Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis: „Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Bettina Westle beobachtet ein unterschiedliches Demokratieverständnis in Ost- und Westdeutschland. AfD-Wähler:innen seien mit der Demokratie unzufrieden.
taz: Frau Westle, von welchen ungleichen Geschwistern handelt Ihr Vortrag?
Bettina Westle: Westdeutschen und Ostdeutschen. Ich untersuche, ob es noch Unterschiede zwischen den beiden bei grundlegenden politischen Orientierungen gibt oder nicht. Es geht um den Vergleich Ostdeutschland und Westdeutschland.
taz: Welche politischen Unterschiede gibt es denn?
Westle: Viele – das unterschiedliche Wahlverhalten ist offensichtlich, da gibt es jede Menge Berichterstattung zu. Ich beschäftige mich eher mit grundlegenden Orientierungen im Bezug auf das politische System. Wie sind die Einstellungen zu der Idee und der Realität der Demokratie und wie sieht es mit der Einstellung zu möglichen Alternativen aus. Dann geht es auch um das Demokratieverständnis selbst und als Letztes beschäftige ich mich mit der Frage Sozialisation oder Situation als Ursachen für die Unterschiede.
taz: Welche Rolle spielen die innerdeutschen Migrant:innen dabei?
Jahrgang 1956, Politikwissenschaftlerin, forscht seit vier Jahrzehnten zu kollektiver Identität in Deutschland, war bis zum Ruhestand Professorin an der Uni Marburg.
Westle: Man kann die Menschen immer noch klar einem bestimmten Landesteil zuordnen, auch wenn die Unterschiede nicht mehr so groß sind. Menschen, die schon vor vielen Jahren nach Westdeutschland migriert sind, sind trotzdem häufig noch näher an der ostdeutschen als an der westdeutschen Orientierung dran. Man kann zum Beispiel sehen, dass Ostdeutsche in der Regel unzufriedenerer sind mit der Realität der Demokratie als Westdeutsche. Die ostdeutschen Migranten im Westen liegen meist dazwischen, befinden sich jedoch näher am Meinungsdurchschnitt in Ostdeutschland.
taz: Wie prägend ist das Ost-West Thema für die jüngere Generation?
Westle: Für die jüngste Generation ist es weniger prägend als für die vorherigen. Es ist aber immer noch da. Ich habe in meiner Studie auch eine Generationenanalyse gemacht und da hat sich gezeigt, dass in der jüngsten Genration der Unterschied zwischen Ost und West kleiner war als vorher. Die Sozialisation im Osten ist jetzt staatlicherseits nicht mehr, aber privat weiterhin anders geprägt als im Westen. Über diese Schiene geht das Verständnis dann auf die jüngere Generation über. Interessant war aber auch, dass die vorherigen Generationen in Ostdeutschland sich untereinander nicht unterscheiden, was die politische Orientierung angeht. Im Westen hat sich das mit jeder Generation verändert, leider so, dass die jüngeren Generationen weniger intensiv für die Demokratie eintreten als die älteren.
taz: Wie können der Osten und der Westen sich annähern?
Westle: Die Frage ist erst mal, ob sie das müssen. Die Unterschiede sind so gravierend nicht, dass sie sich notwendigerweise angleichen müssten. Das einzige, was bedrohlich sein kann, ist die Stärke der AfD in den Ostbundesländern. Die AfD-Wähler:innen sind sowohl mit der Regierung als auch der Opposition unzufrieden, eigentlich mit allem. Der nächste Schritt wäre dann, dass die Demokratie sich selbst abschafft, das ist die Gefahr.
„Ungleiche Geschwister? Politische Sichtweisen und Verhalten von Ost- und Westdeutschen“, Regionshaus, Hildesheimer Str. 18, Hannover, 12. 12., 19 Uhr
taz: Wieso ist dieses Phänomen im Osten so viel stärker verbreitet als im Westen?
Westle: Das liegt, denke ich, auch an falschen Erwartungen an die schnelle Verbesserung der Ökonomie, zum Beispiel, aber auch an die Demokratie, etwa die Vorstellung, dass die den Willen eines Einzelnen durchsetzt. Das ist natürlich nicht so: Dafür fehlt aber das Verständnis.
taz: Ging die Wiedervereinigung also zu schnell?
Westle: Was die Orientierung der Menschen betrifft, ja. Es gab auch Notwendigkeiten, dieses Zeitfenster schnell zu nutzen für die Wiedervereinigung, aber wahrscheinlich hätten Ostdeutsche noch stärker in die Gestaltung miteinbezogen werden sollen.
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