen, die sie nun ausweiten und verstetigen will, in den vergangenen Jahren als Modellprojekte eingerichtet oder als Neuerungen eingeführt (siehe Kasten): Housing First und Safe Places, 24-Stunden-Unterkünfte statt nächtlicher Nothilfe, Peer-to-Peer-Beratung, die erste Obdachlosenzählung Berlins, das Konzept einer gesamtstädtischen Steuerung der Unterkünfte und der unübersichtlichen Hilfsangebote.

Breitenbach macht auch gleich klar: Teurer als bisher soll es mit ihrem Masterplan nicht werden. Es sei zwar bereits viel Geld im System, rechnet die Sozialsenatorin vor. Weit über 300 Millionen Euro gibt Berlin jährlich für die Notversorgung wohnungsloser Menschen aus. „Aber die Situation hat sich nicht nachhaltig verändert und deshalb müssen wir das Geld anders einsetzen“. Denn wenn ein Mensch erst wohnungslos ist, werde es fast immer teurer, sagt die Senatorin. Deshalb sollen in ganz Berlin Präventionsteams eingesetzt werden, die bislang nur in vier Bezirken unterwegs sind. Die Stadtteilzentren sollen stärker in die Prävention einbezogen werden. Es soll Vereinbarungen mit den Bezirken und dort mit den Ver­mie­te­r*in­nen geben, um ein einheitliches und schnelles (binnen 10 Tagen!) Vorgehen im Wohnungsnotfall zu gewährleisten.

Zentraler Paradigmenwechsel des Masterplans aber ist die Einführung von Housing First als Leitprinzip. Dafür braucht es allerdings sehr viel mehr Wohnungen als die knapp 80 im Modellprojekt. Breitenbachs Antwort: Eine feste Quote. Alle landeseigenen Wohnungsgesellschaften sollten 10 Prozent ihrer neu zu vermietenden Wohnungen dafür bereitstellen – insgesamt wären das bis zu 1.900 Wohnungen jährlich. Der Bestand der landeseigenen Berlinovo, die bislang vor allem Mikroappartements im höheren Preissegment an Studierende und Geschäftsleute vermietet, solle komplett der sozialen Wohnraumversorgung zukommen, fordert Breitenbach. Außerdem sollen die bestehenden Wohnungslosenunterkünfte, in denen Menschen teils Jahre ohne Perspektive und für viel Geld untergebracht werden, in Wohnungs- und Appartementstrukturen umgebaut werden. Der Masterplan sieht dafür ein Förderprogramm vor. Generell bei allen Angeboten soll die Gleichberechtigung der obdachlosen Menschen im Vordergrund stehen. Auch Breitenbach ist Verfechterin des Peer-to-Peer-Konzepts, will es breiter einsetzen.

Selbstbestimmt über das eigene Leben entscheiden

„Nur wenn die Menschen selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden können, ist das nachhaltig“, sagt die Senatorin und klingt damit tatsächlich wie die Appelle der ehemaligen Obdachlosen und Hel­fe­r*in­nen aus dem Stuhlkreis. Doch es bleiben große Fragen. Wie die nach den EU-Bürger*innen, die in Deutschland zum Teil keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Bleiben die in der Schattenwelt? Das betreffe nicht die Mehrzahl der obdachlosen Menschen, sagt Breitenbach ausweichend. Zahlen aus Wohnungslosenunterkünften, von der Obdachlosenzählung 2020 und frühere Aussagen der Senatorin selbst stellen dies infrage.

Ach, und dann gibt es noch den größten Haken, keine vier Wochen vor der Wahl: Ein derart umfassendes Konzept verlangt die Zusammenarbeit aller Regierungsabteilungen. Man traut einer Elke Breitenbach vielleicht sogar zu, das durchzuboxen. Aber dafür müssten sie und die Linke erst einmal in der Regierungsverantwortung bleiben.

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7 Kommentare

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  • Keinen Wohnsitz zu haben ist hierzulande wahrscheinlich das schlimmste was einem passieren kann. Es kostet viel Überwindung nach einem Trauma Hilfe zu verlangen. Dafür sollten wir als Gesellschaft einstehen.



    Unser System ist jedoch vor allem von einem getrieben und das ist Neid. Der Neid das andere Behausung umsonst bekommen. Deshalb würden von Deutschlands Neidpartei Regelungen eingeführt die eine Bleibe fast unmöglich machen oder extrem viel Kraft kosten um sich aus dem Loch zu befreien. (FYI: Die momentanen Umfragewerte bevorzugen die Neidpartei.)



    Um dem entgegen zu wirken muss Hilfe nicht nur in Form von bedingungsloser Behausung kommen sondern es muss eine Betreuung geben die immer bereit ist den Obdachlosen auf die Beine zu helfen. Weniger Peitsche mehr Zuckerbrot!



    Man sollte betrachten: Je schneller jemand von der Straße ins Leben kommt desto schneller zahlt er in die Kassen ein. Macht man es den Leuten schwer kann man sich nicht wirklich über die Obdachlosencamps beschweren. Eine solche soziale Sicherheit muss jedem der sich in dieser Lage befindet zustehen.



    Was die Finanzierung angeht sollte man betrachten denen die es benötigen (sollte nicht nur für Obdachlose gelten) ihre Bleibe finanziell zu unterstützen. Je nachdem wie viel fehlt. Entgegen den "Mondpreisen". Es hilft auch wenn man das Tempelhofer Feld mit Wohnungen bebauen lässt. Dann wächst das Angebot und man muss den Markt nicht in eine Planwirtschaft umwandeln. Der Schlüssel liegt hier in der Reduktion der Bürokratie und der schnellen Bewilligung von Mitteln. Würden wir nicht datentechnisch in der Urzeit leben könnte das auch zeitnahe umgesetzt werden.



    Langfristig sollten aber auch die Löhne und Sozialleistungen in Berlin sich an den Lebenshaltungskosten anpassen. Dann muss keiner auf dem letzten Loch pfeifen. Geht aber nur ohne Neidpartei.

  • Die Informationen zum “Masterplan“ lesen sich so toll, dass sich jeder fragen muss, warum nicht schon früher mal jemand auf die darin genannten Ideen gekommen ist. Insbesondere die Linkspartei, deren Mitglied Frau Breitenbach ist, hätte spätestens seit 2016 hierzu Gelegenheit gehabt und nicht erst in der nächsten Wahlperiode!

  • Ich arbeite in der mobilen Pflege und bin seit einiger Zeit mit dem Housing First Konzept konfrontiert. In der Theorie ist der Wunsch nach Selbstbestimmung sicherlich eine tolle Sache aber diejenigen die dann täglich mit diesen Menschen arbeiten müssen, sei es im medizinischen oder hauswirtschaftlichen Bereich die haben ihre liebe Mühe mit diesen Menschen. Nicht jeder ist in der Lege selbstständig und selbstbestimmt zu Leben das ist eine traurige Erkenntnis. Bevor man Menschen in Wohnungen unterbringt sollten sie für einige Zeit in betreuten Wohnkonzepten unterkommen wo sie das nötige Rüstzeug erhalten um dann selbstständig zu leben.

  • Hoffen wir das es klappt. Vielleicht ist ja Deutsche Wohnen und Co. bereit 2,3 Wohnungen abzugeben, zumindest für 75% des Marktpreises...oder so?

  • 0G
    02854 (Profil gelöscht)

    300 Millionen? Wahnsinn! Das sind bei 15 Euro Miete der Quadratmeter ca. 20 Millionen Quadratmeter Wohnfläche oder mal eben 30.000 Wohnungen mit 60 qm.

    Es wäre schon mal interessant zu Wissen wo das Geld genua hinfließt!

    • @02854 (Profil gelöscht):

      Der eigentliche Skandal ist heute die Abzocke durch die Vermieter der Unterkünfte. Sie erzielen Mondpreis-Mieten für absolut minderwertige Immobilien und die Behörden haben sich diesem "Markt" vollkommen ausgeliefert. Das wurde nur noch getoppt mit Mieten für Behelfsunterkünften auf dem Höhepunkt der Ankünfte 2015/2016. Die Notsituation der Flüchtlinge wurde auf Kosten der Steuerzahler von den Vermietern maximal ausgenutzt. Sie konnten praktisch jeden Preis aufrufen.

    • @02854 (Profil gelöscht):

      irgentwie müssen ja die ganzen Verwaltungsangestellten bezahlt werden….